Am 24. Februar 2022 endete mit dem russischen Angriff auf die Ukraine jene Epoche, die spätestens 1991 mit dem Ende der Sowjetunion begonnen hatte. Im März 2022 brachten wir auf tell eine Reihe mit sehr persönlichen Artikeln, in denen wir einen knappen Monat nach Kriegsbeginn den ersten Schock verarbeiteten:

Nun ziehen wir nach dem ersten Kriegsjahr Bilanz, und wieder tun wir es ganz subjektiv.


Widersprüche

Tomas Bächli

Ganz einfach: Solange es Waffen auf dieser Welt gibt, soll man sie alle der Ukraine für ihre Verteidigung zur Verfügung stellen, niemand benötigt sie dringender.

Es bleibt ein Widerspruch: Ich selbst kann mir nicht vorstellen, diese Waffen zu tragen, noch weniger kann ich mir vorstellen, dass das meine Kinder tun.

Das sind die Widersprüche der Glücklichen auf dem westeuropäischen Sofa.

Auf die Frage, ob ich mich im Kriegsfall einem Verteidigungskampf anschließen würde oder ob ich alles dransetzen würde, mich zu entziehen, kann ich von diesem Sofa aus ohnehin keine ehrliche Antwort geben.


Privilegien

Sieglinde Geisel

Jeden Abend gehe ich mit dem Bewusstsein des Kriegs ins Bett, und jeden Morgen wache ich mit diesem Bewusstsein wieder auf. Und doch: Trotz aller Nachrichten, die mich auf Twitter aus nächster Nähe des Kriegs erreichen, kann ich mir nicht vorstellen, was es heißt, im Krieg zu sein.

Zugleich gibt es für mich ein Leben vor dem 24. Februar und eins danach. Seit einem Jahr fühle ich mich privilegiert, wenn ich abends in mein warmes Bett steige, ohne Angst vor Bomben, ohne Angst um Menschen an der Front.

Beim Gedanken, meine Söhne (19, 23) müssten an die Front, wird mir schlecht.


Hilflosigkeit

Herwig Finkeldey

Ich kann, rein persönlich, nichts wirklich Neues über den Krieg schreiben. Meinem Text von vor einem Jahr habe ich weder etwas hinzuzufügen noch etwas wegzunehmen.

Interessant scheinen mir die offenen Briefe und Erklärungen zu sein, von denen wir im Laufe des Jahres hören und lesen mussten. Sie sind bestenfalls Ausdruck der Hilflosigkeit, und in einem solchen Fall sind sie auch mir nahe. Denn hilflos gefangen im Netz des Krieges sind wir alle.

Ich fürchte aber, dass einige Unterschriften auch aus dem Geist der angemaßten Überlegenheit kommen. Eines frappiert mich dabei besonders: Diese meist linken Stimmen wurden doch sonst nie müde, vor einem drohenden neuen Faschismus im Westen zu warnen. Dass der neue Faschismus einer ist, der sich als Gegner des Westens definiert, erwischt viele auf dem falschen Fuß, lässt viele stolpern. Und manche sind noch inmitten der Fallbewegung.


Zuhören

Anselm Bühling

„Es ist Zeit, uns zuzuhören!“ verkünden Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht in ihrem Manifest für den Frieden ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine.

Statt lautstark Aufmerksamkeit für uns selbst zu fordern, sollten wir besser den Angegriffenen zuhören. Und uns dann gut überlegen, wie wir ihnen antworten.

Achten wir darauf, wer das versucht – und wer sich dagegen vorstellt, man könnte über die Köpfe der Betroffenen hinweg zu einem Arrangement gelangen.


Machtpolitik

Hartmut Finkeldey

Ich bin so rat- und fassungslos wie vor einem Jahr. Ich erinnere mich gut, wie ich auf die Nachricht reagierte: Oh Gott, der tut das ja wirklich! Und wie ich wochenlang, wenn der Fernseher an war, auf die Breaking News: „+++Putsch in Moskau+++Putsch in Moskau+++“ wartete. Es musste doch auch in Moskau noch Restvernunft geben! Denn dass Putin in the very long run vor allem auch seinem eigenen Land schadet, ist allen Denkfähigen klar.

Wo und wie soll das enden? Über die, gelinde gesagt, haltlose Naivität von Wagenknecht und Schwarzer müssen wir nicht reden, aber mich verstören auch die ganz Nassforschen. Neulich las ich auf Facebook, man müsse „Putin aus der Krim rausprügeln“. Dieses Maulheldentum! Wie viele toten Ukrainer dürfen‘s denn sein? 100 000? 200 000?

Mit gefallen Marc Saxers Analysen zum Krieg. Der politische Analyst, der das Asia-Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bangkok leitet, ist in seiner Haltungeindeutig. Er benennt den Aggressor klar und befürwortet Waffen, aber ohne Maximalmoral: „Russland ist ein Aggressor, den es zu bekämpfen und auf Dauer einzuhegen gilt. Die Frage ist, wie man dabei am wenigsten schlecht vorgeht, denn wirklich gute Optionen gibt es keine“, so in einem Facebook-Kommentar. Und ja, das kann auch faule Kompromisse enthalten. Nennt sich Machtpolitik, nennt sich Realpolitik, und die ist moralisch nie schön anzuschauen.

Die Ukraine würde dabei wohl eher nicht gefragt werden.


Zweifel

Agnese Franceschini

Um mit der Wahrheit zu beginnen: Dies ist nicht der erste Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. In den neunziger Jahren gab es einen verheerenden Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Aber wir haben ihn vergessen, vielleicht um Putins Aggression gegen die Ukraine in den Vordergrund zu rücken.

Diese „Verdrängung“ verrät viel über eine Waffe, die nicht direkt tödlich ist, aber viele Tote verursachen kann: die Propaganda. Auf der einen Seite Putins Propaganda, die den Zweiten Weltkrieg braucht, um die Ukrainer als Nazi-Kollaborateure abzustempeln und ihnen das Recht auf eine eigene Nation abzusprechen. Auf der anderen Seite die westliche Propaganda, die den Zweiten Weltkrieg braucht, um die Gefährlichkeit eines Diktators hervorzuheben, als ob uns allein die Analogie zu Hitler bewusst machen würde, wie gefährlich ein skrupelloser Diktator wie Putin ist.

Wir haben auf diese Weise ein bestimmtes Bild des Kriegs geschaffen, und ich frage mich, was dieses Bild des Kriegs mit uns gemacht hat. Es hat uns die Überzeugung eingeprägt, dass man mit Diktatoren nicht reden kann und darf. Und da niemand die Wahrheit dieses Satzes in Frage stellt, sind wir zum Krieg verpflichtet.

In seinem vieldiskutierten Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung versucht Jürgen Habermas, dieser Logik zu entkommen. Für ihn ist klar: „Die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren!“ Aber seiner Meinung nach ist es auch „fatal […], dass der Unterschied zwischen ‚nicht verlieren‘ und ‚gewinnen‘ begrifflich nicht geklärt ist“. Der Titel des Artikels “Ein Plädoyer für Verhandlungen” ist Programm.

Interessanterweise ist auch US-Generalstabschef Mark Milley davon überzeugt, dass es in diesem Krieg keinen Sieger geben kann. Einerseits sei es für Russland „praktisch unmöglich“, seine militärischen Ziele zu erreichen. Andererseits sei die Ukraine nicht in der Lage, „die Russen einfach rauszuwerfen“, so Milley in der Financial Times. Deshalb plädiert der US-General nachdrücklich für Verhandlungen. Doch derzeit werden Verhandlungen von allen Beteiligten abgelehnt.

Das ist es, was dieser Krieg aus uns gemacht hat: Er hat uns in eine Situation gebracht, aus der es keinen Ausweg gibt. Wir sind gezwungen, daran zu glauben, dass dieser Krieg die einzige Möglichkeit ist, die Freiheit und die Demokratie in Europa zu verteidigen; wir müssen den Krieg füttern (mit Waffen und Munition), und der Krieg muss weitergeführt werden. Gleichzeitig wissen wir, dass dies keine Lösung sein kann. Die Ukraine kann nicht verlieren, aber sie kann möglicherweise gegen die Weltmacht Russland auch nicht gewinnen, zumindest nicht auf dem Schlachtfeld.

Das ist es, was dieses Kriegsjahr aus mir gemacht hat: Zweifel begleiten mich jeden Tag, ich kenne nur Fragen, aber keine Antworten. Jetzt kenne ich die Angst vor dem Irreversiblen und die Wut über die eigene Ohnmacht. Wenn wir uns in einer ausweglosen Situation befinden, bedeutet das, dass wir den falschen Weg eingeschlagen haben.

Dieser Krieg gibt mir das Gefühl, im falschen Leben zu leben.

Bildnachweis:
Beitragsbild: mammuth
via iStock

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Von Redaktion

Ein Kommentar

  1. Matthias Platzeck hat am 25.02.22 der Chefredaktion der Sächsischen Zeitung ein Interview gegeben, das man nachhören kann. Mich hat Platzecks Reaktion befreit von mehreren Sorten von Druck. Zum Beispiel der Druck, eigene Klugheit zu zeigen. Wie soll ich das? Da mit Platzeck jemand, der mehr Ahnung hat als ich, seine Ahnungslosigkeit bekennt, bin ich dann gern unklug. Der zweite Druck ist etwa, dass ich denke, wie kann ich klagen, bedauern, wenn in Ukraine durch die Invasion Menschen sterben und mein Leben hier kaum an Gemütlichkeit verliert. Da mit Platzeck jemand davon spricht, dass er sich entgleist fühlt, erkenne ich mich und halte meine Gefühle für weniger deplatziert.

    Platzeck schildert seinen Schock udn spricht unter Schock. Er fragt, wie heute Vereinbarungen mit einer Regierung getroffen werden sollen, die vor der unprovozierten und illegalen Invasion die deutsche und französische Regierung angelogen hat. Er passt, als er nach Vorhersagen und Szenarien gefragt wird. Und er stellt seine Bewertung seiner eigenen Lage mehrfach dar. Er arbeitete für einen Verein, der Jugendaustausch zwischen Russland und Deutschland bot. Platzeck sagt, dass die Gewalt der Raketen und Panzer die vorher gesprochenen Worte und auch die aktuell gesprochenen Worte wertlos machen. Er sagt dann noch, wenn, ja wenn Raketen und Panzer einmal zum Stillstand gebracht werden, ja dann kann man überlegen, wieviele Jahre und Jahrzehnte es dauert, bis es zu einem Vertrauen, das verloren wurde, wieder kommt.

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