Als es 1975 galt, den 100. Geburtstag Thomas Manns gebührend zu feiern, kam die Mehrheit der Reaktionen des Literaturbetriebs „einer Generaloffensive gleich“ (Marcel Reich-Ranicki). An der Spitze dieser Offensive stand unter anderem der junge Hanjo Kesting, damals Redaktionsleiter des NDR. Er hatte zehn recht despektierliche „Thesen über einen Klassiker“ verfasst und ließ über diese Thesen in einer Radiodiskussion debattieren. Teilnehmer waren, neben ihm selbst, Martin Walser, Walter Boehlich und Peter Wapnewski, der als einziger Thomas Mann verteidigte und damit auf verlorenem Posten stand.

Damit nicht genug. Diese Diskussion hörte der Spiegel-Redakteur Hellmuth Karasek, und das führte dazu, dass die Thesen prominent im Spiegel abgedruckt wurden, worauf sich eine Flut von Leserbriefen über das Wochenmagazin ergoss.

Thomas Mann als Übervater

Fast ein halbes Jahrhundert später hat Hanjo Kesting ein Buch über Thomas Mann verfasst, eine Sammlung von Essays mit dem Titel Glanz und Qual, ein Buch für Kenner ebenso wie für Anfänger Heute ist Kesting selbst „einer der größten Verehrer“ von Mann (Kesting über Kesting). Seinen damaligen Exkurs nennt er rückblickend einen „ödipalen Reflex“, den er als „ziemlich unausgegoren“ apostrophiert. Ödipus? Vatermord? Das sind große Worte. Was war es, das Kesting Thomas Mann als eine Art Übervater erkennen ließ? Darüber gibt Kesting in seinem wunderbaren Buch Auskunft.

Der Band ist dreigeteilt und beginnt, unter dem Titel „Werkfahrten“, mit luziden Analysen der Hauptwerke Thomas Manns. Was auffällt, ist allerdings die Aussparung von Doktor Faustus, Thomas Manns „Lebensbeichte“. Man kennt Kestings Kennerschaft aus seinen Vorträgen über die Werke, und in diesem ersten Teil stimmt alles.

Im zweiten Teil „Querfahrten“ untersucht Kesting einerseits besondere Aspekte in Thomas Manns Werk, andererseits die Beziehung zwischen Leben und Werk. Kesting gehört, wie die Mehrheit der Mann-Forscher und -Leser, zu denjenigen, die Manns Leben aus dem Werk und sein Werk aus dem Leben erklären. Vor allem das Kapitel „Thomas Mann und die Musik“ sticht hier hervor. Der Musikkenner Kesting ist sich sicher, was die Bedeutung von Richard Wagner angeht:

Wagners Musik überlagerte für Thomas Mann alle andere Musik. Nur wenig konnte sich daneben eigenständig behaupten […].

Eine Frage der ethischen Stimmung

Auch die berühmte Rede aus dem Jahr 1945 „Deutschland und die Deutschen“, in der Mann die deutsche Musik der Romantik in Beziehung setzt zum deutschen Jahrhundertverbrechen, wird von Kesting kenntnisreich reflektiert. Thomas Mann, der gerade an Doktor Faustus schrieb, nannte die Musik zwischenzeitlich ein „Teufelswerk“. Diese Rede hörten natürlich auch emigrierte Musiker und waren entsprechend enttäuscht. Ihre Musik soll dem deutschen Irrsinn musikalisch den Boden bereitet haben?

Thomas Mann erinnert die Wirkung seiner Rede später genau: „Noch weiß ich wie ich den betrübten Adolf Busch spät in der Nacht vom Hotel aus anrief, um ihm zu versichern, daß die Bedenklichkeiten, die ich gegen die deutscheste der Künste vorgebracht, nur eine Form der Huldigung sei.“

Hanjo Kesting schreibt:

Wie er die Musik letztlich sah – ob als „dämonisches Gebiet“, wie im Frühwerk, als „heiligen Grundtypus der Kunst“, wie in den Betrachtungen eines Unpolitischen, oder als Teufelswerk, wie im Doktor Faustus, das war zuletzt nur eine Frage der „ethischen Stimmung“. Sie war in seiner Lebenszeit vielen Schwankungen unterworfen, erst recht in den Jahren der NS-Herrschaft.

Im Weiteren sticht ein wunderbares Kapitel über Thomas Manns Leben im Hotel heraus. Dessen „fürstlicher Hang zu Repräsentation“ zeigt sich auch in seiner Vorliebe für gehobene Hotels. Seine Notizen über Güte und Mängel der Beherbergungsbranche dürften ein schmales Bändchen füllen, dessen ist sich Hanjo Kesting sicher. Entsprechend unzufrieden war Mann, wenn eine Unterkunft dem nicht entsprach, so notiert er über eine Pension in einem französischen Badeort: „[…] ich finde in diesem Kulturgebiet alles schäbig, wackelig, unkomfortabel und unter meinem Lebensniveau.“ Ein „Grand Hotel“ in Venedig nennt Thomas Mann – Kesting zitiert es mit Freude – gar einen „Schwindel, eine anspruchsvolle Spelunke“.

Das problematische Verhältnis zum „Jüdischen“

Das große Thema ‚Thomas Mann und die Juden‘ (oder „das Jüdische“, eine Wendung, die Hanjo Kesting zu Recht in Anführungszeichen schreibt) erhält dagegen kein eigenes Kapitel. Dafür ist es allgegenwärtig. Immer wieder wurde Mann Antisemitismus vorgeworfen. Dagegen half weder, dass er in eine jüdische Familie eingeheiratet hatte noch die Tatsache, dass die Nationalsozialisten ihn „einen großen Freund der Juden“ nannten, wie Kesting anführt.

Kesting belegt das problematische Verhältnis Thomas Manns zu den Juden mit Dutzenden von Beispielen aus Werk und Tagebüchern, etwa seinen Ausführungen über Alfred Kerr und Theodor Lessing. Kurz nach dem Judenboykott schreibt Mann im Tagebuch im April 1933: „Daß die übermütige und vergiftende Nietzsche-Vermauschelung Kerrs ausgeschlossen ist, ist am Ende kein Unglück; auch die Entjudung der Justiz am Ende nicht.“ Über den Philosophen und Schriftsteller Theodor Lessing schrieb Mann nach dessen Ermordung am 31. August in Marienbad: „Mir graust vor einem solchen Ende, nicht weil es das Ende, sondern weil es so elend ist und einem Lessing anstehen mag, aber nicht mir.“ Man muss dazu allerdings wissen, dass Kerr und Lessing beide Verehrer Katia Pringsheims gewesen waren, also Konkurrenten auch im persönlichen Bereich.

Man kann in Thomas Manns Werk ebenso viele Zitate finden, die seine Judenfeindschaft be- wie eben auch widerlegen, daher ist es schade, dass Kesting diese Ambivalenz nicht weiter ausführt. Auch hier war es eine Frage der „ethischen Stimmung“, wie Thomas Mann Juden und „dem Jüdischen“ entgegentrat. So schreibt Mann in seinem Tagebuch über den windigen Herrenreiter Franz von Papen nach dessen „Marburger Rede“ vom 21.06.1934: „Die Zeitungen reden von der Oppositionsrede Papens. Dieser agile, kleine Reaktionär hat sich zwar allerlei erlaubt. Von den Juden aber und den elenden Rache-Prozessen und von den fortwährenden Kommunisten-Hinrichtungen hat er kein Wort gesagt.“ Mann beklagt hier u.a. von Papens Schweigen über die Drangsalierung der Juden im damaligen Reich. Es gibt etliche Passagen in Manns Tagebüchern mit ähnlichem Tenor, etwa wenn er die Erfahrungen der Nürnberger Buchhändlerin Ida Herz kommentiert, einer Thomas Mann-Verehrerin, die mit ihm im Kontakt stand. Albert Einsteins Bemerkung über Hindenburg („alter Halunke!“) kommentiert Thomas Mann folgendermaßen: „Die Juden haben eben mehr Wahrheitssinn, ihr Gehirn ist unverkleistert vom Mythus.“

Thomas Manns „Stahlgewitter“

Auch Thomas Manns politische Haltung war ambivalent. Kestings Hinweis auf das Reaktionäre in den Betrachtungen eines Unpolitischen ist stichhaltig.

Die Betrachtungen eines Unpolitischen waren eine einzige, trotzige Apologie des Kaiserreiches und seiner Atmosphäre „machtgeschützter Innerlichkeit“.

Das Buch, das Ende 1918 erschienen war, sei, „um eine gefährliche Formel zu verwenden“, Thomas Manns „Stahlgewitter“, so Kesting. Wirklich gewandelt habe Thomas Mann sich auch später nicht, davon ist Kesting überzeugt. Im Vorwort zu seiner Rede „Von deutscher Republik“ im Jahr 1922 schrieb Mann den Satz: „Ich habe vielleicht meine Gedanken geändert, – nicht meinen Sinn.“ Das kommentiert Hanjo Kesting zunächst ebenso schlüssig:

Das alte Denkmodell wurde beibehalten, nur die Begriffe wurden neu definiert und umgewertet.

Das Erliegen des freien Geistes

Man könnte somit in der Tat annehmen, dass Thomas Mann sich 1922 und auch später nicht grundlegend gewandelt hat. Doch dann findet man in den Tagebüchern wieder Einträge, die „das alte Denkmodell“ in Frage stellen, die auch die politische Anschauung als ambivalent erkennen lassen. Im Angesicht einer Wagner-Lektüre schreibt Thomas Mann: „Sonnabend, den 27. VI. 36. Abends Lesung […] ‚Die Briefe R. Wagners an Judith Gautier‘. Außerordentlich gefesselt. W‘s Briefe an die Mendes zur Zeit des Krieges – katastrophal. Welch ein Verderb für die Kultur und den Geist sind die Kriege! Das hilflose Erliegen des freien Geistes vor den ‚Taten‘ der Staatsmänner ist erbärmlich zu sehen. Übrigens habe ich 1914 dieselbe Depravierung durchgemacht.“

Hätte er diese Sätze öffentlich gesagt, sie wären sicherlich berühmt bis heute. Möglicherweise war Thomas Mann auch schon in den Zeiten des Kaiserreichs, also vor und während der Niederschrift der Betrachtungen, politisch ambivalenter, als es uns scheint. Leider fehlen hier viele Zeugnisse, vor allem die Tagebücher,

Von der Peinlichkeit des Lebens

Die letzte und wichtigste, die innerliche Ambivalenz Thomas Manns, seine der Welt verschwiegene, nur im Werk kompensatorisch „verarbeitete“ Homoerotik, wird von Kesting im dritten Teil „Lebensfahrten“ beleuchtet. Hier stehen die Tagebücher im Zentrum. Kesting weist auf die Tatsache hin, dass es die Veröffentlichung der Tagebücher ab 1977 war, die die öffentliche Wahrnehmung Thomas Manns veränderte: Die „Generaloffensive“, an der Kesting im Jahr 1975 selbst beteiligt war, mündete in eine geradezu sektenartige Verehrung. Hanjo Kesting zitiert Reich-Ranicki, der nach der Veröffentlichung von Manns Tagebüchern schrieb: „Haben seine Notizen – wie man schon hören konnte – tatsächlich die Wirkung einer Droge?“ Laut Reich-Ranicki erreichten die Tagebücher, was dem Werk verwehrt war: „Sie machen aus Bewunderern Angehörige einer Gemeinde.“

Einiges spricht dafür, dass auch Kesting erst durch die Tagebücher zum „Verehrer“ wurde. In den Tagebüchern kondensiert sich Thomas Manns Problematik noch einmal, hier zeigt sich, dass sein gesamtes Wesen getragen ist von der Ambivalenz des Daseins. Hanjo Kestings titelgebendes Leitmotiv geht auf ein Zitat aus den Tagebüchern zurück: „War nicht das ganze Leben peinlich. Es gab wohl selten ein solches Ineinander von Qual und Glanz.“ Dem äußeren Glanz entsprach die innere Qual. Über sein frühes Urteil schreibt Hanjo Kesting resümierend:

So ist Thomas Manns Werk, wo immer man es aufschlägt, vom Goldglanz der Vollendung umgeben, der es wie ein magischer Schutzwall umgibt. Vor langen Jahren, als ich meine polemischen Thesen anschlug, habe ich vor allem dieses glänzende Gold gesehen, den Prunkrahmen um das Gemälde des großen Werkes. Doch muss man das Gemälde selbst ins Auge fassen, um zu erkennen, dass es bei allem Glanz über einem Abgrund von Qual, Not und Schmerz errichtet ist.

Die Tagebücher gehören zu diesem Gemälde, zum großen Werk. Sie stehen nahezu gleichberechtigt neben den Romanen und Erzählungen. So manche Ambivalenz im Leben und Werk Thomas Manns wäre uns ohne ihre Kenntnis entgangen.

Beitragsbild: Unbekannter Autor,
Thomas Mann in seinem Heim in München (1932)
Via Wikimedia Commons / Deutsches Bundesarchiv / CC-BY-SA 3.0
Angaben zum Buch

Hanjo Kesting
Thomas Mann
Glanz und Qual
Wallstein Verlag 2023 · 400 Seiten · 28 Euro
ISBN: 978-3-8353-5413-5

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Von Herwig Finkeldey

2 Kommentare

  1. In welchem Sinne stehen die Mannschen Tagebücher „gleichberechtigt“ neben dem Werk. Ich habe sie, außer ihrem durch Akribie ermöglichten hohen Wert als Zeitzeugnisse, als einfach nur obsessiv und pedantisch in Erinnerung, erfüllt vom gleichmäßig trüben Licht eines illusionslosen Blicks auf Alltag & Mitmenschen und von einer „Leidenschaft für das eigene Ich“, die 1933 schon nicht mehr „wütend“ wirkt (wie Heinrich Mann sie in seinem großen, nicht abgeschickten Brief an den Bruder 1918 bezeichnet hatte), sondern nur noch zäh und erstarrt. Der Fähigkeit zum emotional-intellektuellen Spiel, zum Konturieren und Ausleuchten von Menschen, vor allem auch zum Humor, die den Schriftsteller Thomas Mann wesentlich ausmachen, ist in den Tagebüchern meiner Erinnerung nach nicht zu finden. Ich schätze den Künstler Thomas Mann nach wie vor sehr hoch, aber seine Tagebücher haben mich auch nicht im Ansatz zum „Angehörigen einer Gemeinde“ gemacht, sondern, wenn überhaupt etwas, dann ernüchtert und gelehrt, dass große Kunst nicht sosehr mit „innerer Qual“ als vielmehr mit vitaler Verarmung erkauft werden kann.

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    1. Nun, es ist von „gleichberechtigt“ die Rede, nicht von gleichwertig oder gar gleichartig. „Gleichberechtigt“ und wichtig für das Verstehen des Werkes sind Thomas Manns Tagebücher allemal. Sie sind für mich, der ich sie ganz zuletzt wahrnahm, nachdem ich Jahrzehnte vorher schon ein Manniac der literarischen Werke geworden war, aber auch annähernd gleichwertig. Kann man diese Tagebücher nicht als autofiktionales Erzählen verstehen, als Versuch, die Unmöglichkeit der Darstellung eines gelebten Lebens zu überwinden? Diese Tagebücher als Knausgårds Vorgänger? Wozu natürlich auch Redundanzen, Langeweile und Gehässigkeiten gehören.
      Wobei immer klar sein muß: Kein Werk kann das schaffen. Oder wie E.L. Doctorow schrieb: „Die wirkliche Konsistenz von gelebtem Leben kann kein Schriftsteller wiedergeben.“ Auch Thomas Manns Tagebücher haben das Imperfekt als Zeitform, sind kommentierend nachgeschoben, sind nicht das Leben selbst. Aber das ist ja beinahe schon eine Plattitüde.

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