Die erste Begegnung mit Kafkas Werk liegt meistens in der Schulzeit. Zu Kafkas 100. Todestag wenden wir uns seinem Werk zu, indem wir es wiederlesen – und uns aufs Neue überraschen lassen.
Bereits erschienen:
- Das erste Mal, 3. Juni 2024
- Toxische Bürgerlichkeit, 5. Juni 2024
- Das schwarze Loch der Hoffnung, 7. Juni 2024
- Die brotlosteste aller Künste, 12. Juni 2024
- Geisterstunde, 20. Juni 2024
Meine „Sollbruchstelle“ (Hans-Dieter Gelfert), um in Franz Kafkas Schriften einzusteigen, war seit eh – wenig originell, den meisten dürfte es so gegangen sein – das gewollte Missmatch zwischen dem, was Kafka schilderte, und dem, wie er es tat. Also die Diskrepanz zwischen den absurden, unsinnigen, alogischen, furchtbaren Welten samt ihrem Personal, und seiner präzisen, juristisch geschulten Lakonie, mit der er diese Welten (ersichtlich so etwas wie Freud‘sche Traumentstellungen) analysiert und ihnen interne Sinnhaftigkeit zuschreibt.
Das führte bei mir dazu, dass ich mich Kafkas Werk immer mit einer Haltung genähert habe, die man bewusste Naivität nennen kann: Ich nahm ihn wörtlich. Also zum Beispiel: Der Vater verurteilt seinen Sohn zum Ertrinken? Was ist denn das für ein Wahnsinn! Diese naive Fassungslosigkeit, dieses naive Entsetzen, Erstaunen ist bei Kafka (und bei aller Literatur) natürlich integraler Bestandteil der Texte: Wir sollen es so lesen, die Texte würden anders gar nicht funktionieren.
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Auch „In der Strafkolonie“ kann, so meine ich, ohne diese Naivität nicht angemessen verstanden werden. Es war eine der ersten Erzählungen Kafkas, die ich las, ich kann mich noch gut an mein gebanntes Entsetzen erinnern, ich konnte nicht aufhören.
Nehmen wir auch diese Erzählung wörtlich: Ganz offenbar zeigt Kafka in ihr ein Gewaltsystem im Vollzug. Genauer sogar zwei: zum einen das des alten Kommandanten, der Gerechtigkeit durch Folter und Tod herstellen will – wobei die Schuld jederzeit feststeht – und als dessen letzter Fürsprecher der Offizier agiert; und zum anderen das des neuen Kommandanten und dessen indirekten Fürsprechers, des Reisenden. Sie sind mit dem alten System nicht einverstanden, hätten auch die Macht, das Ganze sofort zu beenden – und lassen es dennoch geschehen.
Wir müssen hier schon genau lesen: Der Reisende greift ja mitnichten aktiv ein, um diese Hinrichtung, diese Folter, diesen Wahnwitz zu beenden. Er äußert nur seine Ablehnung des Verfahrens, und das auch noch in vorsichtigen, den Offizier schonenden, fast schon entschuldigenden Worten. Der Offizier beendet die Hinrichtung des Veruteilten von sich aus, denn er ist gescheitert. Das Verfahren hat nicht überzeugt, also unterwirft er sich als letzter Adorant dem Apparat, der dabei vollends entzwei geht und „Sei gerecht“ nicht schreiben, Gerechtigkeit nicht herstellen kann (es vielleicht nie konnte).
Der Dialog zwischen Offizier und Reisendem dreht sich denn auch lange Zeit kaum um die Frage, ob das Verfahren gerecht, warum diese Grausamkeit nötig sei – dabei ist das die einzige Frage (und Kafka weiß das natürlich genau), die uns als rat- und fassungslose Leser hier interessiert. Der Offizier stellt nur kurz seine Theorie totaler, gewaltsam hergestellter Gerechtigkeit vor – Widersprüche vom Reisenden kommen keine –, um sodann zur Schilderung des „Verfahrens“ überzugehen. (Das „Verfahren“, wie der Jurist Kafka es nennt, ist hier natürlich nicht der Prozess, sondern die Vollstreckung: Denn Anklage, Urteil und Strafe sind identisch, das Urteil wird dem Verurteilten erst per Strafvollzug mitgeteilt, also auf den Leib geschrieben.)
Dann geht es detailliert um den genauen Aufbau des sinnreich konstruierten Apparats, ekelhafte Einzelheiten inklusive (der Mundfilz und der Brei zum Beispiel, ersichtlich ein Poe-Zitat aus „Wassergrube und Pendel“), des Weiteren geht es um Klagen des Offiziers: Früher waren solche Hinrichtungen eine große Sache, vor viel Publikum, jetzt ist alles trist, Verfall zeigt sich, niemand kommt mehr, auch die Maschine ist nicht mehr wirklich gut gewartet worden.
Das setzt sich fort mit minutiösen Darlegungen, wie sich das Gespräch zwischen dem Reisenden und dem neuen Kommandanten denn nun entwickeln solle. Denn wenn er, der Reisende, ihm beim neuen Kommandanten helfen wolle, müsse er das so und so machen, dürfe auch die Rolle der Damen nicht vernachlässigen.
Und es endet in Erinnerungen an vergangene, ‚glückliche‘ Exekutionen:
„Der [alte] Kommandant in seiner Einsicht ordnete an, dass vor allem die Kinder berücksichtigt werden sollten; ich allerdings durfte kraft meines Berufes immer dabeistehen; oft hockte ich dort, zwei kleine Kinder links und rechts in meinen Armen. Wie nahmen wir alle den Ausdruck von Verklärung von dem gemarterten Gesicht, wie hielten wir unsere Wangen in den Schein dieser endlich erreichten und schon vergehenden Gerechtigkeit! Was für Zeiten, mein Kamerad!“
Und als die einzige hier relevante Sache endlich verhandelt wird, geschieht das beiläufig. Die beiden tauschen sich nur über das „Verfahren“ aus, wenn man das höflich-zurückhaltende ‚Nein‘ – fast ein ‚Nein, Danke‘ – des Reisenden überhaupt Austausch nennen will. Nie geht es um den Verurteilten, den Kafka, wie er das bei Neben(!)figuren so häufig macht, regelrecht slapstickartig zeichnet, nie um seine Qualen, er ist auf seine Funktion reduziert.
Ein präziser, sachlicher Gewaltexzess, der Sinn etablieren soll. Wir haben es hier mit enthemmter Gewalt zu tun, aber mit einer, die von einem präzise arbeitenden, mit Hollerithschen Lochkarten gefütterten „Apparat“ (!) ausgeübt wird. Eine berechnete, vorgeschriebene Gewalt, die auf Erlösung abzielt.
Somit erzählt Kafka vom Faschismus, davon, Erlösung durch Gewalt und Folter zu erhoffen, und zwar nicht als bloßes Mittel zum Zweck, sondern indem Gewalt und Folter innerlich bejaht und geliebt, als zentrales Moment unseres Daseins erlebt werden. Und zugleich erzählt er vom Unvermögen des ‚gesittet-gebildeten‘ Europas, auf diesen scheinrational begründeten Gewaltexzess anders als mit achselzuckender Nonchalance zu reagieren. Er hat vom Faschismus nur den Namen noch nicht, aber schon den Begriff.
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Natürlich gibt es andere Deutungen. Dass Kafka uns hier auch seinen inneren Darkroom vorführt, ist sowieso klar (vgl. das Prügler-Kapitel in Der Prozess, das Messer in „Schakale und Araber“ usf., an sexuell konnotierten Gewaltfantasien ist bei Kafka kein Mangel). Ich widerspreche auch gar nicht, wenn der Literaturwissenschaftler Oliver Jahraus konstatiert, bei dem Apparat handele es sich um eine Schreibmaschine. Natürlich ist er eine Schreibmaschine, wobei wir nicht wissen, was diese Hollerith-Maschine letztlich ‚schreibt‘ (Sprache? Ornamente? eine Geheimsprache?).
Aber geht es wirklich ums Schreiben als solches, um „Magie und Gewalt der schreibenden Hand“ (Alexander Honold)? Handelt es sich bei den eintätowierten, eher ‚eingefolterten‘ Zeichen wirklich um Signifikate, die mit den Signifikanten zusammen fallen, wie Jahraus meint? Ich sehe das nicht. Hier werden Unschuldige ‚beschrieben‘, also durch Gewalt zugerichtet, ob die Zeichen bzw die Ornamente überhaupt eine Bedeutung haben, bleibt ungeklärt, auch wenn der Offizier es dem Reisenden (und uns Lesenden) versichert.
Dass alle Sprache Gewalt, alle Sprache Faschismus sei, Zurichtung und Normierung von Welt und Selbst, ist seit mehr als fünfzig Jahren zentral für den poststrukturalistischen Ansatz, exemplarisch etwa in Roland Barthes Antrittsvorlesung 1977. Eine These, die mich nie überzeugt hat. Alle Sprache, alles Schreiben? Himmlers Sprache ebenso wie die von Anne Frank? Das Schreiben von Will Vesper ebenso wie das von Franz Kafka? Hat unsere Schwierigkeit, gut und böse zu identifizieren (zu urteilen in Hannah Arendts Sinn) nicht auch in dieser falschen Äquidistanz ihren Ursprung? Und will man Kafkas Erzählung, die ohne unsere Fassungslosigkeit nicht funktionieren würde, wirklich als Ausdruck dieser Äquidistanz lesen?
Es handelt sich nicht um Schreiben, um Zeichen, sondern um gewaltsames Schreiben, gewaltsame Zeichen, also um gewaltsam produzierten Sinn. Mithin um Faschismus.
Diese Betrachtungen zu Kafkas In der Strafkolonie, die die Veränderung der eigenen Sicht auf den Text vom ersten Lesen vor längerer Zeit bis zur Lektüre heute als einen Gegenstand wählt, finde ich klasse, weil sie neu, persönlich und fragend ist, vielen Dank!
Ich finde in der Erzählung nicht nur die Maschine, sondern auch die Personen eine Revue von Sadismus und Sadisten. In der Erzählung wird das Vorgehen der Maschine mehrfach wiedergegeben, jedesmal mit anderen Einzelheiten, mal geht es um ihr vorgeblich aufsehenerrregendes elegantes Töten in der Vergangenheit, mal um ihre verminderte Kapazität zum Zeitpunkt der Erzählung, mal um Beize, die die Schmerzen steigern sollte. All das zu lesen, erzeugt doch auch Qualen, oder? Für mich oszilliert der Text daher zwischen dem verschwörerischen Enthüllen von Geheimnissen der früheren tödlichen Maschinen-Orgien und der prahlerischen Ankündigung der unmittelbar bevorstehenden erneuten Aufführung einer weiteren .
Der Offizier, der früher zig Verurteilte mit der Maschine tötete, sorgt sich, dass ihm diese Aufgabe des Tötens mittels der von ihm geliebten Maschine weggenommen werden könnte. Als es für ihn so aussieht, als würde sich auch ein externer Gutachter auf die Seite derer schlagen, die die Maschine einmotten und ihn arbeitslos machen wollen, legt sich der Offizier selbst in seine Maschine und lässt sich von der Maschine töten, was ihm gelingt, weil keiner die Maschine anhält.
Der Offizier ist in Teilen so geschildert, dass man etwas an ihm sympathisch finden kann, wenn er scheinbar rührend an seiner Maschine hängt und mit warmen Worten um Verständnis, ja sogar um Bewunderung für das Strafen und Töten mittels seiner Maschine wirbt. Doch ist er deswegen etwas anderes als ein Sadist? Es gibt für mich geradezu ekelhafte Stellen, in denen der Offizier von seiner Genugtuung über einen vorhersagbar eintretenden Umschwung der Gefühle der in der Maschine Gequälten spricht, wenn diese erkennen lassen, dass sie die Hoffnung auf ein Überleben aufgeben. Und dann ist da noch das durchsichtige Material Glas, das an den Stellen an der Maschine eingebaut ist, an denen BetrachterInnen ermöglicht werden soll, Blut fliessen zu sehen – zu welchem anderen Zweck als einem sadistischen?
Der in Kamerun lehrende Germanist David Simo betrachtete 1999 die Konstellation von Kolonisten und Kolonisierten in Kafkas Erzählung und wies auf Bezüge Kafkas zum Roman Garten der Qualen von Octave Mirbeau hin.