Die erste Begegnung mit Kafkas Werk liegt meistens in der Schulzeit. In unserer Reihe zu Kafkas 100. Todestag wenden wir uns seinem Werk zu.
Weitere Beiträge:
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- Geisterstunde, 20. Juni 2024
Anselm Bühling
An meine erste Begegnung mit Kafka habe ich keine genaue Erinnerung. Ich muss älter als zehn und jünger als fünfzehn gewesen sein. Und ich vermute, mein erster Text war „Vor dem Gesetz“. Diese kurze Parabel war meinem Vater wichtig; sie kam auch im Deutschunterricht vor und vielleicht im Konfirmationsunterricht.
Mein Verhältnis zu Kafka ist, seit der Name mir etwas sagt, ambivalent gewesen. Da war die Schwere der großen Deutungen: das Belastende, Bedrohliche, Zwanghafte, das umso stärker hervortrat, weil es sich mit der Zerstörung der Welt verband, in der es entstanden war und von der ich nichts wusste. Da war aber auch diese Sprache, die gar nichts Belastendes oder Bedrohliches hat, sondern glasklar ist. Sie macht sichtbar, wovon sie redet, anstatt Bilder davorzuschieben. Sie ist nicht zwanghaft, aber umso bezwingender in dem, was sie zeigt und was sich an ihr lernen lässt.
Herwig Finkeldey
Meine erste Begegnung mit Franz Kafka kann ich nicht sicher datieren. Es könnte die Schule gewesen sein. Möglich ist aber auch ein Suhrkamp Taschenbuch von Hermann Hesse mit dem Titel Literaturgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen, das sich damals in meinem Besitz befand und in dem sehr ausführlich und beinahe ehrfürchtig von einem gewissen Franz Kafka die Rede gewesen ist. An das Elektrisierende der ersten Lesung, es war Der Prozeß, kann ich mich hingegen sehr genau erinnern. Und daran hat sich bis heute nichts geändert.
Sieglinde Geisel
Ich hatte im Gymnasium Streit mit meinem Französischlehrer: Weil ich seinen Unterricht unerträglich fand, las ich oft heimlich unter dem Tisch. Irgendwann einigten wir uns darauf, dass ich seinen Unterricht nicht mehr störe und er mich beim Lesen nicht mehr stört. Im Deutschunterricht hatten wir Kafka, ich erinnere mich an „Die Verwandlung“ und Der Prozess. Ich war sofort angefixt.
Also las ich nun im Französisch-Unterricht unterm Tisch Kafka. Was zur Folge hatte, dass ich die Geistlosigkeit des Unterrichts erst recht nicht mehr ertrug.
Agnese Franceschini
Wie alle italienischen Schüler und Schülerinnen habe ich „Die Verwandlung“ gelesen, aber nicht viel davon verstanden. Es war eine Pflichtlektüre, ziemlich absurd und ich war von dem Text nicht besonders angezogen.
Als ich meine Diplomarbeit über Musils Mann ohne Eigenschaften schreiben sollte, wurde ich von meinem Professor aufgefordert, unter anderem auch Der Prozess von Kafka zu lesen. Doch nach wenigen Seiten war mir klar, dass ich den Roman nicht lesen werde. Ich konnte die sinn- und hoffnungslose Situation nicht ertragen, das Gefühl der Angst und Hilflosigkeit hinderte mich daran, weiterzulesen. So habe ich Kafka nicht gelesen, aber das Kafkaeske wohl fast am eigenen Leib, wenn nicht erfahren, dann zumindest erkannt.
Hartmut Finkeldey
Es war tatsächlich Kafka, durch den ich zur Literatur kam, und das Ganze kam überraschend, ohne jede Vorahnung: Ich war 14, als unser Deutschlehrer – P.B., ein Kafka-Kenner und Liebhaber – im Deutschunterricht „Vor dem Gesetz“ lesen ließ. Es gibt sie, die Texte, die einfach ‚einschlagen‘; dies war meiner. Ich stornierte alle Wunschzettel zu Weihnachten und wollte ausschließlich „Alles von Kafka“ haben, und meine Eltern begingen den Fehler, darauf einzugehen.
Schon vor der Bescherung griff ich zum Band Das Urteil und andere Erzählungen, denn er lag bereits in der häuslichen Bibliothek vor, als Fischer-Taschenbuch, „Das gute Buch für jedermann“, herrlichstes 50er-Jahre-Design. Als erstes las ich „In der Strafkolonie“, und damit war alles entschieden. Natürlich verstand ich nichts (von „Warum wird der Verurteilte so gequält?“ bis „Warum spuckt die Maschine jetzt Zahnräder aus?“) – von zwei Dingen abgesehen: Mir war sofort klar, dass man hier mit einem „Was will uns der Dichter damit sagen?“ nicht wirklich weiterkommt, und ich sah sofort, wie großartig Kafkas Schreibverfahren war: Das Entsetzliche derart lakonisch zu schildern, bisweilen so, als handele es sich um eine Betriebsanleitung – das war groß.
Unsere erste Lektüre liegt viele Jahrzehnte zurück. In den nächsten Tagen widmen wir uns dem Wiederlesen von Kafkas Texten.