Die erste Begegnung mit Kafkas Werk liegt meistens in der Schulzeit. Zu Kafkas 100. Todestag wenden wir uns seinem Werk zu, indem wir es wiederlesen – und uns aufs Neue überraschen lassen.

Bereits erschienen:

Im Sommer 1916 notierte Kafka in einem blauen Schulheft den folgenden kurzen Dialog:

In einer spiritistischen Sitzung meldete sich einmal ein neuer Geist und es wickelte sich mit ihm folgendes Gespräch ab:

Der Geist: Verzeihung.
Der Wortführer: Wer bist Du?
G. Verzeihung.
W. Was willst Du?
G. Fort.
W. Du bist doch erst gekommen.
G. Es ist ein Irrtum.
W. Nein es ist kein Irrtum. Du bist gekommen und bleibst.
G. Mir ist eben schlecht geworden.
W. Sehr?
G. Sehr.
W. Körperlich?
G. Körperlich?
W. Du antwortest mit Fragen, das ist ungehörig. Wir haben Mittel Dich zu strafen, antworte also lieber, denn dann werden wir Dich entlassen.
G. Bald?
W. Bald.
G. In einer Minute?
W. Benimm Dich nicht so kläglich. Wir werden Dich entlassen, wenn es uns

Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Frankfurt/Main 1992, S. 19f.

Der erste Teil dieser Szene wird in Reiner Stachs Biografie zitiert. Kafka, so ist dort zu erfahren, kannte den Spiritismus aus eigener Anschauung. Er nahm um 1910 zusammen mit Max Brod an einigen Sitzungen teil, so im Frühjahr auf Einladung Franz Werfels hin. Anders als dieser konnte Kafka dem damals modischen Möbelrücken jedoch nichts abgewinnen. Zu Willy Haas, der sich damals gleichfalls für den Spiritismus begeisterte, sagte er: „Dass die Sonne am Morgen aufgeht, ist ein Wunder. Aber dass ein Tisch sich bewegt, wenn Sie ihn so lange malträtieren, ist kein Wunder.“

Der Text ist schnell hingeworfen, aber er zeigt viel von dem, was Kafka ausmacht. Er ist äußerst verknappt: Es sind insgesamt neunzehn Zeilen – die Einleitung und achtzehn Dialogzeilen. Die Hälfte davon besteht aus nur einem Wort, und die Stilmittel der Wiederholung und des Fragens und Antwortens sind virtuos eingesetzt.

Jemand gerät in eine Welt, die er nicht begreift und aus der kein Entkommen mehr ist, aber zwischendurch geht es zutiefst komisch zu: „Mir ist eben schlecht geworden“, sagt der Geist wie ein Schuljunge, der sich vor einer Prüfung drücken will. Die Frage „Körperlich?“ kann er aus offensichtlichen Gründen nur verwundert zurückgeben, und gerade damit beschwört er das Unheil herauf, dem er sich zu entziehen versuchte. Die Blamage setzt die Dynamik der Machtdemonstration und der unwillkürlichen subversiven Übertretung in Gang: Dem Geist wird Strafe angedroht, weil er mit Fragen antwortet; von da an ist jede seiner Antworten eine Frage.

Und natürlich bleibt das Ganze Fragment. Es bricht mitten im Satz ab, genau an dem Punkt, an dem die Situation ausgemessen und die Falle gestellt ist. Hier geht es nicht mehr weiter.

Vielleicht ist der bedauernswerte Geist in diesem Dialog ja der Geist des Mannes vom Lande aus „Vor dem Gesetz“, der dem Verbot des Türhüters zum Trotz im letzten Moment gerade noch durch den Eingang schlüpfen konnte. Womöglich hätte er sich genau hier, in dieser spiritistischen Séance, wiedergefunden.

Es gibt keine Aufnahme in das Gesetz, nur Gesetze, die du nicht durchschaust und die dich bedrohen. Es ist kein Entkommen, auch dann nicht, wenn du irgendwo Durchlass findest. Was, vielleicht, bleibt, ist, sich zuzusehen und dabei zwischendurch zu lachen.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Herwig Finkeldey (Montage: Anselm Bühling)

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Von Anselm Bühling

Übersetzer und Redakteur von tell, lebt in Berlin.

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