Die erste Begegnung mit Kafkas Werk liegt meistens in der Schulzeit. Zu Kafkas 100. Todestag wenden wir uns seinem Werk zu, indem wir es wiederlesen – und uns aufs Neue überraschen lassen.

Bereits erschienen:

Warum sagt K. nicht einfach: „Ihr könnt mich mal, Tschüss!“? Diese Frage begleitet mich schon lange, wenn ich an Das Schloss denke. Sie ist mir nicht während des Lesens gekommen, sondern irgendwann danach.

Meine Lektüren von Das Schloss liegen Jahrzehnte zurück, und beim Wiederlesen staune ich, wie ungeschickt, ja fast zufällig K. in sein Verhängnis hineinstolpert. In der ersten Szene weiß er nicht einmal, dass es hier überhaupt ein Schloss gibt, zugleich drängt er sich mit seinem Landvermessertum geradezu auf. Er tut dies in einer auffälligen Metaphorik von Kampf und Sieg.

Die Behörden, mit denen K. es zu tun bekommt, hatten

immer nur im Namen entlegener, unsichtbarer Herren entlegene, unsichtbare Dinge zu verteidigen, während K. für etwas lebendigst Nahes kämpfte, für sich selbst; überdies, zumindest in der allerersten Zeit, aus eigenem Willen, denn er war der Angreifer.

K. ist also kein Opfer. In der Tat könnte er jederzeit nach Hause gehen, niemand würde ihn zurückhalten. Doch er will unbedingt ins Schloss und wird mehr und mehr zum Opfer seines eigenen Bestrebens.

Unmerklich zwingt uns Kafka in den Kosmos dieses selbst herbeigeführten Unglück hinein. Es ist ein Kosmos, in dem man mit allem rechnen muss. Zeit und Raum sind aus den Fugen: Das Schloss entfernt sich, die Tage sind ungewöhnlich kurz. Dazu kommen die Kafka’schen Frauenfiguren, die K. durch die Ambivalenz von Begehren und mildem Grauen in Bedrängnis bringen.

Von Frieda – K. wird ihr später einen Heiratsantrag machen – heißt es in einer Szene im Wirtshaus:

Sie nahm eine Peitsche aus der Ecke und sprang mit einem einzigen hohen, nicht ganz sicheren Sprung, so wie etwa ein Lämmchen springt, auf die Tanzenden zu.

Auch beim Wiederlesen identifiziere ich mich mit der unbedingten Notwendigkeit, mit der K. sich dem Schloss zu nähern versucht. Ich zweifle nicht an diesem Anliegen, trotz aller sorgfältig inszenierten Vergeblichkeit.

Aber diese letzte, kleinste, verschwindende, eigentlich gar nicht vorhandene Hoffnung ist doch Ihre einzige.

Mit jedem Wort in dieser Rede der Wirtin wird die Negierung der Hoffnung gesteigert. K. scheint das Spiel zu durchschauen: Er sei „der Hoffnungen, mit der sie ihn zu fangen versuchte, müde“, heißt es wenig später.

Die Hoffnung ist bei Kafka ein schwarzes Loch, nicht nur in Das Schloss. Über dem ganzen Werk hängt seine berühmte Sentenz: „Es gibt unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns.“

***

Auch Bücher, die vom Unglück handeln, machen uns glücklich. „Ich würde nicht das Wort ‚glücklich‘ verwenden“, antwortet Peter Bichsel in meinem Gesprächsband Was wäre, wenn auf die entsprechende Frage. „Es geht um Trost. Sie trösten uns, weil sie uns zeigen, dass es eine andere Welt gibt als diese.“

Tröstet uns Kafka? Er zeigt uns eine Welt, die ins Absurde kippt, weil sie sich allem Menschlichen entfremdet hat. Daran ist nichts Tröstliches. Und doch verschafft mir die Lektüre einen Zuwachs an Energie.

Das liegt am Stil, d.h. an Sätzen wie diesen:

[…] und ein alter Bauer, in brauner Pelzjoppe, den Kopf seitwärts geneigt, freundlich und schwach, stand dort.

Sein Gesicht war heil und offen, die Augen übergroß.

Einer sagte im Abgehen zur Erklärung, leichthin, mit einem undeutbaren Lächeln, das einige andere aufnahmen: „Man hört immer etwas Neues“, und er leckte sich die Lippen, als sei das Neue eine Speise.

Es ist die Sprache selbst, die Hoffnung gibt – ein Wort, das seit Kafka radioaktiv aufgeladen ist. Die Sprache gibt Hoffnung durch ihre Schönheit und durch die Freiheit, etwas so zu sagen, wie es niemand anders je wird sagen können.

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Auch ein kanonisierter Großautor wie Kafka ist nicht jenseits der Kritik. Die Taschenbuchausgabe meiner Studienzeit kann ich leider nicht mehr finden. Später hatte ich Das Schloss in der Ausgabe der Gesamtwerke Kafkas gelesen, die 2004 bei Zweitausendeins erschienen ist, und dort hören meine Anstreichungen in der Hälfte auf. Beim Wiederlesen verstehe ich, warum. Dass sich der Duktus ändert, sieht man schon von bloßem Auge: kaum mehr Absätze, sondern (besonders in dieser Ausgabe) seitenlange Blei-Wüsten. Der Text tritt auf der Stelle: In endlosen Monologen erklären Vorsteher, Sekretäre, Unterdiener etc. K. das Wesen dieser vielfach in sich verzweigten Bürokratie.

Dabei wissen wir längst Bescheid. Als K. nach einer Kontrollbehörde fragte, hatte er bereits in der ersten Hälfte des Romans dies zu hören bekommen:

Nur ein völlig Fremder kann Ihre Frage stellen. Ob es eine Kontrollbehörde gibt? Es gibt nur Kontrollbehörden. Freilich, sie sind nicht dazu bestimmt, Fehler im groben Wortsinn herauszufinden, denn Fehler kommen ja nicht vor, und selbst wenn einmal ein Fehler vorkommt, wie in Ihrem Fall, wer darf denn endgültig sagen, dass es ein Fehler ist?

Diese Materie wird in der zweiten Hälfte exzessiv wieder gekaut. Ich muss gestehen, dass ich die letzten hundert Seiten immer wieder diagonal gelesen habe. K. selbst kommt in der zweiten Hälfte kaum mehr zu Wort. Dabei hätte ich mich gerade für ihn besonders interessiert.

Immerhin geht es K. wie seinen Lesern: Er schläft ständig ein, während er von den Schloss-Vertretern zugetextet wird. Wollte Kafka uns die Vergeblichkeit und die Ohnmacht seines Protagonisten quasi eins zu eins spüren lassen?

Das Schloss ist Fragment. Als er es schrieb, war Kafka schon sehr krank, und wie alles andere in seinem Nachlass hatte er das Manuskript nicht zur Veröffentlichung vorgesehen. Wer weiß, was er daran noch geändert hätte?

Bildnachweis:
Beitragsbild: Herwig Finkeldey (Montage: Anselm Bühling)
Angaben zum Buch

Franz Kafka
Das Schloss
Roman
S. Fischer 2023 · 416 Seiten · 18 Euro
ISBN: 978-3596709618

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Buchcover "Das Schloss" von Franz Kafka

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

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