Die erste Begegnung mit Kafkas Werk liegt meistens in der Schulzeit. Zu Kafkas 100. Todestag wenden wir uns seinem Werk zu, indem wir es wiederlesen – und uns aufs Neue überraschen lassen.

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Franz Kafka gehört zu den prägendsten Leseerfahrungen meiner Jugendzeit. Durch seine Texte (und die von Thomas Mann) erfuhr ich zum ersten Mal, dass nicht der Inhalt die Qualität eines Textes bestimmt, sondern die Form, die Art, wie der Inhalt dargestellt wird.

Inhalte sind bei Kafka schnell erzählt. Das Geschehen in seinen Büchern zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass es nicht vorangeht. Der Bote mit der kaiserlichen Nachricht dringt nicht durch, er kommt gar nicht aus der Stadt hinaus. Der Mann vom Lande wartet vor dem Gesetz vergebens auf Einlass. Das Schloss ist dem Landvermesser unerreichbar. Karl Roßmann irrt umher. Und immer wieder werden Kafkas Protagonisten von Frauen abgelenkt. Einerseits scheinen nur Frauen eine Entwicklung im Kafka’schen statischen Kosmos der Hoffnungslosigkeit möglich zu machen, sei sie auch nur scheinbar oder vorläufig. Andererseits schaffen es letztlich auch Frauen nicht, die Hoffnungslosigkeit zu besiegen, die Blockierungen zu lösen.

Nachdem ich viele von Kafkas Texten schon als Jugendlicher gelesen hatte, kam bald auch der Brief an den Vater hinzu. Eine Lektüre, die mich auch mit der Person Kafkas verband. Ich sah mein Schicksal als verwandt an: In scheinbar geordneten bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, war mir wie vielen Heranwachsenden das Befolgen dieser komplexen Regeln und das Einsehen ihrer Sinnhaftigkeit unmöglich (und ist es bis heute).

Darüber hinaus las ich den Brief als Interpretationshilfe für Kafkas Werk. Nun sah ich in seinen Texten eigentlich nur einen biografischen Ausdruck seiner familiären Umstände und seiner übergroßen Schuldgefühle, als Antwort auf den väterlich-familiären Druck.

Diese Sicht belegt zunächst Kafkas eigene Aussage:

Mein Schreiben handelte von Dir, ich klagte ja dort nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte.

Im Brief an den Vater weist er selbst immer wieder auf seine Werke hin. Er zitiert (ein wenig ungenau!) sich selbst aus Der Prozess, und die Erzählung „Das Urteil“ wirkt nachgerade wie die literarische Variante des Briefes.

***

Nun habe ich nach mehreren Jahrzehnten den Brief an den Vater erneut gelesen. Ich muss zwar meine damalige Sicht nicht komplett umstoßen. Aber ich begann nun, den Brief nicht nur als persönliches Dokument, sondern auch als Literatur zu verstehen. Und fand über diesen Umweg dazu, auch Kafkas Werk neu zu deuten.

Versteht man diesen Brief nämlich literarisch, so ist er auch ein Dokument einer Zeit, in der Familien patriarchalisch geprägt waren. Der Vater als Oberhaupt und ökonomischer Versorger: Sein Wohlergehen hat über allem zu stehen, seinen Launen ist alles erlaubt. Die Familie hat ihn zu stabilisieren, er darf sich schadlos halten. Ob die einzelnen Mitglieder dabei leiden, sich zum Beispiel schuldlos schuldig fühlen, ist unerheblich. Die gütig-nachsichtige Mutter als der Part, der mit ihrer Wärme die Kinder ‚überzeugt‘, den tyrannischen Launen des Vaters keinen Widerstand entgegenzusetzen. Allzu große Härten federt sie ab.

Das äußere Leben besteht ausschließlich aus dem Kampf um die Existenz sowie gegen Neider, Missgünstige und Betrüger, die nicht selten im eigenen Betrieb hocken. Dazu der ewige Vorwurf der Eltern an die undankbaren Kinder: Hart und entbehrungsreich mussten wir arbeiten, während ihr wohlstandsverwahrlost und ohne Leistungswillen dahinlebt. Kurzum: Kafka beschreibt hier nichts anderes als die toxische Bürgerlichkeit, wie sie in Aufsteigerfamilien typischerweise zu finden ist. Solche Familienverhältnisse waren bis weit in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Regel.

Noch einen Aspekt berührt dieser lange Brief: das Verhältnis des Künstlers zum bürgerlichen Leben, zur bürgerlichen Existenz. Kafkas Hang zur Ambivalenz zeigt sich auch hier. Seine Unfähigkeit zur endgültigen Entscheidung betraf die Ehe mit allen Konsequenzen ebenso wie das bürgerliche Leben und dessen Anforderungen. Auch davon erzählt nicht nur der Brief, sondern das gesamte literarische Werk des Antibürgers Franz Kafka, dessen Helden ja vor allem die Unmöglichkeit auszeichnet, sich einzuordnen.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Herwig Finkeldey (Montage: Anselm Bühling)

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Von Herwig Finkeldey

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