Die erste Begegnung mit Kafkas Werk liegt meistens in der Schulzeit. Zu Kafkas 100. Todestag wenden wir uns seinem Werk zu, indem wir es wiederlesen – und uns aufs Neue überraschen lassen.
Bereits erschienen:
- Das erste Mal, 3. Juni 2024
- Toxische Bürgerlichkeit, 5. Juni 2024
- Das schwarze Loch der Hoffnung, 7. Juni 2024
- Erlösung durch Gewalt, 18. Juni 2024
- Geisterstunde, 20. Juni 2024
Versuche jemand die Hungerkunst zu erklären! Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht begreiflich machen.
„Ein Hungerkünstler“ wurde 1922 geschrieben und in der Zeitung Die neue Rundschau publiziert. Die Erzählung liefert auch den Titel der letzten Sammlung, die mit der Genehmigung Kafkas im August 1924, wenige Monate nach seinem Tod, veröffentlicht wurde.
Der Protagonist der Geschichte ist ein „Hungerkünstler“, der extremes Fasten als Kunstform zum Ausdruck bringt. Während seiner Tournee mit dem Zirkus zahlen Tausende von Menschen, um ihn fasten zu sehen. Aber trotz seines Erfolges ist der Künstler unzufrieden, er fühlt sich missverstanden.
Seine Kunst wird ständig in Frage gestellt, denn obwohl er Tag und Nacht überwacht wird, glaubt ihm niemand, dass er wirklich fastet. Für ihn ist Fasten eine innere Notwendigkeit, „er allein nämlich wusste, […] wie leicht das Hungern war“. Jedes Mal, wenn er vom Zirkusdirektor nach vierzig Tagen gezwungen wird, sein Fasten zu unterbrechen, fühlt er sich der Möglichkeit beraubt, sein wahres Potenzial zum Ausdruck zu bringen:
Warum gerade jetzt nach vierzig Tagen aufhören? Er hätte es noch lange, unbeschränkt lange ausgehalten; warum gerade jetzt aufhören, wo er im besten, ja noch nicht einmal im besten Hungern war? Warum wollte man ihn des Ruhmes berauben, weiter zu hungern, nicht nur der größte Hungerkünstler aller Zeiten zu werden, der er ja wahrscheinlich schon war, aber auch noch sich selbst zu übertreffen bis ins Unbegreifliche, denn für seine Fähigkeit zu hungern fühlte er keine Grenzen.
Paradoxerweise bringt der Hungerkünstler seine Kunst erst dann voll zum Ausdruck, als das Publikum das Interesse an ihm verliert und er in seinem Käfig vergessen wird. Er fastet bis zum Schluss, und als sich endlich jemand daran erinnert, dass unter dem Stroh im Käfig der Fastende sein sollte, ist der Hungerkünstler am Ende seiner Kräfte und offenbart, dass er für seine Fähigkeit zu fasten gar nicht bewundert werden will:
Weil ich hungern muss, ich kann nicht anders […] weil ich nicht die Speise finden könnte, die mir schmeckt.
In den letzten Worten des Künstlers vermischen sich Drama und Komödie. Zugleich ist die Erzählung eine Parabel über die Kunst und den Künstler, über die Unmöglichkeit, zwischen dem Künstler und seinem Publikum zu vermitteln.
[…] nur er also [konnte] gleichzeitig der von seinem Hungern vollkommen befriedigte Zuschauer sein.
Der Künstler ist allein, er ist der Einzige, der seine Kunst verstehen und beurteilen kann. Aus diesem Grund verschwindet der Künstler am Ende, noch bevor er stirbt, und mit ihm muss auch seine Kunst verschwinden.
Im November 1922 verfasste Kafka sein Testament für seinen Freund Max Brod. Nur einige wenige seiner Schriften sollten erhalten bleiben.
Von allem, was ich geschrieben habe, gelten nur die Bücher: Urteil, Heizer, Verwandlung, Strafkolonie, Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler […]
Der Rest sei „ausnahmslos zu verbrennen“ und zwar „möglichst bald“. Wie bekannt, hat sich Brod an diese Verfügungen nicht gehalten.
Dass „Ein Hungerkünstler“ zu den Werken gehört, die Kafka als gültig erachtete, ist ein Hinweis auf die Bedeutung dieser Erzählung. Kafka liefert darin eine tragisch-komisch Erklärung, warum Künstler und Kunst verschwinden sollen – eben das, was er sich für sein eigenes Werk wünschte.