tell ist ein „Magazin für Literatur und Zeitgenossenschaft“. Als Zeitgenossen dürfen wir nicht schweigen, wenn die Zeit aus den Fugen gerät.
In der vierten Woche von Putins Krieg gegen die Ukraine und die ganze Welt bringen wir persönliche Beiträge zum Krieg.
- 21. März 2022: Wir sind keine Zuschauer (Anselm Bühling)
- 22. März 2022: Das Böse in der Politik (Herwig Finkeldey)
- 24. März 2022: Krieg oder kein Krieg? (Hartmut Finkeldey)
- 25. März 2022: Wird Schönheit die Welt retten? (Agnese Franceschini)
Sie solle unbedingt bei der Nachbarin vorbeigehen, so rät man Anna Politkowskaja im zerstörten Grosny: „Oma Sawnapi hat nichts, nur ihre Blumen. Aber die sind wunderschön.“ Von Oma Sawnapis Haus steht nur noch das Fundament, doch in diesen Ruinen hat sie einen Steingarten angelegt. „Nach der Erstürmung bin ich durch das leere Komsomolskoje gelaufen“, sagt sie der Reporterin. „Hole hier ein Blümchen aus der Asche, grabe dort ein Pflänzchen aus… und schon habe ich einen Garten… Ich liebe Schönheit.“
Widerstand gegen die Zerstörung
Beim Lesen von Agnese Franceschinis Text über die Notwendigkeit der Kunst im Krieg musste ich an diese Passage aus Anna Politkowskajas Buch Tschetschenien (2003) denken. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“, heißt es im Matthäus-Evangelium, „sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“ Dieses Jesuswort gilt umso mehr, wenn das Brot fehlt. Die Worte aus dem Mund Gottes, von denen hier die Rede ist, bezeichnen für mich alles Spirituelle – alles, was über die bloße Wirklichkeit hinausweist.
Oma Sawnapis Garten gehört dazu ebenso wie die Videos aus dem Kriegsgebiet, die mich auf den sozialen Medien erreichen. Die Pianistin, die in ihrer zerstörten Wohnung auf ihrem Flügel ein letztes Mal Chopin spielt. Die Frau, die erschöpft an der polnischen Grenze ankommt und sich an ein Klavier setzt für „We Are The Champions“ von Queen. Die Open Air Aufführung des Gefangenenchors von „Nabucco“ in Odessa.
Oder dieser Tweet:
Die Vorstellungskraft in Gang halten
In meinem Gesprächsband Ein geträumtes Leben (2021) erzählt Alberto Manguel von der jüdisch-französischen Philosophin Simone Weil. Während dem Zweiten Weltkrieg war sie zusammen mit ihren Eltern in einem Flüchtlingslager in der Nähe von Casablanca interniert. Sie hatte sich einen der wenigen Stühle gesichert, und auf diesem Stuhl saß sie den ganzen Tag, um zu schreiben. Wenn sie einmal nicht auf diesem Stuhl saß, besetzten ihn ihre Eltern, damit ihre Tochter den Platz nicht verlor, den sie zum Denken und Schreiben brauchte.
Die Vorstellungskraft in Gang zu halten, im Vertrauen auf den eigenen Intellekt – das sei das Einzige, was einen in den schlimmsten Momenten retten könne, so Manguel: „Damit rettet man sich nicht physisch, aber man rettet seine Menschlichkeit.“
Musik im Kriegsgebiet ist ein Akt des Widerstands gegen die Zerstörung alles Menschlichen.
Der Sinn des Weiterlebens
Peter von Matt schreibt in seinem Essay „Kultur und Geschwindigkeit“ (in: Die verdächtige Pracht):
Was immer Kultur sein will, muss den Gewinn von Sinn für irgend jemand ermöglichen, in welcher Form auch immer, und sei es nur durch eine glückliche Sekunde angesichts einer schönen Sache.
Er denkt in diesem Essay über zwei Arten der Erkenntnis nach: Die eine Erkenntnis beseitigt Unwissenheit durch Information und ermöglicht im Extremfall mein Überleben, die andere Erkenntnis besteht in einer Erfahrung, einer Transformation.
Es ist der Unterschied zwischen dem, was mir das Weiterleben sichert und dem, was mir den Sinn dieses Weiterlebens offenbart.
Das Wort „Sinn“ bedeutete ursprünglich Weg. Das bedeutet, dass Sinn auf Zukunft ausgerichtet ist.
Im Mittelalter habe die Musik als „consolatrix“ gegolten, als Trösterin, sagt der Komponist Gerd Zacher in einem Interview: „In einer ausweglosen Situation kann die Musik Hoffnung geben, denn sie sagt in jedem Moment: Es könnte alles auch ganz anders sein. Jetzt klingt es so, und du denkst, es geht so weiter – aber es geht anders weiter. Es wird eine Zukunft entworfen.“
Die Kunst hat die utopische Kraft, in der Mauer der Hoffnungslosigkeit einen Spalt zu öffnen. Vielleicht meinte Dostojewski dies, als er seinen Fürsten Myschkin sagen ließ, dass die Schönheit die Welt retten werde.
In einem Interview mit Anton Dolin, dem wichtigsten russischen Filmkritiker (wie ich seit fünf Minuten weiß) bin ich auf ein entscheidendes Zitat gestoßen:
»Kultur ist unsterblich. Menschen sind es nicht.«
Das schrieb Dolin aus dem Exil in Lettland in einer Telegram-Gruppe.
Damit sagt er, weshalb die Kunst im Krieg so wichtig ist: Mitten im Sterben ist sie ein Beweis für die Unsterblichkeit.
Hier der Link zum Interview im Spiegel (leider Paywall): https://www.spiegel.de/ausland/anton-dolin-putins-ukraine-krieg-trieb-russlands-bekanntesten-filmkritiker-ins-exil-a-684afd5a-b63a-40ce-b447-032c3cf91088