tell ist ein „Magazin für Literatur und Zeitgenossenschaft“. Als Zeitgenossen dürfen wir nicht schweigen, wenn die Zeit aus den Fugen gerät.

In der vierten Woche von Putins Krieg gegen die Ukraine und die ganze Welt bringen wir persönliche Beiträge zum Krieg.

In Erwägung, dass ihr uns dann eben
Mit Gewehren und Kanonen droht
Haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben
Mehr zu fürchten als den Tod

Bertolt Brecht, Resolution der Kommunarden

Die Leute leben weiter ihr gewohntes Leben. Sie posten Katzenbilder auf Instagram. Und sie üben schießen.“ Das sagte eine Freundin, die beruflich enge Kontakte in die Ukraine hat, zwei Wochen vor dem russischen Überfall auf das Land.

Die Bedrohung war da schon seit Monaten offensichtlich und zugleich merkwürdig ungreifbar. Etwas würde passieren, aber was? Die US-Regierung warnte immer wieder, ein Angriff auf die gesamte Ukraine stehe unmittelbar bevor. Wusste sie wirklich etwas oder war das ein verantwortungsloses Vabanquespiel?

Frieden schaffen ohne Waffen?

Der Gedanke, dass sich in der Ukraine nun ganz normale Menschen im Umgang mit Waffen üben, berührte mich unangenehm. Ich bin ein deutsches Nachkriegskind und habe Anfang der Achtziger den Wehrdienst verweigert. Waffen sind dazu da, Menschen zu töten. Ich kann mir bis heute nicht vorstellen, das zu tun. Aber ich musste es mir in meinem Leben auch nie wirklich vorstellen. Ich war gegen die Bundeswehr. Ich war gegen die NATO und allemal gegen Aufrüstung. Dass ich in einem geteilten Land lebte, und zwar in der Hälfte, in der ich gegen die Aufrüstung der eigenen Seite auf die Straße gehen konnte, das war für mich einfach eine Gegebenheit. Niemand würde mein Land überfallen – und selbst wenn, es würde irgendwie schon verteidigt werden, auch ohne mich.

Eine Woche nach dem Gespräch mit unserer Freundin stand ich zusammen mit ein paar hundert Leuten am Brandenburger Tor, um Solidarität mit der Ukraine zu fordern. Mein Bekannter Lew, der mit seiner Familie aus Moskau nach Berlin emigriert ist, bestand darauf, dass Deutschland auch Waffen liefern müsse. Ich weiß nicht, sagte ich, es gibt doch auch andere Maßnahmen. Es müssen doch nicht alle das Gleiche tun, und gerade Deutschland… Weiter kam ich nicht. Genau das, fiel Lew mir erregt ins Wort, genau diese noble Haltung, sich nicht die Hände schmutzig machen zu wollen – das werde dazu beitragen, dass jetzt Ähnliches geschieht wie 1938 mit Hitlers Überfall auf die Tschechoslowakei.

Flucht oder Kampf

Fünf Tage später fiel Putins Armee über die Ukraine her. Eine Freundin war gerade in Kyjiw. Ihr Vater war zwei Tage vor dem Angriff gestorben. Jetzt musste sie zusehen, dass sie ihre 85jährige Mutter so schnell wie möglich aus der Stadt und aus dem Land bringen konnte. Die Mutter war 1941 als kleines jüdisches Mädchen vor den Deutschen nach Russland geflohen und hatte so überlebt. Als alte Frau floh sie nun vor den Russen nach Deutschland.

Fliehen, um am Leben zu bleiben. Ausharren und hoffen zu überleben. Oder kämpfen und sein Leben aufs Spiel setzen. Andere Optionen gibt es nicht für die Menschen in einem überfallenen Land.

Auch viele russische Freunde haben über Nacht ihre Heimat verlassen. Sie wurden nicht beschossen und bombardiert. Aber sie erlebten schon seit langem, dass die wenigen verbliebenen Freiräume nach und nach geschlossen wurden. „Es gibt keine Luft“, hieß es immer öfter. Jetzt ging alles rasend schnell. Plötzlich war es verboten, von „Krieg“ statt von „militärischer Spezialoperation“ zu sprechen. Die Propagandamaschine lief auf Hochtouren. Dann gab es Gerüchte, bald werde das Kriegsrecht verhängt und niemand komme mehr aus dem Land. Tausende packten von einem Tag auf den anderen die Koffer. Andere bleiben, versuchen etwas zu tun und wissen nicht, was sie erwartet.

Eine lebenswerte Gesellschaft

Für uns ist es selbstverständlich, dass wir uns öffentlich äußern und unsere Gesellschaft mitgestalten können, auch wenn das nicht immer so leicht geht, wie es sich sagt. Es gibt Machtstrukturen, unterschiedliche Vorstellungen, manche Stimmen dringen nicht durch, andere finden sofort Gehör. Aber wir werden weder getötet noch eingesperrt, wenn wir für unsere Überzeugungen eintreten und so leben, wie es uns entspricht. Für viele, die hier leben, war das immer schon so; wir mussten nichts dafür tun und nehmen es kaum noch wahr. „Wir leben in einer Diktatur!“ rief letztes Jahr eine Kollegin bei einem Übersetzerstammtisch empört, weil sie mit den Coronamaßnahmen nicht einverstanden war. Wer so redet, hat den Unterschied nicht begriffen.

„Wir hatten ein normales Leben. Wir konnten sagen, was wir wollten.“ Das habe ich in den letzten Tagen mehrfach von ukrainischen Flüchtlingen gehört. Dass es in ihrem Land Probleme gibt, ist ihnen völlig klar, und sie können sich genauso darüber ereifern wie wir. Selenskyjs Beliebtheit hatte vor dem Überfall einen Tiefstand erreicht. Aber jetzt steht für diese Menschen das auf dem Spiel, was sich für uns von selbst versteht: eine Gesellschaft, die ihnen nicht die Luft abschnürt, sondern Raum lässt, sich einzubringen und ihre Interessen öffentlich zu vertreten. Sie wussten von Anfang an, dass niemand anders diese Gesellschaft für sie verteidigen wird. Sie hatten nur die Wahl, aufzugeben oder einen scheinbar aussichtslosen Kampf aufzunehmen. Sie haben sich entschieden, ohne uns erst um Rat zu fragen.

Selenskyjs Weigerung, sich in die USA ausfliegen zu lassen, hat nicht nur im eigenen Land die Kräfte mobilisiert, sondern auch dazu geführt, dass die westlichen Länder ihre Unterstützung erheblich ausgeweitet haben. Das ist gut so, denn wer vor Gewalt und Schrecken zurückweicht, sorgt dafür, dass sich Verhältnisse ausbreiten, in denen die Angst regiert. Pazifismus wird widersinnig, wo er demjenigen den Weg ebnet, der seine Waffen am skrupellosesten einsetzt.

Energie-Embargo jetzt

Drei Wochen nach dem russischen Überfall sieht die Lage ganz anders aus, als es anfangs die meisten erwartet hätten: Der Angriff auf die Ukraine ist für Putin zum Desaster geworden. Die russische Invasion kommt allenfalls schleppend und unter großen Verlusten voran. Die ukrainische Regierung ist im Amt und in einer weit besseren Position, als es anfangs möglich schien.

Alles was verantwortbar getan werden kann, um den Angreifer zurückzudrängen, muss getan werden. Die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk hat bei einer Diskussion im Literaturhaus Stuttgart zu Recht darauf hingewiesen, dass über die Einrichtung von Flugverbotszonen nicht Schriftsteller und öffentliche Intellektuelle entscheiden sollten, sondern militärische und strategische Experten: „Der dritte Weltkrieg wird die Ukraine auch nicht retten.“

Das ist ein guter Grund, nicht sofort auf alles einzugehen, was gefordert wird. Unsere eigene Befindlichkeit dagegen ist kein guter Grund. Wenn ein Embargo von russischem Gas und Öl dazu beitragen kann, die Finanzierung dieses Angriffskriegs früher zu stoppen, dann ist dieses Embargo nötig – und zwar jetzt und nicht irgendwann später. Wir täuschen uns, wenn wir uns einreden, wir seien nur Zuschauer. Wir spielen mit in diesem Stück. Es wird erst enden, wenn dem, der das alles ins Werk gesetzt hat, die Bühne entzogen worden ist.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Christine ten Winkel / photocase.de

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Von Anselm Bühling

Übersetzer und Redakteur von tell, lebt in Berlin.

2 Kommentare

  1. Sehr gut, lieber Anselm! Ich bin ganz deiner Meinung! Ich fürchte, dass wir den Krieg nicht nur an unseren Bildschirmen anschauen, sondern schon mitten im Krieg sind. Das bisher Unvollstellbare wird nun Teil unserer Erfahrungswirklichkeit.

    Antworten

    1. Anselm Bühling 21. März 2022 um 20:19

      Ja. Noch betrifft uns das sehr am Rand, die schlimmen Erfahrungen machen andere. Aber es ist ein Fehler, sich weiter einreden zu wollen, das hätte mit uns nichts zu tun.

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