tell ist ein „Magazin für Literatur und Zeitgenossenschaft“. Als Zeitgenossen dürfen wir nicht schweigen, wenn die Zeit aus den Fugen gerät.
In der vierten Woche von Putins Krieg gegen die Ukraine und die ganze Welt bringen wir persönliche Beiträge zum Krieg.
- 21. März 2022: Wir sind keine Zuschauer (Anselm Bühling)
- 24. März 2022: Krieg oder kein Krieg? (Hartmut Finkeldey)
- 25. März 2022: Wird Schönheit die Welt retten? (Agnese Franceschini)
- 26. März 2022: Angriff auf den Sinn (Sieglinde Geisel)
Der Vergleich Hitler-Putin ist in aller Munde. Er trifft – und trifft in manchen Punkten auch nicht, wie das bei Vergleichen komplexer historischer Situationen eben so ist. Die gescheiterte Appeasement-Politik ist sicherlich ein Punkt, wo der Vergleich zutrifft, ebenso der militärische Überfall und seine kruden völkischen Begründungen. Nicht zu passen scheint hingegen die militärische Reaktion der Ukraine. Doch der entscheidende Unterschied zwischen heute und 1939 ist die Bedrohungslage. Mit der A-Bombe im Hintergrund werden die Churchill-Träume mancher Hobbystrategen auf Facebook Makulatur.
Ignoranz gegenüber Putin
Das Wichtigste an dem Vergleich zwischen Putin und Hitler ist jedoch etwas anderes: Der Umstand, dass dieser Vergleich nicht mehr verboten ist. Wurden vormalige Vergleiche noch als unsensibel und nicht selten als unpassend abgewunken, hört man davon in der aktuellen Situation nichts mehr.
Wann war für westliche Nachrichtenkonsumenten und Social-Media-Besserwisser erkennbar, dass ein solcher Vergleich legitim ist? Erst am Morgen des 24. Februar 2022? Sind wirklich alle im Westen an diesem 24. Februar 2022 „in einer anderen Welt aufgewacht“? Daraus ergäbe sich der Vorwurf der jahrzehntelangen Ignoranz gegenüber Putin. Ein Vorwurf, für den einiges spricht.
Wie konnte es geschehen, dass wir die Absichten Putins so lange ignoriert haben? Vielleicht waren wir abgelenkt von Themen, die man ebensowenig ignorieren durfte. Genannt seien der Bürgerkrieg in Syrien mit nachfolgender Flüchtlingskrise 2015/16, die Klimakrise, das Hochkommen neurechter Populisten und natürlich die Pandemie. Diese Themen verbrannten Aufmerksamkeit, also jenen Stoff, der als einziger in unserer Wohlstandswelt Mangelware ist.
Wenn man sich diese Themen allerdings genauer anschaut, merkt man irgendwann, dass sie netzartig zusammenhängen, und zwar in einem Netz, das in allen Aspekten starke Drähte nach Moskau spannt.
Putins Kampf gegen den Westen
Putin nutzte die Energiekrise und die politische Naivität Westeuropas, namentlich Deutschlands, aus und profitiert nun von unserer Abhängigkeit. Er unterstützte alle neurechten Demagogen im Westen, sei es, wie im Fall Le Pen, direkt mit Wahlkampfunterstützung, sei es, wie bei Trump, in Form von Wahlkampfmanipulaton. Putin startete (oder ließ starten) eine Desinformationskampagne über Corona. Zudem griff er direkt in den syrischen Bürgerkrieg ein, bombardierte dort Krankenhäuser und Wohngebiete und forcierte damit noch einmal die Flüchtlingskrise. Zuletzt erpressten Putin und Lukaschenko den Westen mit Flüchtlingen an der polnisch-weissrussischen Grenze. Und ganz abgesehen davon hatte Putin bereits in Georgien und in Tschetschenien „territoriale Politik“ in Form von Raubzügen betrieben.
All das hat einen ideologischen Überbau: Putins Kampf gegen den Westen und sein Versuch, die Niederlage der Sowjetunion zu revidieren. Schienen diese Zusammenhänge, die nun ein rundes Bild ergeben, vormals vielen zu fantastisch? Ich denke schon. Wenn man auf den Tatbestand der Wahlmanipulation durch Putin 2016 im amerikanischen Präsidentenwahlkampf hinwies, wurde man in den sozialen Medien durchaus schon einmal als Verschwörungstheoretiker geframed.
Mangelnde Vorstellungskraft
Das ist vielleicht die unheimlichste Gemeinsamkeit zwischen Putin und Hitler: Die Motive ihrer Politik sind dermaßen ins Groteske verzogen, dass man als vernünftiger Mensch zunächst geneigt ist, sie nicht ernst, ja sie noch nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen. Und als man merkte, wie ernst die Sache wurde, war es zu spät für eine halbwegs glimpfliche Lösung. Was zunächst beinahe wie eine Verschwörungstheorie wirkte, entpuppte sich als der einzige realistische Blick.
Osteuropäische Intellektuelle wie Ivan Krastev hatten das schon seit Jahren gesehen. Sie erlebten ein ähnliches Phänomen wie die Emigranten aus Deutschland nach 1933. Zunächst wollte niemand ihren vermeintlichen Horrorszenarien Glauben schenken, dann stellten sich diese als glatte Verharmlosung heraus.
Was folgt daraus? Wie bekommt man die Problematik der falschen Wahrnehmung in den Griff?
Waren wir zu aufgeklärt, um das Böse zu erkennen? Konnten wir uns das Böse einfach nicht mehr vorstellen? Oder wenn doch, dann nur ironisch gebrochen und milde belächelt?
Die Wiederentdeckung des Bösen
Putin ist sicherlich vieles, aber Ironie ist bei ihm nicht im Spiel. Das Böse ist vielleicht nachgerade das Fehlen jeglicher Ironie, eben weil es so eindeutig ist.
Nur wäre dann zu fragen, ob eine durchironisierte Gesellschaft noch in der Lage ist, das Böse zu erkennen. „Irgendwo muß doch noch ein Haken sein“, denken wir, „irgendetwas kann doch hier nicht stimmen.“ So dekonstruieren wir uns das Böse und erkennen es nicht mehr.
Diktatoren wie Putin oder Hitler (oder Stalin) kommt man nicht mit ironischen Wendungen bei. Man muss immer die schlimmstmögliche Wendung annehmen. Sie sind klassische Bösewichte, wie man sie sonst nur auf der Theaterbühne sieht, beispielsweise in Shakespeares „Richard III“. Als Churchill 1945 der Welt den Tod von Adolf Hitler mitteilte, zitierte er Shakespeare: „The bloody dog is dead!“
Mehr war nicht zu sagen. Schon Thomas Mann fand ja für sich heraus, dass seine Zeit „das Böse wiederentdeckt“ hat. Das gilt nun auch für uns.
“Ob wir noch das Böse erkennen können”? Ich weiß nicht. Putins Zielfixierung wurde sicherlich unterschätzt. Hartnäckige Menschen werden oft unterschätzt, weil die meisten diese Hartnäckigkeit nicht kennen. Der Mensch, wie er so lebt, ist unstet, selten eine(r), der 20 Jahre lang ein Ziel verfolgt, ein Detail erforscht, eine Ursache sucht.
Die mythische Entität des Bösen in die politische Debatte zu werfen, finde ich aber zu einfach. Erklärt auch nichts. Die Populärkultur macht genug Antiaufklärung: Die simpelste Form des Antagonisten ist das reine, maldororhafte Böse.
Die Justiz ist heute tiefgründiger. Die haben den Mythos des Bösen überwunden (Europa). In BILD, Gaming, Netflix usw. spukt das Ding noch herum. Das hilft aber nicht dem Guten, sondern den “Schurken”: der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, dem metzeln lassen, dem gewaltsprachlichen Storytelling, auch den Q-Anon Erzählungen, die von Fantasy-Dramaturgien inspiriert sind. Und natürlich den Verschwörungstheorien, die alles mit der These erklären, dass es in der Welt unvermischt böse Subjekte gebe, “Teufel in Menschengestalt”. Vielleicht kann man die These wagen: Rechts ist, wo der Mythos des Bösen lebt? Er hat Herkunftsbeziehungen in Alpträumen, die Alpträume in Ängsten, die Ängste ankern tief in der vorzivilisatorischen Menschheitsgeschichte? Jedenfalls sind die grundlos bösen Wesen in allen faschistischen Ideologien der zentrale Kniff.
Auch außerhalb der Justiz gibt es inzwischen vernünftige Gegenpositionen. Rutger Bregmans “Im Grunde gut” scheint im dt.-sprachigen Raum sorgfältig nicht rezipiert worden zu sein. Das sollte man aber einbeziehen, wenn man über das Böse als politische Kraft diskutieren möchte. Für deutsche Intellektuelle war Bregman vermutlich nicht schwierig genug und vermutlich dem heimlichen Glauben ans Böse zu entgegengesetzt. Ich finde Bregman nicht völlig überzeugend, andererseits ist der zentrale Punkt nicht neu. Er rekurriert auf die viele Forschung zum Menschen als kollaborationsbedürftigem Wesen. Sogar Krieg nutzt die Orientierung auf das Gemeinsame (s. P. Turchin “Ultrasociality”, interessanterweise in viele Sprache übersetzt, nicht auf DE).
Natürlich gibt es gewaltgestörte Personen. Staatsspitzen gehören nicht dazu. Sie töten per Befehlskette, maximal distanziert. Aber alle funktionieren widersprüchlich (die Grünen kriegen das gerade um die Ohren geknallt aus der idealistischen Ecke). Und dies ist dann der Punkt: Je mehr sie “status concerned” sind (Männer!), desto eher geraten sie in die Logik der bösen Tat (ohne “Veränderungen an der Wahrheit” kommt keiner durch). Dass Putin hochgradig ”status-concerned” ist, ähnlich wie Erdogan, weiß man. Leute, die ihn kennen, berichten von seiner Neigung, anderen Demut beizubringen bzw. Ereignisse als “demütigend”, also als Herabsetzung des Status, zu empfinden.
Mich lässt Putin an Kohlhaas denken: Jemand, der eine tief empfundene Ungerechtigkeit wieder geraderücken will, “no matter what it takes”. Fest den Tunnelblick auf ein historisch obsoletes Ziel gerichtet: Wiederherstellung des verflossenen Weltmachtgefühls. Eventuell strebte er nur nach oben, weil ihm alle oben zu lasch waren beim Vertreten der russischen Interessen?
Böse Taten werden mit der Zeit immer böser: “Auf dünnem Eis muss man schnell weiterlaufen”. Überall zu beobachten. Ohne Vernunft ist Eskalation die Folge. Wer “ungute” Mittel einsetzt, muss verschweigen, beschönigen, verdecken. Erst wird ein Artikel entfernt, am Ende ein Journalist getötet. Eine Zeitung verboten, dann alle Zeitungen, TV, Internet, Telefone abgehört etc. Dieses Vorgehen bedarf selbst wieder der Verdeckung oder “Legitimierung”, also der Lüge. Das erzeugt Gegner. Die muss man kaputt machen, vertreiben, inhaftieren, töten. Etc etc. Hat man eine “status over-concerned person” als Schuldirektor, Abteilungsleiter, an der Vereinsspitze oder eben als Regierungschef, kann man der Eskalation ins Böse zugucken. Trump auch ein Beispiel dafür. Viele Krimis leben von der Zwangsläufigkeit der Verschlimmerung.
Man könnte sagen: Putin ist nicht böse an sich, sitzt aber tief in der Falle der bösen Tat, entstanden aus abstruser Zielfixierung. Mit dem unendlich neurotischeren Hitler vergleichen? Bringt nichts. Aber: So kann’s enden. Du startest mit etwas, was du und ein paar andere für eine gute Absicht hielten. Und wirst zur Fratze des Bösen schlechthin.
Ich sehe das Antiaufklärerische in meinem Text nicht. Er versucht vielmehr zu erklären, warum eine aufgeklärte oder – vielleicht besser – eine „aufgeklärte“ Welt das Böse in der Politik mehrheitlich nicht mehr erkennen konnte. Die Leugnung des Bösen bzw. das Erklären des Bösen als irreal weil rein mythologisch scheint mir dabei ein Teil des Problems zu sein
Auch mit Ihrer Wertung Putins als Kohlhaas bin ich nicht einverstanden. Putins ursprünglich gerechte Empörung wäre dann die Empörung über das Ende der Sowjetunion. Nun, deren Ende empfinde ich nicht als ungerecht. Sondern als verdient. Dass Putin aus genau diesem System kommt, sollte vielmehr allen zu denken geben.
Dass böse Taten sich aufschaukeln und immer furchtbarer werden, ist richtig und wird in meinem Text auch nicht bestritten. Dieses Dynamisieren des Bösen findet man auch im Nationalsozialismus wieder.
Eine Frage kam mir beim Lesen: Müssen Sie nicht lachen über Sein oder Nichtsein von Lubitsch und über Der große Diktator von Chaplin? Es wäre bekloppt zu behaupten, eine Witz-Offensive könne die russische Invasion der Ukraine zurückwerfen. Doch wenn diese Invasion die Ironie gegen Diktatoren füsiliert, dann wird mir was fehlen.
Um zur Ironie gegen Diktatoren zu gelangen, muss man die Diktatoren und deren nicht-ironisch Böses ja erst einmal erkennen. Die These lautet: Dazu ist eine grundsätzlich ironische Grundhaltung möglicherweise nicht mehr in der Lage. Denn Diktatoren haben keine zweite Ebene nach der Macht. Sie bestehen nur aus Macht und sind folglich ohne Macht nicht mehr existent.
vielen Dank für die Antwort, ich kann mit der Antwort etwas anfangen. Ist es also unreif, Diktatur albern zu präsentieren? Vielleicht ja, vielleicht habe ich Sein oder Nichtsein und Der große Diktator als Kind angefangen, lustig zu finden, bleibe bis heute bei einem kindlichen Unverständnis. Für mich sind die Bücher von Paul Goma über Diktatur bisher am nächsten am Entsetzen über Ohnmacht. Noch etwas zu Ironie: Ich lese gerade Überfordert von Bettina Stangneth – hier geht es um die Antwort der Deutschen darauf, dass die Siegermächte ihnen vor Augen führten, dass mit dem Ende der Diktatur ihre Taten nicht mehr länger Dienst an der Nation gewesen waren, sondern Morde, von hnen begangen. Stangneth setzt Ironie ein, nicht gegenüber der Diktatur, eher gegenüber uns heute, den Kindern von DiktaturbewohnerInnen.
Aufgrund eines Krankenhausaufenthaltes komme ich erst heute zur Antwort. Sie fällt kurz aus. Alle genannten Beispiele zeigen Ironisierungen nach der Etablierung einer Diktatur. Mich interessiert das Vorfeld. Kann Ironie helfen, das Werden und Etablieren einer Diktatur zu erkennen oder gar zu verhindern? Eben das sehe ich nicht. Weil die Ironie sich nicht nur über die Radikalen erhebt, sonderen auch über deren Gegner. Die beispielsweise als “Gutmenschen” durch den Kakao der Ironie gezogen werden. Ästhetisch ja durchaus nicht ohne Berechtigung. Eifernde bleiben Eifernde, auch wenn sie gegen “das Böse” eifern, sind selten ein eloquenter Anblick. Auch wenn sie moralisch recht behalten haben.
Das aber führt mich zur Frage ob die ja immer mit einem Überlegenheitsanspruch einhergehende und zugleich äquidistanzierte, ironische Attitüde hier nicht versagt.