Eine schlichte Exegese der 1100 Seiten umfassenden Heptalogie von Jon Fosse würde vielleicht so ausfallen: ein Werk, in dem die Mystik Meister Eckharts und eine Nahtoderfahrung literarische Gestalt annehmen. Damit wäre der Text „auf den Punkt“ und zugleich auf Distanz gebracht. Denn sich diesem groß angelegten Werk zu nähern, bedarf eines feinen und ebenso lustvollen Hineinhorchens in den Text, auf den sich einzulassen womöglich am Anfang mit Hürden verbunden sein mag. Nun ist endlich auch der dritte Band Ein neuer Name (mit den Teilen VI und VII) auf Deutsch erschienen, so dass sich, zusammen mit den Bänden Der andere Name und Ich ist ein anderer, ein Gesamteindruck einstellen kann. 

Im Bewusstseinsstrom des Protagonisten

Fosse ist berühmt für seinen Sprachfluss, der von keinem Punkt je unterbrochen wird. Einzig zum Atemholen eingefügt wird das Wörtchen „und“, das den Text wie einen sich hebenden und senkenden Teppich bewegt. Das und kann dazu dienen, neu anzusetzen und der Geschichte eine weitere Wendung zu geben, zuweilen wird damit auch zu einer Wiederholung von bereits Gesagtem übergeleitet, oder das und steht für ein Innehalten. Das alles ist mit Bedacht komponiert und von Hinrich Schmidt-Henkel kongenial übersetzt, doch die erwähnte Hürde könnte in einer weiteren Spielart dieses und liegen. Es ist das und der Aufzählung, der schlichten Addition, die in der Häufung naiv wirken mag, so wie Kinder sprechen, wenn sie etwas erzählen, was ihnen widerfahren ist:

[…] und dann hat er gesagt, wo ich entlangfahren soll, und dann sind wir nach Bjørgvin reingefahren zur Galleri Beyer und dann haben wir dort kehrtgemacht und dann sind wir aus Bjørgvin wieder rausgefahren und in Skutevika haben wir kehrtgemacht und sind wieder zur Galleri Beyer gefahren und dann sind wir wieder aus Bjørgvin rausgefahren, […] mehrere Male haben wir das so gemacht und am Ende hat Beyer gesagt, jetzt dürfte ich mich an den Weg erinnern, das meinte ich auch, und so, denke ich, habe ich gelernt, zur Galleri Beyer und zurück zu fahren […]  

Lässt sich man sich von diesem Duktus nicht irritieren, öffnen sich dem Leser überraschende Dimensionen. Der zunächst naiv wirkende Tonfall wird immer weniger als defizitär wahrgenommen, sondern als ein höchst wirklichkeitsgetreues Schreiben. Wenn man nämlich genauer aufmerkt, dann dienen die vielen und nicht der einfachen Addition des Geschehenden, sondern sie markieren ein Hin- und Herpendeln im inneren Bewusstseinsstrom des Protagonisten, der häufig unschlüssig ist, zweifelt, hadert, vor- und zurückrudert, manches vergisst, sich nicht entscheiden kann, und der gleichzeitig – das ist das Frappierende – von all dem nicht beunruhigt ist, sondern sich dabei mit einer eigenartigen Ruhe selbst zuschaut:

[…] denn natürlich besitzt auch die Kunst ihre Wahrheit, denke ich, doch jetzt sollte ich nicht hier herumsitzen und mich in Gedanken verlieren, in unklaren Gedanken, denke ich, jetzt muss ich weiter nach Norden fahren und zusehen, dass ich wieder nach Hause komme in mein Haus in Dylgja, zu meinem guten alten Haus, jetzt sollte ich nicht in meinem Auto sitzen und so langsam anfangen zu frieren, jetzt muss ich den Motor anlassen und dann muss ich nach Dylgja fahren, denn ich fahre gern Auto, das schenkt mir eine Ruhe, ich gerate in eine Dösigkeit, es bereitet mir regelrecht Freude, und der Gedanke, nach Hause zu kommen, bereitet mir auch Freude, denke ich, auch wenn ich jetzt immer in ein leeres Haus komme, seit Ales gestorben ist, nein das ist nicht wahr, obwohl es lange her ist, dass Ales gestorben ist, so ist sie doch noch dort im Haus, denke ich und ich denke, ich sollte mir einen Hund anschaffen, ich habe Hunde immer gemocht, Katzen auch, aber ich möchte lieber einen Hund haben, [… ] und das habe ich so oft gedacht, aber es ist nie so weit gekommen, dass ich mir einen Hund angeschafft hätte, ich weiß nicht ganz warum […]  

Ein wesentlicher Teil des Handlungsablaufs besteht denn auch in der Entfaltung dieses Bewusstseinsstroms. Natürlich ließen sich damit allein nicht 1100 Seiten füllen, wenn der Leser mit Genuss weiterlesen soll. Ich sage es vorweg: der Genuss, sich auf Fosses Sprache einzulassen, hat – nach Überwindung der ersten Hürde – nicht einen Augenblick nachgelassen.

Spiel mit Identitäten

Worum geht es in dem Werk? Ein älterer, früh verwitweter Maler mit Namen Asle lebt allein an der südwestlichen Küste Norwegens. Wir erfahren von seinen Autofahrten im Schnee, bei denen er in eine angenehme Dösigkeit gerät, oder davon, wie er aus dem Fenster seines Hauses auf den Fjord blickt, wie er im Auto sitzt und auf seinen Galeristen wartet oder darauf, dass ein Hirsch, der die Straße blockiert, weiterzieht.

Das langsame Fahren, Warten, Dösen wird begleitet von dem Bewusstseinsstrom aus Fragen, Zweifeln, Zaudern und Hadern darüber, was und ob überhaupt etwas zu tun sei. Dabei kommen im Inneren dieses Mannes Bilder hoch: Bilder von ihm selbst als Kind, als Jugendlichem, als jungem Mann, sein Beginn als Maler, seine Heirat mit seiner Frau Ales – und Bilder von dem anderen Asle, der gleich heißt wie der Ich-Erzähler und auch Maler ist, er malt sogar ganz ähnlich. An dessen Haus fährt der Ich-Erzähler Asle vorbei und sieht dabei in sich das Bild aufkommen, wie der andere Asle zittert, ein Delirium tremens, denn er ist schwer alkoholsüchtig – so wie seinerzeit der Ich-Erzähler, bevor er das Trinken aufgab. Es gibt also diesen anderen: Namensvetter, Doppelgänger oder wie man ihn nennen soll. Oder ist es gar ein und dieselbe Person in unterschiedlichen Lebensphasen?

Diese Verdopplung von Personen geschieht auch anderen Figuren in dem Roman. Ist es ein Spiel mit Identitäten? Oder geht es dem Autor darum, die Textgestalt so kunstvoll zu inszenieren, dass den Leser stets die Möglichkeit eines zweiten Textes begleitet, in dem die Geschichte auch ganz anders hätte geschehen oder anders erzählt werden könnte?

Perspektive von oben

Zugleich erscheint die Wirklichkeit in der Wahrnehmung des Ich-Erzählers eigenartig verschwommen oder wie mit einem Weichzeichner hinter einen Vorhang ins Ungreifbare verschoben. Das liegt nur zu einem Teil an den schon erwähnten Pendelbewegungen des Haderns und Zauderns. Vielmehr wird schon mit dem ersten Satz des Werkes die Position benannt, aus der heraus der Protagonist sich selbst erzählt, indem er nämlich nicht nur nach innen horcht, sondern von oben auf sich schaut.

Und ich sehe mich dastehen und das Bild mit den beiden Strichen anschauen […]

So lautet der erste Satz des ersten Bandes, der sich am Beginn jedes weiteren Bandes wiederholt.

Diese Perspektive durchzieht das ganze Werk, so als wenn tatsächlich der Protagonist hinter einem, wenngleich durchsichtigen, Vorhang stünde und dem Ablauf des eigenen Lebens zusähe. Das gilt auch für die Begegnung mit seinem einzigen Freund, dem Nachbarn Asleik, und seinem Galeristen Beyer. Es wirkt zuweilen wie eine ‚extraterrestrische‘ Perspektive, die eine ans Unheimliche grenzende und zugleich besänftigende Atmosphäre aufkommen lässt.

Zwischen Leben und Tod

Jon Fosse ist bekanntlich zum Katholizismus konvertiert und praktiziert ihn auch – so wie Asle, der Maler. Und so, wie jeder der sieben Bände damit beginnt, dass Asle sich vor dem von ihm gemalten Bild dastehen sieht, so endet jeder Band mit einem Gebet, das Asle auf Latein spricht, mit dem Rosenkranz zwischen seinen Fingern. Die Bedeutung der Worte ist dabei nicht das Entscheidende, sondern dass sie den Rhythmus des Ein- und Ausatmens gewahr werden lassen und diesen zugleich befördern, mit der Folge, dass der Ich-Erzähler eine tiefe Stille und Kraft in sich spürt.

Auch dieser explizite Bezug zum Christentum mag zunächst für einen Roman befremdlich erscheinen. Doch zum einen wird im Text jeder dogmatische Zug schon im Ansatz unterlaufen, indem jede Aussage über Gott sogleich wieder zurückgenommen wird zugunsten des Nicht-Wissens. Zum anderen wird immer deutlicher, dass die extraterrestrische Position eine zwischen Leben und Tod sein muss, ähnlich wie in einer Nahtoderfahrung, die der junge Asle (und der Autor Fosse) im Alter von sieben Jahren gemacht hat, nachdem er auf die Scherben einer Flasche gefallen war und sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte.

Vor allem aber kommt man kaum umhin, in manchen Verwendungen des und eine Analogie zum biblischen und zu sehen. Dort steht es häufig als Einleitung zu Textpassagen oder Sätzen, in denen das Unwahrscheinliche, das Unmögliche und Unnennbare sich ereignet. Dieses und brächte demnach eine Addition in vertikaler Hinsicht hervor, nicht horizontal als zeitliche Abfolge des Geschehenden, sondern als Hinzufügung einer jeweils weiteren Dimension im Weltgeschehen, die sich den üblichen Raum-Zeit-Kategorien entzieht, beziehungswese sie übersteigt. Doch zugleich will der Begriff des Vertikalen zu Fosses Werk nicht passen, das gerade auf frappierende Weise von einer Gleichzeitigkeit allen Geschehens geprägt ist, in dem oben und unten, vorher und nachher ununterscheidbar ineinander zu fließen scheinen.

Jenseits von Raum und Zeit

Ein schlichtes Beispiel dafür findet sich zu Beginn des dritten Bandes, wo Asle mit dem Hund Brage im Bett liegt:

[…] und ich lege mich wieder ins Bett und wickle mich gut in die Decke und Brage legt sich dicht neben mich und ich denke, heute Nacht habe ich wenig geschlafen, wirklich nicht viel, und heute ist Mittwoch und es ist wohl noch frühmorgens oder vielleicht ist es immer noch Nacht? denke ich, und es war so kalt in der Stube, dass ich nicht aufstehen mochte, denke ich und streichle Brage über den Rücken und dann schaue ich in die Dunkelheit und ich sehe Asle auf der Schaukel sitzen zu Hause auf dem Hof und er schaukelt nicht, er sitzt nur da und er denkt, was soll er tun? und er schaukelt vorsichtig langsam hin und her und dann kommt die Mutter in den Windfang und sie ist böse und Asle versteht nicht, warum sie so böse ist […]

Es bedarf in jedem Fall eines geduldigen Lesens, denn die Rückblenden, in denen Asle sein eigenes Leben in Fragmenten noch einmal erlebt, unterbrechen immer wieder das Tagesgeschehen. Und umgekehrt hält das Tagesgeschehen die Erzählung über ein früheres Geschehen immer wieder dann an, wenn die Spannung gerade auf dem Höhepunkt ist. Daraus ergibt sich zuweilen der Drang zum raschen Weiterlesen. Dazu kommt, dass in diesen Rückblenden oft von tödlichen Gefahren die Rede ist. Zum Beispiel, wenn der siebenjährige Asle mit seiner Schwester auf der Straße in einer unübersichtlichen Kurve spielt, wo die Autos plötzlich hervorschießen können und schon manche Unfälle passiert sind. Der Leser erwartet das Schlimmste – doch es geschieht nie. Wenn, dann findet die Katastrophe woanders und zu anderer Zeit statt, denn es sterben im Verlaufe des Buches nicht wenige dem Erzähler nahestehende Menschen, sei es an Alkoholvergiftung, sei es indem sie ertrinken, im Haus verbrennen, oder auch an Altersschwäche sterben wie Asles Großmutter.

Sichtbarwerden des Unsichtbaren

Unterbrochen wird der Erzählfluss durch eine weitere Ebene des Geschriebenen, nämlich die Betrachtungen zur Kunst. Darin bündeln sich die Themen Glaube an Gott, Leben und Tod sowie die Darstellung des nicht Darstellbaren oder das Sichtbarwerden des Unsichtbaren. Für den Maler Asle geht es in seiner Kunst um ein einziges Thema: das Leuchten der Dunkelheit.

[…] im Dunkeln passiert etwas mit dem Bild, ja die Farben verschwinden irgendwie auf eine Weise, aber auf eine andere Weise werden sie deutlicher, das leuchtende Dunkel, das ich immer versuche hervorzumalen, wird im Dunkeln sichtbar, ja je dunkler es ist, desto deutlicher wird das, was unsichtbar in einem Bild leuchtet, und viele verschiedene Farben können leuchten, aber vor allem die dunklen, ja vor allem Schwarz, denke ich und ich denke, als ich auf die Kunstschule ging, hat es immer geheißen, man soll auf keinen Fall mit Schwarz malen, denn das sei keine Farbe […], aber wie sollte ich meine Bilder malen, ohne Schwarz zu benutzen? Nein, das begreife ich nicht, denn in der Dunkelheit wohnt Gott, ja Gott ist Dunkelheit, und diese Dunkelheit, Gottes Dunkelheit, ja dieses Nichts, ja das leuchtet, ja aus Gottes Dunkelheit kommt das Licht, das unsichtbare Licht, denke ich, und ich denke, das alles habe ich mir wohl nur ausgedacht […]

Die leuchtende Dunkelheit wird schließlich zur Metapher für die manchmal dünne Schicht zwischen Leben und Tod. Vielleicht konzentriert sich sogar auf 1100 Seiten nichts anderes als dieses „zwischen Leben und Tod“ in einem „einzigen Augenblick“. Das durch keinen Punkt unterbrochene Ineinanderfließen von erzählter Zeit und gegenwärtiger Zeit lässt das große Geheimnis der Gleichzeitigkeit allen Geschehens in der Welt, wie es in der Tora steht oder wie es Meister Eckhart ausgeführt hat, sinnlich erfahrbar werden.

Die Aufhebung der Zeitlichkeit hat dabei nichts mit Entrückung und Weltabgewandtheit zu tun, sondern kann zu einer ungeheuren Verdichtung in der Wahrnehmung des Alltagsgeschehens beitragen: so wenn zum Beispiel die Zubereitung des Essens mit vergangenen Ereignissen sowie der Präsenz anderer Personen, lebender und schon gestorbener, in einen einzigen gegenwärtigen Augenblick zusammenfällt.

Zur Gleichzeitigkeit allen Geschehens gehört natürlich auch eine schon heute gegenwärtige Zukunft. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, sie bei Fosse auf die Gegenwart eines „Jenseits“ nach dem Tod zu reduzieren. Eher wächst die Zukunft in die Gegenwart hinein. Dies zeigt sich bei der Lektüre darin, dass sich ein Gefühl tiefer Verbundenheit des Einzelnen mit jedem Menschen auf der Welt einstellt, auch den noch kommenden.

Bildnachweis:
Beitragsbild: snowscat via Unsplash [Unsplash Lizenz]

Angaben zum Buch

Jon Fosse
Ein neuer Name
Roman
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Rowohlt Verlag 2023 · 304 Seiten · 30 Euro
ISBN: 978-3498021436

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Cover Jon Fosse: "Ein neuer Name"

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Von Frank Hahn

Freier Autor in Berlin und Vorsitzender des Vereins „Spree-Athen e.V.“, der regelmäßig ins Literaturhaus Berlin zu Vorträgen aus den Bereichen Philosophie und Literatur einlädt.

Ein Kommentar

  1. Vielen Dank für Ihren wunderbaren Kommentar zu Jon Fosse👌
    Ich lese schon seit Jahren dessen Werke und habe mich sehr gefreut, dass er mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde!Trotzdem ist seine Leserschaft dünn gesät, nur wenige können sich in seine Texte reinfinden. Ich kann in seine Bücher wie in eine Meditation eintauchen, Sie haben in Ihrem Beitrag das Leseerlebnis der Trilogie ähnlich subtil dargestellt.
    Könnten Sie vielleicht einmal etwas über Jon Kalman Stefansson schreiben, da habe ich alles gelesen, (zuletzt : Dein Fortsein ist Finsternis), ein ebenso dimensionales Erlebnis wie bei Fosse, allerdings etwas kräftigerer Art!

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