„Öffnen Sie das Buch auf Seite 99, und die Qualität des Ganzen wird sich Ihnen offenbaren.“ (Ford Madox Ford)
Wir lesen mit der Lupe und schauen, was der Text auf dieser Zufallsseite leistet.
(Warnung: Der Page-99-Test ersetzt keine Rezension.)

Die Seite 99 von Jon Fosses Roman Ein neuer Name ist so, wie man sich Jon Fosses Schreiben vorstellt: Zumindest den Satzzeichen nach besteht sie einem einzigen Satz, und auch die Textgestaltung erlaubt keine Pausen in Form von Absätzen.

hier in Dylgja habe ich mein Leben verbracht und mein Leben ist das Leben, das ich zusammen mit Ales geführt habe, die Zeit davor und danach zählt irgendwie nicht, das ist irgendwie nicht mein Leben, denke ich und ich schlage noch mal das Kreuz, wie oft tue ich das jeden Tag? nein keine Ahnung, aber jedes Mal, wenn mich ein Schmerz erfasst, ja dann schlage ich das Kreuz und ich denke, jetzt, ohne dass ich ganz begreife warum, […]

Der Syntax nach allerdings besteht diese Seite keineswegs aus einem einzigen Satz, sondern aus 21 Hauptsätzen, verteilt auf 28 Zeilen.

(Zur Erinnerung: Ein Hauptsatz ist laut der grammatikalischen Definition ein Satz, der für sich allein stehen kann und von keinem anderen Satz abhängig ist. Er besteht im Minimum er aus einem Subjekt und einem Prädikat, z. B.: „Ich denke.“)

In den ersten acht Zeilen findet sich in jeder Zeile ein neuer, kurzer Hauptsatz. Ich markiere die Satzanfänge fett:

hier in Dylgja habe ich mein Leben verbracht und mein Leben ist das Leben, das ich zusammen mit Ales geführt habe, die Zeit davor und danach zählt irgendwie nicht, das ist irgendwie nicht mein Leben, denke ich und ich schlage noch mal das Kreuz, wie oft tue ich das jeden Tag? nein keine Ahnung, aber jedes Mal, wenn mich ein Schmerz erfasst, ja dann schlage ich das Kreuz und ich denke, jetzt, ohne dass ich ganz begreife warum, […]

Die Satzanfänge fallen beim Lesen nicht auf, weil sie in den Zeilen versteckt sind. Dazu kommt eine Entscheidung im Hinblick auf die Interpunktion. Früher musste man vor „und“ ein Komma setzen, wenn danach ein vollständiger Hauptsatz folgt. Heute ist dieses Komma fakultativ, und hier wird es meistens weggelassen. Der Verzicht auf das Komma vor „und“ lässt die Satzanfänge noch stärker im Lesefluss versinken.

Ein Experiment: Was geschieht, wenn ich genau das tue, was dieser Text verweigert? Ich beginne mit jedem Hauptsatz eine neue Zeile, ziehe also lauter Absätze ein:

hier in Dylgja habe ich mein Leben verbracht
und mein Leben ist das Leben, das ich zusammen mit Ales geführt habe,
die Zeit davor und danach zählt irgendwie nicht,
das ist irgendwie nicht mein Leben, denke ich
und ich schlage noch mal das Kreuz,
wie oft tue ich das jeden Tag? nein keine Ahnung,
aber jedes Mal, wenn mich ein Schmerz erfasst,
ja dann schlage ich das Kreuz
und ich denke, jetzt, ohne dass ich ganz begreife warum

Auf einmal wirkt der Text alltäglich. Der Zauber ist weg, der Lesefluss trockengelegt. Ich habe das Gefühl von Ketzerei, als würde ich den Text entheiligen. (Zur besonderen Bedeutung von Jon Fosses „und“ empfehle ich Frank Hahns Rezension, in der er einen Bezug zum biblischen „und“ herstellt.)

***

In der Mitte der Seite verändert sich der Duktus, es folgt eine längere Passage mit Nebensätzen. Auch hier lasse ich die Sätze jeweils auf einer neuen Zeile beginnen:

und ich denke, jetzt, ohne dass ich ganz begreife warum, habe ich alle Lust zum Malen verloren, als ob ich alles fertig gemalt hätte, was ich malen musste,

jetzt nachdem Asle ins Krankenhaus gekommen ist und ich ihn nicht besuchen darf, habe ich keine Lust mehr zum Malen

und das hässliche Bild, das mit den beiden einander kreuzenden Linien, das steht gottlob nicht mehr auf der Staffelei, denn ich habe es weggestellt,

Auf den letzten neun Zeilen der Seite kehrt mit sieben kurzen Hauptsätzen der Anfangsduktus wieder.

***

Mit diesem syntaktischen Verfahren gelingt Jon Fosse und seinem Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel die Quadratur des Kreises: Aus unabhängigen Satzelementen erschaffen die beiden eine Melodie, in der das Verbindende stärker wirkt als das Trennende. Damit entsteht ein Sprachfluss, dessen Strömung so stark ist, dass man kaum mehr aussteigen kann.

Wir lesen keine Erzählung, sondern einen inneren Monolog, der geradezu obsessiv als solcher markiert wird. Fünf Mal heißt es auf dieser Seite „ich denke“ (wieder fett markiert):

das ist irgendwie nicht mein Leben, denke ich

und ich denke, jetzt, ohne dass ich ganz begreife warum, habe ich alle Lust zum Malen verloren

ich habe es zu dem Stapel mit den unfertigen Bildern gestellt, mit der Rückseite nach vorn, denke ich und ich denke, inzwischen ist wahrscheinlich morgen, denke ich

Der träumerische Sound dieser Prosa hat womöglich auch damit zu tun, dass wir uns so nachdrücklich im Gehirn des Ich-Erzählers befinden. Am Ende der Seite wechselt diese denkende Instanz die Person: Auf einmal heißt es nicht mehr „ich denke“, sondern „er denkt“. Wir sind im Bewusstsein von Asle (der den gleichen Namen trägt wie der Ich-Erzähler):

und ich schließe die Augen und ich sehe Asle im Bus nach Bjørgvin sitzen und er denkt, dass er alles, was ihm gehört, in zwei Kartons gepackt hat

und alles hat in den Gepäckraum des Busses nach Bjørgvin gepasst und Asle denkt, als er […]

Der Sog des Lesens trägt mich auf seltsame Weise über den Inhalt hinweg. Ich muss mich zwingen zu lesen, was eigentlich da steht. Dabei geht es auf dieser Seite durchweg um existenzielle Nöte.

Der Ich-Erzähler trauert um Ales (die Nähe zum Namen Asle dürfte kein Zufall sein):

mein Leben ist das Leben, das ich zusammen mit Ales geführt habe, die Zeit davor und danach zählt irgendwie nicht

Und offensichtlich ist der Ich-Erzähler auch als Künstler am Ende:

und ich denke, jetzt, ohne dass ich ganz begreife warum, habe ich alle Lust zum Malen verloren, als ob ich alles fertig gemalt hätte, was ich malen musste

Der andere Asle wiederum ist im Krankenhaus, er hat seine gesamte Habe in zwei Kartons gepackt, auch er befindet sich offensichtlich in einer Notlage.

Während ich vom Strom dieser Sprache hinweggerissen werde, ist das, was in dieser Sprache gesagt wird, wie Treibgut, es schwimmt neben mir im unablässig strömenden Wasser. Und der Autor tut alles, damit ich aus diesem Fluss nicht mehr herauskomme. Eine kritische Distanz ist mir kaum mehr möglich.

Diese Überwältigungsästhetik hat für mich etwas Gewaltsames, umso mehr, wenn ich daran denke, dass der Roman Der neue Name nur Teil VI und VII von Jon Fosses Heptalogie enthält. Diese umfasst mehr als tausend Seiten.

Und dann denke ich an mein kleines Experiment mit den Zeilenbrüchen. Vielleicht ist der ganze Zauber nur ein Trick?

Hinweis: Eine andere Sicht auf Jon Fosses Stil finden Sie in Frank Hahns Rezension.


Angaben zum Buch

Jon Fosse
Ein neuer Name
Roman
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Rowohlt Verlag 2023 · 304 Seiten · 30 Euro
ISBN: 978-3498021436

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

3 Kommentare

  1. “Heute ist dieses Komma fakultativ, und hier wird es meistens weggelassen.” – Musste lachen, als ich den Satz las. Danke!

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  2. Herwig Finkeldey 4. März 2024 um 6:16

    Es scheint mir noch wichtig, auf den Schlussmonolog der Molly Bloom im „Ulysses“ hinzuweisen. Zumal Jon Fosse ja Joyce ins Norwegische übersetzt hat. Möglicherweise nahm Fosse einen Teil seiner Inspiration hierher.
    Joyce wiederum könnte durch Briefe seiner Frau, Nora Barnacle, angeregt worden sein, die meistens ohne Interpunktion einfach frei weg schrieb.
    Andererseits sagt das nichts über die Lesbarkeit oder die ästhetische Plausibilität aus.

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  3. Interessante Parallele, allerdings verzichtet Jon Fosse nicht auf die Interpunktion als solche, er setzt einfach keinen Punkt am Satzende. Die Kommata scheinen mir sehr bewusst gesetzt.

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