Das Jahr 2024 bringt das hundertjährige Jubiläum von Der Zauberberg, dem Roman, der Thomas Mann endgültig Weltruhm bescherte. Bei mir muss im Fall Thomas Manns allerdings kein Jubiläum einen Leseanlass herstellen. Mann gehört zu den prägenden Leseerlebnissen meiner Jugend, und ein Teil seiner Werke sind für mich unveräußerlich wie die erste Liebe. Seitdem ich Buddenbrooks gelesen habe, bin ich gewissermaßen infiziert, Der Zauberberg machte mich dann endgültig zum Manniac.

So las ich nun während einer längeren Erkrankung zum dritten Mal den Zauberberg. Meine erste Lesung als Jugendlicher hatte sich an einem Vortrag Manns vor Princetoner Studenten aus dem Jahr 1939 entlanggehangelt, der meiner damaligen Ausgabe gewissermaßen als Vorwort vorangestellt war. In diesem Vortrag spricht Mann selbst über den Zauberberg, verwendet dafür aber Arbeiten von Literaturwissenschaftlern. Er führt aus, dass es „ja ein Irrtum“ sei, „zu glauben, der Autor selbst sei der beste Kenner und Kommentator seines eigenen Werkes“. Das gelte vielleicht für die Phase des Entstehens. Dann aber bemächtigten sich andere des Werkes und erinnerten den Autor an das, was er „vergessen oder nie klar gewußt hat“.

Listiger Gegenentwurf

Mitunter bemächtigen sich aber auch andere Schriftsteller eines Werks und nehmen es zum Anlass, ihrerseits literarisch-belletristisch tätig zu werden. Auch sie werfen gewissermaßen en passant einen Blick auf das Anlass gebende Werk, der so vorher „vergessen oder nie klar“ gewesen ist.

Solches tut nun Olga Tokarczuk in ihrem Roman Empusion, einer literarischen Antwort zum hundertjährigen Geburtstag des Originals. Auch in Empusion kommt ein junger Ingenieur vor Beginn des ersten Weltkrieges in einen hoch gelegenen Kurort, in dem Tuberkulosekranke in Form zeitlich aufwändiger Liegekuren behandelt werden.

Auch die Thematik und die Motive korrespondieren mit Thomas Manns Roman. Wobei Olga Tokarczuk eher die zur Reflexion animierende Atmosphäre von Krankheit und Todesnähe übernimmt als Thesen oder Gedanken, um die es in Manns Roman geht. Genau das macht ihren listigen Gegenentwurf so spannend.

Romanheld mit non-binärem Körper

Der Held in Empusion, Mieczysław Wojnicz, zeichnet sich durch ein gesteigertes Schamgefühl gegenüber seinem Körper aus. Er hat angedeutete Brüste und einen spärlichen Bartwuchs. Später bestätigt sich der Verdacht, dass er einen sogenannten non-binären Körper hat. Die Medizin nannte einen solchen Körper damals Hermaphroditismus. Sein Vater jedoch – so erinnert sich Mieczysław – möchte unbedingt aus dem „Hermaphroditen“ einen echten Mann formen.

So lässt der Vater seinen Sohn eine Suppe aus Tierblut essen,

„eine traditionelle polnische Suppe. Ein Narr, wer sie nicht probiert. Und wieviel Kraft sie gibt!“

Im Kind Mieczysław mischen sich nach diesen väterlichen Belehrungen die Tränen mit dem Tierblut, und er erkennt die Lehre, die er zu ziehen hat:

Ein Mann zu sein, heißt, zu lernen, alles zu ignorieren, was Probleme bereitet.

Der Vater fährt wegen der „Verwachsungen“ mit Mieczysław ständig zu Arztterminen.

„Consultationen“ sagte sein Vater zu diesen. Und er glaubte fest daran, dass es eine Arznei geben müsste. Als er nach und nach zu verstehen begann, dass es eine solche nicht gab, formte sich in seinem Kopf die Idee einer Operation.

Wir erinnern uns, dass Mieczysławs Pendant in Der Zauberberg, Hans Castorp, sich in seiner Jugend in einen Jungen verliebt hatte, um dann auf dem Zauberberg durch Clawdia Chauchat (Chauchat = heiße Katze) verzaubert zu werden. Interessanterweise liebt Hans Castorp bei den beiden dieselben äußeren Merkmale, trotz des unterschiedlichen Geschlechts. Eine nicht eindeutige Liebe gewissermaßen, man könnte es auch eine „unmännliche“ Liebe nennen.

Mieczysław jedenfalls gewinnt aus diesen männlichen „Consultationen“ letztlich die Erkenntnis:

Nun, er war, wie er war. Er konnte nichts dafür. Er selbst sah sich als normal an. Einmal hat er versucht, es dem Vater zu sagen, doch er fand nicht die passenden Worte.

Krankheit als Schwäche

Das sind die Voraussetzungen, bevor Mieczysław Wojnicz im schlesischen Görbersdorf zur Therapie seiner Tuberkulose eintrifft. Auch hier ist die Welt männlich dominiert. Schnell macht der behandelnde Arzt dem Patienten klar, dass gegen die Erkrankung nur der männliche Kampf hilft. Dr. Semperweiß erklärt:

„Sie müssen sich nur unterordnen, den Kurprinzipien fügen. Fühlen Sie sich wie bei der Armee!“
Er ging zum Fenster, deutete mit einer Kopfbewegung auf die Patienten, die im Park spazierten.
„Das sind Ihre Kampfgefährten.“  

Die medizinische Welt vor dem ersten Weltkrieg sieht Krankheit als Schwäche an und das Besiegen der Krankheit als einen soldatischen, einen männlichen Akt. Später heißt es über Mieczysław Wojnicz:

Und wenn auch keine Gewehrläufe zu sehen waren und keine verschlagenen Aufklärer durch die Gegend strichen, schien es Wojnicz, als wäre er gegen seinen Willen in einen Krieg geraten. […] Sie rangen mit der Tuberkulose, kämpften gegen das Fieber, stärkten den Körper, […] versuchten, nach dem anarchistischen Regime wieder Herr im eigenen Haus zu werden.

Dieser Beginn seines Aufenthaltes wird durch den Suizid der Ehefrau seines Zimmerwirtes Opitz kontrastiert. Was war dort geschehen? Im Verlauf des Romans wird Mieczysław immer deutlicher, dass Frau Opitz an derselben Männlichkeit zu Grunde gegangen ist, die ihn seit der Kindheit als väterliche Wunschvorstellung quält und die ihm nun als fragwürdiges Therapiekonzept angeboten wird: Krankheit als weibliche Schwäche, männlicher Kampf dagegen als Genesung.

Misogyne Phrasen

Seine Mitpatienten erzählen und rodomontieren ständig über „die Frauen“ und nehmen Frau Opitz‘ Suizid als Anlass, über weibliche Schwäche zu reden. Das Gerede dieser Männer über „Frauen“, maßgeblich beeinflusst von einem mit Pilzen und deren Halluzinogenen angereicherten Likör mit Namen „Schwärmerei“, zählt für mich zu den literarisch stärksten Abschnitten des Romans. Vor allem eine Person mit Namen August August tut sich mit misogynen Phrasen hervor, die Olga Tokarczuk, wie sie in einer kurzen Nachbemerkung ausführt, aus Äußerungen von Schriftstellern und Philosophen paraphrasiert hat.

Hier finden sich Sätze wie:

Aber sehen Sie, Frauen entwickeln sich noch einmal anders, ihre Psyche funktioniert anders als die der Männer.

Ein gewisser Walter Frommer weiß aus der Wissenschaft zu berichten:

Wissenschaftliche Untersuchungen haben erwiesen, dass das Gehirn der Frauen gänzlich anders funktioniert, ja, es ist auch anders aufgebaut. […] Vor allem ist es eine Frage der Größe, und dann sind auch völlig verschiedene Bezirke von Bedeutung. Wo beim Mann der Sitz des Willens ist, befindet sich bei den Frauen die Begierde. Und wo beim Mann das Verständnis für Zahlen und allgemeine Strukturen angesiedelt ist, sitzt bei den Frauen die Mutterschaft.

Diese klare, gewissermaßen „männliche“ Rollenverteilung, auch bei der Sicht auf Krankheit, der man männlich entgegenzutreten habe, scheint zunächst nichts mit Thomas Manns Zauberberg zu tun zu haben.

Allerdings macht auch Thomas Mann sich über das Wesen der Krankheit Gedanken und erkennt damals schon die wichtige Rolle der Psyche. Er lässt gar Hofrat Behrens‘ Assistenten Dr. Krokowski über die Ursachen von Krankheiten erklären: „Das Organische ist immer sekundär.“ Ob das stimmt, lässt Mann offen. So kann man Hans Castorps Nasenbluten („Sein Gesicht war bleich wie Leinen und sein Anzug mit Blut befleckt, so dass er einem von frischer Tat kommenden Mörder glich“) und seine Tachykardie auch als Höhenanpassung verstehen. Aber dass ihn dann die Liebe zu einer Frau, die ihn an einen Jungen erinnert, sieben Jahre magnetisch festhält, ist ein seelischer Vorgang.

Dr. Krokowski seinerseits doziert: „Das Krankheitssymptom sei verkappte Liebesbetätigung und alle Krankheit verwandelte Liebe.“ Und das gilt natürlich auch für Hans Castorps Vetter, Joachim Ziemßen. Joachim ist Soldat und wünscht nichts mehr als eine soldatische, männliche Existenz im „Flachland“. Aber die Krankheit und die Liebe zur Russin Marusja… herrje, im Flachland stellen sich wieder die Symptome ein. Da hilft kein männlicher, soldatischer Kampf gegen die Erkrankung. Joachim wird immer schwächer und muss zum Sterben zurück auf den Zauberberg.

Frauen als Schreckgespenster

Bei Tokarczuk wiederum kommen die Männer auf Spaziergängen in und um Görbersdorf immer wieder mit dieser besonderen Männlichkeit in den Kontakt. Da sind Köhler im Wald, die sich sogenannte Tunschis bauen, Figuren mit Löchern, um ihren Geschlechtstrieb zu befriedigen. Und es gibt das Gerücht eines alljährlich stattfindenden Mordes, jedes Mal an einem Mann. Dieses Gerücht nimmt immer breiteren Raum ein, denn unaufhaltsam nähert sich die Zeit dieser Morde, der erste Vollmond im November.

Ein Patient weiß zu berichten:

Diese alte Geschichte, die ich Ihnen erzählt habe von den Frauen, die in die Berge geflüchtet sind […]. Bis heute sollen sie im Wald leben und völlig verwildert sein, angeblich fallen sie über Köhler und andere Männer her, die ihnen über den Weg laufen.

Damit scheinen auch die merkwürdigen Geräusche vom Dachboden zusammenzuhängen, aus dem Zimmer der verstorbenen Frau Opitz, die Mieczysław regelmäßig hört. Drückt sich hier die Angst der Männer vor den Frauen aus? Vor Frauen als Schreckgespenstern, in der griechischen Mythologie „Empusen“ genannt. Und damit wären wir endlich beim Titel: Den Ausbruch der Empusen nennt Olga Tokarczuk „Empusion“, ein Kunstwort.

Als Kontrast zu dieser von Ängsten geprägten Männerwelt zeichnet Olga Tokarczuk Mieczysławs Freundschaft zum homosexuellen Thilo von Hahn, einem Berliner Maler, der todgeweiht ist und schließlich, wie Joachim Ziemßen bei Thomas Mann, sein Bett nicht mehr verlassen kann. Thilo zeigt Mieczysław ein Sehen, das mehr ist als nur das Wahrnehmen äußerlicher Formen, sondern das echter Erkenntnis entspricht.

Im Wissen um sein nahes Ende bittet Thilo schließlich Mieczysław:

Umarme mich!

Und Mieczysław erfüllt ihm die Bitte.

Wie im Zauberberg ist der Krieg auch in Olga Tokarzcuks Roman ein zentrales Motiv: ohne Weltkrieg kein Zauberberg, wie wir ihn kennen, und damit euch keine Empusion.

Tokarczuks geheimes Leitmotiv sind die männlichen Wahnvorstellungen, die letztlich in diesen so furchtbaren Krieg münden werden. Der Höhepunkt dieser Wahnvorstellungen findet in der besagten Vollmondnacht statt, aber ganz anders, als vermutet. Hier sei nur so viel verraten: Mieczysław Wojnicz besiegt seine Krankheit, indem er seine männliche Rolle abstreift. Die Krankheit entflieht schließlich mit neuer Identität in Gestalt von Frau Opitz dem Männergefängnis Görbersdorf. Dr. Semperweiß erweist sich dabei unerwarteterweise doch noch als ein Verbündeter. Im letzten Arzt-Patienten-Gespräch erklärt er Mieczysław:

Die Norm ist ein Hirngespinst.

Das trifft letztlich sowohl für Mieczysław Wojnicz zu als auch für Hans Castorp.

Aber trifft es nicht eigentlich für jeden zu? Und ist nicht das die Erkenntnis, die gegen die normierende Männerwelt hochgehalten werden muss?

Diagnose einer seelischen Verwirrung

Eine weitere Frage drängt sich mir auf: Ist diese beinahe zwanghafte Einordnung von Krankheiten und anderem nicht selbst eine Krankheit? Etwas Krankmachendes? Wobei weder Mann noch Tokarczuk die Tuberkulose und ihr Wesen als Infektionskrankheit leugnen, also als eine somatisch zu erklärende Erkrankung. Dennoch ist beiden klar, dass Krankheit immer auch ein seelischer Prozess ist. Und der Krieg ist finaler Ausdruck dieser seelischen Verwirrung. Kein Bakterium erklärt den Wahnsinn des ersten Weltkriegs. Beide Romane enden mit der Hoffnung, die bei Thomas Mann als Frage formuliert ist:

Wird aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen?

Was mir beim Lesen beider Romane auffiel, waren weniger die Unterschiede, die in den bisherigen Besprechungen im Fokus standen, als vielmehr die geheimen Überschneidungen.

Sicherlich ist Tokarzcuks Roman keine blinde Adaption, und das gruselige Ende mit der wildgewordenen Männergesellschaft ist ihre genuine Erfindung. Aber die Gemeinsamkeiten überwiegen. Das Leben als einen rein männlichen Kampf zu verstehen, der schließlich in den großen europäischen Krieg führen musste, darin besteht der Grundirrtum der Epoche. Olga Tokarzcuk und Thomas Mann verleihen dieser Erkenntnis auf je ihre Art und Weise Ausdruck.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Hotel Schatzalp, Davos via Wikimedia
Angaben zum Buch

Olga Tokarczuk
Empusion
Roman
Aus dem Polnischen von Lothar Quinkenstein und Lisa Palmes
Kampa Verlag 2023 · 384 Seiten · 26 Euro
ISBN: 978-3311100447

Bei yourbook shop oder im lokalen Buchhandel

Unterstützen Sie uns auf Steady

Teilen über:

Von Herwig Finkeldey

Ein Kommentar

  1. Mich erinnert Olga Tokarczuks Anleihe bei Thomas Mann an die Anleihen, die Zadie Smith vollzieht bei E.M. Forster oder bei viktorianischen Gerichtsakten. Kann Tokarczuks Geschichte neu sein, wenn sie der von Mann so ähnlich ist? Viel Ehre für Mann, dass Tokarczuk als eine polnische Nobelpreisträgerin seinen Roman mit einem eigenen Roman beantwortet. Bei Emma Bovary als Original und Effi Briest als Antwort ging es vom westlichen Frankreich ins östliche Brandenburg, beim Zauberberg und Empusion geht es vom westlichen Davos ins östliche Sokołowsko. Mich hat diese Rezension zum Lesen angeregt. Ich sehe einen Unterschied zwischen Mann und Tokarczuk darin, dass Mann, wenn er die Anziehung beschrieb, die Männer auf einen Mann ausüben, als Mann dies wohl erlebt hatte (nicht nur, weil er Mann hieß), während Tokarczuk diesen blubbernden Bogus, den schlachtenhungrige, schwindsüchtige Männer über Frauen sich zusammenfantasieren, vermutlich nicht erlebt hat. Ist dies zu theoretisch formuliert? Noch eine Frage: Kann man Empusion genießen, wenn man mit Zauberberg nicht glücklich war? Vielen Dank für die Rezension, klasse, dass ich dafür keine Zeitung brauchen, sondern die Auseinandersetzung mit dem Buch hier anfangen lassen kann.

    Antworten

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert