„Öffnen Sie das Buch auf Seite 99, und die Qualität des Ganzen wird sich Ihnen offenbaren.“ (Ford Madox Ford)
Wir lesen mit der Lupe und schauen, was der Text auf dieser Zufallsseite leistet.
(Warnung: Der Page-99-Test ersetzt keine Rezension.)

Die Seite 99 von Olga Tokarczuks Roman Empusion hat zwei Teile. Das obere Drittel enthält das Ende eines Gesprächs zwischen Thilo und Wojnicz.

Die beiden Männer gehen bergauf, Thilos Atemnot wird (nicht sehr elegant) durch Auslassungspünktchen markiert.

„Hast du … den Friedhof … in Langwaltersdorf gesehen?“, fragte Thilo Wojnicz noch, schwer atmend. „Es lohnt sich. Eine ganz besondere … Landkarte … der Welt der Lebenden.“

Ein Friedhof als Landkarte der Welt der Lebenden – das ist eine rätselhafte Formulierung, durchaus abgründig.

Wojnicz verstand nicht recht, was er damit sagen wollte.

Genau das denkt man beim Lesen auch selbst. Thilos Satz wird wohl im weiteren Fortgang der Erzählung noch eine Rolle spielen. Wenn nicht, wäre er überflüssig (wie das Tschechowsche Gewehr, das im ersten Akt an der Wand hängt und im dritten losgehen muss).

***

Eine Leerzeile markiert den Übergang zur zweiten Hälfte dieser Seite. Sie transportiert uns an dem Ort, zu dem Thilo und Wojnicz bei ihrem Aufstieg unterwegs waren: eine Köhlersiedlung. Ein Mann namens Opitz erzählt von der Arbeit der Köhler, die offenbar ebenfalls anwesend sind.

Die Köhler werden mit zwei Sätzen beschrieben, unter Einsatz vieler Adjektive und Adverbien (ich habe sie fett markiert):

Zwischen schwarzen Fingern hielten sie nachlässig gedrehte Zigaretten in angeschmutztem Papier, aus ihren rußigen Gesichter blitzten hell die Augen. Ihre ärmlichen, zerlumpten Kleider ließen an eine absonderliche, exotische und urtümliche Mode denken.

Ausnahmslos jedes Substantiv wird von einem Eigenschaftswort begleitet, am Schluss steigert sich die Häufigkeit zu zwei („ihre ärmlichen, zerlumpten Kleider“), dann gar drei Adjektiven („eine absonderliche, exotische und urtümliche Mode“).

Das Adjektiv ist eine umstrittene Wortart. An den Adjektiven könne man die literarische Qualität eines Textes erkennen, so heißt es. „Die Adjektive befinden sich im Keller“, sagt Stephen King in seinem Schreibratgeber Vom Leben und Schreiben. Der französische Verleger und Staatsmann Georges Clemenceau hatte es umgekehrt formuliert: Bei ihm muss die Schriftstellerin erst in den dritten Stock hochsteigen, um zu fragen, ob sie ein Adjektiv benutzen darf.

Wie viele Adjektive in diesem Satz sind nun den Gang in den Keller bzw. den dritten Stock wert?

Keins dieser Adjektive ist originell, doch die meisten sagen immerhin etwas, was ich beim Lesen nicht automatisch mitgedacht hätte:

  • zwischen schwarzen Fingern
  • nachlässig gedrehte Zigaretten
  • [ärmliche,] zerlumpte Kleider
    („ärmlich“ ist redundant)
  • absonderliche, [exotische] und urtümliche Mode
    („exotisch“ bringt einen falschen Ton in die Szenerie)

Die „rußigen“ Gesichter finde ich in Ordnung (wenn auch an der Grenze zur Redundanz), die „hell“ blitzenden Augen allerdings sind ein Klischee (und außerdem eindeutig redundant).

***

Auf diese Adjektiv-Orgie folgt ein Satz, der die Szenerie der Köhlersiedlung auf eine neue Ebene hebt:

Fast hatte Wojnicz den Eindruck, als befänden sie sich alle gemeinsam auf einer der Illustrationen, die er sich als Kind so gern angeschaut hatte und die Szenen aus fernen Ländern darstellten – eine Begegnung zweier Zivilisationen.

Inhaltlich leistet dieser Satz viel: Ohne dass es direkt gesagt würde, sind die Köhler dieser Reisegesellschaft offenbar so fremd, als kämen sie aus einem anderen Land.

Syntaktisch allerdings ist der Satz nicht besonders gelungen. Zwei Dinge stören mich. Das eine ist die verkehrte Reihenfolge: Bevor ich erfahre, was die Illustrationen zeigen, lese ich, dass Wojnicz sie sich als Kind gerne angeschaut habe. Diese Tatsache ist jedoch nicht interessant, sie ist nur das Mittel, um die Illustrationen ins Spiel zu bringen.

Das zweite ist der doppelte Relativsatz:

Illustrationen, die er sich als Kind so gern angeschaut hatte und die Szenen aus fernen Ländern darstellten

Relativsätze sind dem Adjektiv verwandt und stilistisch ebenso problematisch: Oft wirken sie wie ein Nachklapp. In diesem Fall führt der doppelte Relativsatz dazu, dass der Satz in der zweiten Hälfte seine Energie verliert. Doch dieser Teil enthält die Essenz, nämlich die Szenen aus fernen Ländern, mit denen die Köhlersiedlung verglichen wird. Man muss also gegen den Strich lesen, um den Sinn zu erfassen. Dies geht aufs Konto der Übersetzung von Lothar Quinkenstein und Lisa Palmes.

In den restlichen fünf Zeilen auf der Seite erklärt Opitz das Befüllen der Köhleröfen. Das ist solide formuliert und stilistisch vollkommen unauffällig.

***

Fazit:
Wer schnell liest, um Handlung und Szenerie mitzuverfolgen, kommt auf dieser Seite voll auf seine Kosten. Wer sich auf stilistische Raffinesse freut, wird eher enttäuscht.

Herwig Finkeldey hat Olga Tokarczuks Roman rezensiert: Der schlesische Zauberberg

Angaben zum Buch

Olga Tokarczuk
Empusion
Roman
Aus dem Polnischen von Lothar Quinkenstein und Lisa Palmes
Kampa Verlag 2023 · 384 Seiten · 26 Euro
ISBN: 978-3311100447

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

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