„Öffnen Sie das Buch auf Seite 99, und die Qualität des Ganzen wird sich Ihnen offenbaren.“ (Ford Madox Ford)
Wir lesen mit der Lupe und schauen, was der Text auf dieser Zufallsseite leistet.
(Warnung: Der Page-99-Test ersetzt keine Rezension.)

Foto der Seite 99 von Daniel Kehlmanns "Lichtspiel"

Auf der Seite 99 von Daniel Kehlmanns Lichtspiel gibt es nur ein einziges stilistisches Verfahren, das ins Auge springt.

Es ist das schlichteste Stilmittel überhaupt: die Wiederholung. Es beginnt gleich im ersten Satz:

Keine der Kopien sah aus wie eine der anderen, weil jede eine andere Farbe hatte und andere Helligkeit und anderen Kontrast.

Das Adjektiv „andere“ ist in diesem Satz nur ein Platzhalter für Eigenschaften, die wir uns denken müssten, wenn sie uns interessieren würden. Doch darauf hat der Erzähler es möglicherweise gar nicht abgesehen – mit seinem Nullwert-Adjektiv deutet er womöglich an, dass die Unterschiedlichkeit nicht weiter von Belang ist.

Sechs Zeilen weiter kommt die nächste Wiederholungsmühle:

Wenn die Wirren der Gegenwart überwunden waren, würde es nie wieder Krieg geben, die Technik würde sich entwickeln, und alles, was der Film jetzt noch nicht war, würde er werden.

Die nächsten drei Beispiele zitiere ich direkt nacheinander – so, wie sie auch in dem Text direkt aufeinanderfolgen:

Die Geschichte war märchenhaft düster, die Kulissen waren von wilder Unwirklichkeit, das Ergebnis war grandios und ein wenig langweilig.

Sein zweiter Film aber sollte noch dunkler, noch wilder, noch märchenhafter werden.

Fünf Monate hatte er an einem Drehbuch gearbeitet, und der Zuckerfabrikant Mehlson hatte ihm vierzigtausend Dollar versprochen. Aber in Mehlsons Büro beim Unterschreiben hatte ihn plötzlich der Teufel geritten, und er hatte gesagt: […]

Die ganze Seite umfasst 30 Zeilen. Davon sind 18 im Duktus der Wiederholung gehalten, also mehr als die Hälfte. Das kann kein Zufall sein. Doch welcher Effekt soll mit diesem exzessiv eingesetzten Stilmittel erreicht werden?

Auf der klanglichen Ebene erzeugt Wiederholung fast immer einen Rhythmus, doch das funktioniert auf dieser Seite nicht immer gleich gut. Wichtiger scheint mir eine Färbung der Aussage: Die Wiederholung bewirkt den Eindruck von Übertreibung, und diese wiederum bringt Ironie in den Text.

Diese Lesart wird gestützt durch den Kontext:

Eine neue und unordentliche Gattung war der Film, aber das störte keinen, schließlich war ja die ganze Welt zerrüttet. Nur die Zukunft war hell. Wenn die Wirren der Gegenwart überwunden waren, würde es nie wieder Krieg geben, die Technik würde sich entwickeln, und alles, was der Film jetzt noch nicht war, würde er werden.

Schon die Bemerkung, der Film sei eine „neue und unordentliche Gattung“ ist ironisch gefärbt, und die Ironie wird durch das, was folgt, noch gesteigert: Dieser Umstand störte keinen, „schließlich war die ganze Welt zerrüttet“. Das ist zwar inhaltlich etwas zweifelhaft (gerade, wenn die ganze Welt zerrüttet ist, könnte man sich auch eine Gattung wünschen, die die Dinge wieder in Ordnung bringt), doch interessanter ist der Ton: „schließlich war die ganze Welt zerrüttet“ – das wird dahingesagt, als wäre nichts weiter dabei. Das hat etwas Frivoles, ja Zynisches. (Oder reagiere ich auf den Satz nur deshalb so empfindlich, weil er so furchtbar aktuell geworden ist?)

„Nur die Zukunft war hell“, heißt es, mit ausgesuchter Schlichtheit. Die leise Ironie verrät uns, dass der Erzähler diesen Zukunftsoptimismus nicht teilt. Damit ist die Bühne bereitet für den nächsten Satz. Er beginnt mit einem kühnen Wechsel des Subjekts: „er“ bezieht sich jetzt nicht mehr auf das Wort Film, sondern steht für den Protagonisten, offenbar einen Regisseur.

Und so überzeugte er die Anglo-Österreichische Bank, seinen ersten Spielfilm zu finanzieren, und er überredete den berühmten Werner Krauß, die Hauptrolle anzunehmen.

Wieder wird die Satzstruktur wiederholt, diesmal mit leicht variierten Verben. Offenbar hat der Protagonist Erfolg mit den Zukunftsvisionen, an die sein Erzähler nicht glaubt, und zwar sowohl bei der Bank als auch dem Schauspieler.

In der nächsten Passage geht es um seine Filmästhetik, und auch hier steckt der Zweifel in den Wiederholungen.

Er drehte nach jener expressionistischen Art, die bereits aus der Mode kam. Die Geschichte war märchenhaft düster, die Kulissen waren von wilder Unwirklichkeit, das Ergebnis war grandios und ein wenig langweilig. Sein zweiter Film aber sollte noch dunkler, noch wilder, noch märchenhafter werden.

Mit der Wendung „das Ergebnis war grandios und ein wenig langweilig“ wird diese Ästhetik gründlich demontiert; auf den gleichen Effekt zielen die genüsslich denunzierenden Wiederholungen: Aus „märchenhaft düster“ wird „noch märchenhafter“, aus „von wilder Unwirklichkeit“ wird „noch wilder“. Das Adjektiv langweilig wird in der Aufzählung ausgelassen: Dass sich mit der Grandiosität auch die Langeweile steigert, dürfen wir selbst ergänzen.

Die letzte Passage mit dem wiederholten „hatte“ bekommt vor diesem Hintergrund etwas trotzig Insistierendes. Sie ist konsistent mit der erzählerischen Haltung der ganzen Seite.

Was ich mich je länger je mehr frage: Wer spricht auf dieser Seite? Ist es ein vom Autor erfundener Erzähler, oder ist es der Autor selbst, der sich hier über seine Figur mokiert? Falls es tatsächlich der Autor ist, der sich hier in seinen Roman schleicht, würde er damit dessen literarische Wirkung sabotieren. In eine Figur, die der Autor nicht ernst nimmt, will ich als Leserin nichts investieren.

Fazit

Das ist stilistisch alles ein wenig zu glatt, ein wenig zu kalkuliert. Und auch ein wenig zu penetrant, gerade, weil es sich um ein so elementares Stilmittel handelt. Mir scheint, der Autor macht es sich mit seinen Wiederholungen etwas zu einfach.

Angaben zum Buch

Daniel Kehlmann
Lichtspiel
Roman
Rowohlt 2023 · 480 Seiten · 26 Euro
ISBN: 978-3498003876

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Buchcover Daniel Kehlmann: Lichtspiel

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

4 Kommentare

  1. Mit Ihrer analytisch sauberen Art haben Sie mir geholfen, mich zu entscheiden.

    Antworten

  2. Ursula Kröhn 18. Oktober 2023 um 9:28

    Liebe Frau Geisel, ich lese gern immer ihren Page 99 Kommentar, aber diesmal werden Sie dem Autor nicht gerecht, ich glaube, Sie sind zu jung🙂
    Ich habe den Roman gelesen und bin überwältigt ob der Fülle von Nicht- Geschriebenem! Auf jeder Seite ploppen allein durch die Erwähnung bestimmter Namen und Vorkommnisse unzählige Erinnerungen und Gefühle auf, das ist ja bei Kehlmann ein Stilmittel, er braucht nicht beschreiben, seine schlichten Sätze teilen mehr mit, als ein Roman Seiten haben kann! Da aber seit den 20iger Jahren berichtet wird, können junge/jüngere Menschen gar nicht diese Kenntnisse haben. Wer kennt schon noch Heinz Conrads, die Regisseure Pabst, Fred Zinnemann, Fritz Lang und deren Filme, sowie unzählige andere!
    Ich habe den Roman gelesen und war überwältigt!!👍( bin 78)

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    1. Liebe Frau Kröhn,
      vielen Dank für Ihre Zeilen! Das ist hoch interessant, was Sie sagen. Sobald ich Zeit habe, werde ich mir zumindest die ersten 100 Seiten noch vornehmen und dann berichten.
      Es kann sein, dass der Page-99-Test hier wirklich zu kurz greift. (Es geht bei dieser “Tiefenbohrung” ja nur um Wortwahl und Satzbau, eine inhaltliche Analyse ist nicht Ziel des Page-99-Tests.)

  3. Ihre Analyse drückt sehr gut aus, was ich bei der Lesung gespürt habe aber nicht genau benennen konnte. Mir fehlte die “Seele” des Autors, das ist es wahrscheinlich, was sie mit “zu glatt” bezeichnen.
    Ich bin überrascht, wie viel man doch aus nur einer Seite herauslesen kann, es war für mich eine Bestätigung meines Gefühls!

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