Dieses Gespräch mit Khaled Khalifa hatte ich am 15. Mai 2018 geführt. Gesprächsanlass war Khalifas eben erschienener Roman Der Tod ist ein mühseliges Geschäft. Ich publizierte das Interview damals nicht, sondern verwendete nur O-Töne daraus für ein Radiofeature über Kriegsliteratur.
Nach seiner Lesereise kehrte Khaled Khalifa damals nach Damaskus zurück, ebenso dieses Jahr im Juni, als er fünf Monate als Stipendiat des Literaturhauses in Zürich war. In der Republik erschien vor kurzem ein berührender und erschütternder Essay von ihm über das Leben im Krieg.
Der Titel Ihres neuen Romans heißt Der Tod ist ein mühseliges Geschäft. Was wollten Sie mit diesem Titel ausdrücken?
Im Krieg haben wir Probleme mit den Leichen. Manchmal liegen Leichen auf der Straße, weil man sie nicht transportieren kann. Dinge, die früher normal waren, werden im Krieg unmöglich.
Sie schreiben während des Kriegs über den Krieg. Normalerweise braucht Literatur mehr Zeit.
Sie haben Recht, man muss warten, bis der Krieg zu Ende ist, bevor man über ihn schreiben kann. Aber hier erzähle ich nur eine kleine Geschichte, die auch mit mir zu tun hat. In Orten wie Homs oder Aleppo können die Angehörigen ihre Verstorbenen nicht zum Friedhof bringen, denn ständig fallen Bomben. Ich schreibe nicht über den Krieg als Ganzes, nur über diesen Fall, nur über diese drei Personen.
Ist das eine wahre Geschichte oder Fiktion?
Es ist Fiktion, aber es gibt Zehntausende dieser Fälle. Diese Geschichte hat auch mit mir zu tun. Ich hatte einen Herzinfarkt, war dem Tod nahe, und ich dachte: Wenn ich nun sterbe, was wird geschehen? Meine Familie lebt im Norden von Aleppo, doch ich war in Damaskus. Sie würden meine Leiche nach Hause holen wollen. In diesem Moment hatte ich die Idee zu dem Roman. Ich dachte an meine Schwestern, Brüder, Onkel, Freunde, und nach zehn Minuten hatte ich diesen Roman im Kopf.
Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, dachte ich jeden Tag über diesen Roman nach. Ich fragte befreundete Ärzte. Was geschieht mit einer Leiche – nach einem Tag, nach drei Tagen? Sie beschrieben mir viele Details: wie die Farbe sich verändert und das Gewebe. Wie es sich damit im Sommer verhält und wie im Winter. Was ist, wenn es regnet und was, wenn es nicht regnet.
Im Roman transportieren drei Geschwister die Leiche ihres Vaters an seinen Heimatort, mitten im Krieg – eine tragisch-makabre Satire, die man nicht mehr vergisst.
Der Vater hat sein Leben verpasst, weil er auf etwas gewartet hat. Das entspricht dieser Generation in Syrien: Sie waren in der Politik und glaubten an den Nationalismus, doch es ging schief. Wir alle warten auf etwas. So kamen die Figuren zu mir.
Wie ist es, im Krieg zu schreiben?
Im Krieg ist alles anders. Man ist nicht derselbe wie zuvor. Manchmal vermisst man im Krieg die kleinen Dinge: die Freunde, das normale Leben. Doch man vergisst dieses normale Leben jeden Tag aufs Neue. Das nichtnormale Leben, das ist jetzt dein Leben. Manchmal erinnert man sich: Es ist dieselbe Straße, aber sie ist anders. Alles ist anders: die Gefühle, die Menschen.
Worin besteht die Verantwortung des Schriftstellers in dieser Zeit?
Darin, gute Texte zu schreiben. Wir können nichts weiter tun. Manchmal denke ich, Schreiben bedeutet nichts. Ein Schriftsteller im Krieg – das ist niemand Wichtiges. Aber dann denke ich: Nein, ich bin wichtig, ich habe meine Rolle. Gut zu schreiben, das ist unsere Aufgabe, im Krieg wie im Frieden.
Was bedeutet es im Krieg, gut zu schreiben?
Es bedeutet, die Wahrheit zu sagen. Man kann sich mit den Menschen gegen die Mörder stellen. Wenn man eine Geschichte erzählen will, eine Tragödie, dann muss man dafür die richtigen Wörter finden. Wenn man der Welt die Tragödie erzählen will, die in Syrien geschieht, dann reicht es nicht, zu sagen: Wir haben Mörder und eine Diktatur, wir werden von den Russen und der syrischen Regierung bombardiert. Sondern wir müssen eine Geschichte schreiben, die für immer im Gedächtnis bleibt. Gute Texte bleiben. Schlechte vergehen, auch wenn in ihnen Wahrheit steckt.
Verändert sich das Schreiben im Krieg?
Der Krieg ändert alles. Ich bin ein neuer Khaled, eine neue Person. Ich träume schlecht, oft bin ich sehr müde. Manchmal besetzt der Krieg mein ganzes Leben, ich kann ihn keinen Moment vergessen. Es ist, als wäre etwas in mein Inneres gelangt, und es bleibt in mir. Auch wenn der Krieg irgendwann zu Ende geht, wird es kein normales Leben sein. Denn der Krieg wird in uns weiterleben.
Vor dem Krieg habe ich in Damaskus im Café geschrieben. Ich brauchte zehn Minuten, dann saß ich an meinem Tisch, mein Kaffee war bereit, und da blieb ich jeden Tag sechs Stunden, das war mein Job. Wenn ich das heute machen möchte, muss ich dafür zwei Stunden an Checkpoints verbringen, zwei angsterfüllte Stunden, denn ich weiß nicht, was mir an den Checkpoints geschehen wird. Und das gilt für alle Leute. Wir verabreden uns um vier, aber vielleicht komme ich erst um sechs. Das ist für uns normal geworden.
Und doch kehren Sie nach Damaskus zurück.
Fast alle meine Freunde haben Syrien verlassen. Wir sind jetzt allein. In der Nacht können wir nicht aus dem Haus, weil Bomben fallen. Der Lärm ist schrecklich, nonstop, seit fünf Jahren, nonstop. Man wird so müde, man hasst sein eigenes Leben. Man lebt in der Nähe des Todes, man erwartet den Tod, und das ist das normale Leben. Und wenn ich nun nach Damaskus zurückkehre, wird es wieder so sein.
Einmal gab es in Damaskus eine große Hochzeit, wir gingen hin, wir freuten uns, mit unseren Freunden zu feiern. Aber nach einer Stunde war klar: Wir haben verlernt, das Leben zu genießen. So viele unserer Freunde sind im Gefängnis oder tot, das ist nicht mehr unser Leben. Wir fühlten uns wie Schauspieler.
Ihre Bücher sind verboten – erreichen Sie ihre Leser in Syrien überhaupt noch?
Ja, aber im Geheimen, unter dem Tisch. Die Bücher kommen aus Beirut. Wenn Sie in der Bibliothek nach meinen Büchern fragen, wird man Sie anschauen, und wenn der Bibliothekar Sie kennt, wird er Ihnen das Buch geben. Es wird gehandelt wie Haschisch.
Haben Sie keine Angst?
Für mich ist es normal, dass meine Bücher verboten sind. Wenn sie nicht verboten wären – das wäre nicht normal. Was ist das Verbot meiner Bücher gegenüber dem, was anderen geschieht? Freunde von mir sind seit 15 Jahre in Haft, nur weil sie etwas gesagt haben. Ich will nur schreiben. Und ich bin an einem neuen Roman.
Ein Roman über den Krieg?
Nein, über Aleppo im 19. Jahrhundert. Die Stadt wurde so oft zerstört, wenn Sie es lesen, werden Sie sehen, dass ich auch über die jetzige Zeit schreibe. Wenn ich schreibe, bin ich glücklich.
Ich liebe dieses Land so sehr, ich liebe alles daran: meine Freunde, meine Familie, das gute Essen. In Syrien hat das Leben für mich einen Sinn. Manchmal hasse ich das europäische Leben. In Syrien ist alles anders als hier. Alles hat dort Bedeutung für mich.
Bildnachweis:
Beitragsbild: Hartwig Klappert
Porträt Khaled Khalifa
Khaled Khalifa
Der Tod ist ein mühseliges Geschäft
Roman
Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich
Rowohlt Verlag 2018 · 224 Seiten · 12 Euro (Taschenbuch)
ISBN: 978-3499274336