Die traut sich was, die Autorin, denkt man sich. Sich einfach für den Titel ihres Romans beim Nobelpreisträger Grass zu bedienen und den ersten, seinerzeit preisgekrönten Satz aus dessen Roman Der Butt zu recyceln. Darf sie das?

Sie darf, denn erstens steht ihr Titel im Präsens und nicht wie bei Grass im Präteritum, und zweitens hat sie sich mit Günter Grass lange ausgetauscht. Nicht mehr zu seinen Lebzeiten, aber immerhin in seinem Haus.

Die Rede ist von Carmen-Francesca Banciu und ihrem jüngsten Roman Ilsebill salzt nach. Und so hängt all dies zusammen: Das ehemalige Wohnhaus von Grass im schleswig-holsteinischen Wewelsfleth beherbergt heute als Alfred-Döblin-Haus Schreibstipendiaten, zu denen mitten im Corona-Lockdown auch die Autorin zählte.

Und da ist es passiert: Sie spürte die Hand von Grass auf ihrer Schulter. Das Haus, die Küche, der Keller, das Schreibzimmer sind so sehr noch von seiner Präsenz erfüllt, dass Banciu gar nicht anders kann, als ihr geplantes Projekt zu ändern und Briefe an Günter Grass zu schreiben. Ein Briefroman also.

Heitere Melancholie

Das Buch, sie kündigt es auf den ersten Seiten an, besteht aus Gedankenschleifen, Entdeckungsreisen, Begegnungen. Reicht das aus, um über 300 Seiten die Spannung aufrecht zu erhalten? Zu Anfang mag man es nicht recht glauben; die Themen Kochen und Essen, Schreiben, Besuche im Dorf und auf dem Friedhof wecken zwar irgendwie zunehmend ein Gefühl des Vertrautseins, doch zunächst entfaltet sich kein Sog. Das ändert sich jedoch zunehmend, und gegen Ende mag man das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen.

Woran liegt das? Sicher zum einen am spielerischen Umgang mit der Sprache, inklusive manchem Ausflug in die rumänische Muttersprache der Autorin.

Ich sehe das Rauschen der Wellen des Lebens. Ich sehe nicht das Bild des Meeres. Denn diese Wellen brechen sich nicht am Ufer. Sie verwandeln sich nicht in Schaum. […] Ich habe nicht das Bild des Meeres mit seinen Wellen vor Augen. Es sind Berge und Schluchten. Hügel und Täler. Abgrund. Karsttrichter. Sinkhöhlen. Dolinen. Munti si vai. Coline si vai. Coline si Doline. Ganz unterschiedliche Bilder entstehen im Kopf, je nach Sprache. Je nach Musikalität. Je nach der Wahl der Wörter. Ich sehe die alternierenden Rhythmen. Die erhebende Musik der Höhen. Die erschreckende Anziehungskraft der Tiefen.

Ferner ist der Text von einer Atmosphäre heiterer Melancholie und Sinnlichkeit getragen. Das Thema Kochen und Essen nimmt großen Raum ein, und zwar durchaus in der deftigen Variante (beide, Grass und Banciu haben selbst Hunger erlebt). Carmen-Francesca Banciu liebt kurze Sätze, manchmal sind es auch nur Satzanfänge oder Satzsplitter.

Fragen an Günter

Gerade in diesem Duktus entsteht der Rhythmus dieser Prosa, denn der Autorin geht es weniger um das Erzählen als um den inneren Monolog, und der gestaltet sich als ein vorsichtiges Tasten nach dem gelungenen Ausdruck oder nach der immer auch zweifelhaften Klarheit dessen, was wir sehen, denken oder fühlen können. Manchen von ihr gesetzten Punkt könnte man auch als Komma oder als Atempause des inneren Gesprächs lesen.    

Dieser Duktus eignet sich besonders für Briefe an einen verstorbenen und dazu noch berühmten Menschen. Dabei erweist es sich im übrigen als Vorteil, dass Banciu, die erst 1992 aus Rumänien nach Deutschland übergesiedelt ist, Grass weder persönlich kennen gelernt noch viel von ihm gelesen hatte, bis zu ihrem Aufenthalt in Wewelsfleth. Grass-Liebhaber seien hier gewarnt: Banciu nähert sich der Person Grass nicht über sein Werk, sondern über Fragen an ihn als Mensch.

Sie will sich nicht vorschnell ein Bild von ihm machen, und dies führt zu eben jenen tastenden Sätzen:

Wo hast Du zuerst hingeschaut? Auf die hohen Schwarzerlen rechts vom Fenster? Verliebt in das Geheimnisvolle der Sümpfe. Die Erle ist hier zuhause […]. Viele Jahre hast Du hier gelebt. Was hast Du hier gedacht? Was hast Du hier gemacht. Was Du uns wissen lassen wolltest, darüber hast Du geschrieben. Und doch will ich es selbst herausfinden. […] Ob auch Du schon morgens hier am Fenster gestanden hast. […] Warst Du ein Frühaufsteher. Oder warst Du eher ein Nachtmensch. Noch spät über die Olivetti gebeugt. […] Was soll ich für Dich kochen. Was ist Dein Wunsch. Ein Leibgericht? Von Deinen Krankheiten weiß ich so gut wie nichts. Nur dass Dein Herz im Alter schwach geworden war. Hast Du Dir zuviel zu Herzen genommen. Oder waren es die Pfeifen. Die Selbstgedrehten. Das deftige Essen. Was kocht man für einen wie Dich? Und wie fängt man mit Dir ein Tischgespräch an?

Vielleicht war auch alles anders

Gleich unter dem Fenster des Döblin-Hauses liegt der Friedhof von Wewelsfleth.

Dort findet sich eine weitere Briefpartnerin der Autorin, nämlich Frieda Anna Wessel, gestorben 1921 bei der Geburt ihres Sohnes, und hier begraben. Banciu fühlt sich ihr verbunden und schreibt an sie. Auch der Name Heinrich Wessel, geboren 1907, steht auf dem Grabstein, obwohl er dort nicht begraben liegt, denn er gilt seit dem Krieg als vermisst.

Ist er bei Stalingrad gefallen. Verwundet. Erfroren. Verhungert. In einem Lager. Bei der Zwangsarbeit. An Unterernährung oder Erschöpfung gestorben. Wurde er in den Wäldern von Wölfen auf der Flucht gefressen. Wurde er am Kopf verletzt und hat sein Gedächtnis verloren. Wurde er von einer schönen Russin bezirzt. Oder konnte. Wollte er aus ganz anderen Gründen seinen Weg nicht mehr zurück finden?

Endlich doch noch ein Fragezeichen. Weshalb setzt die Autorin hinter eine Frage oft einen Punkt? Vielleicht um deutlich zu machen, dass all die aufgezählten Varianten über den Vermissten ihre Berechtigung als Möglichkeit haben. Und in ihren Briefen an Günter? Steht der Punkt am Ende einer Frage hier für die Mischung aus Frage, Vermutung und Möglichkeit? Diese Öffnung der Möglichkeitsräume zieht sich als Motiv durch das ganze Buch. Es kann auch immer alles ganz anders (gewesen) sein.

Auch Grass war vielleicht ein ganz anderer. Anders als wer oder was? Anders als das Bild, das die Nachwelt, das wir, das die Autorin von ihm hat? Anders als jedes mögliche Bild?

Bei einer neuerlichen Spurensuche auf dem Treppengeländer des Hauses meint die Autorin eine Ähnlichkeit zu entdecken zwischen dem geschnitzten schnauzbartragenden Kopf des Treppenwächters und Grass selbst.

Nur um gleich umzulenken:

Dann würde aus Dir jetzt eine Figur mit Schnauzbart für meinen nächsten Roman werden. Denn so eine brauche ich gerade. Aber soll ich Dich dafür missbrauchen. Ich könnte alles tun beim Schreiben. Im Weinkeller. Da wärest Du jemand ganz anderes. Ganz anders, als wenn ich Dich in die Waschküche schicken würde.

Widerstand und Konformität

Ein herrliches Spiel mit der Illusion von Identitäten und Zuschreibungen. Diese Herangehensweise hilft der Autorin denn auch bei einem Thema, das nicht fehlen kann: das späte Bekenntnis von Grass, als 17-jähriger bei der Waffen-SS gewesen zu sein.

Feinfühlig und umsichtig geht die Autorin damit um. Die Vergangenheit sei eine Falle, der wir nicht entkommen, so Grass. Dem könne sie nur bedingt widersprechen, schreibt Banciu, um wenig später doch Widerspruch anzumelden. Sie schwächt ihn jedoch ein wenig ab, als sie ihre eigene Jugend derjenigen von Günter Grass gegenüber stellt: Wie sie als 16-jährige von der Securitate angeworben werden sollte, sich aber dagegen verwahrte. Sie hätte an diesem Punkt trefflich moralisch urteilen können, und sie macht in der Tat deutlich, dass jeder Mensch, auch in der Jugend und auch in einer Diktatur, die Möglichkeit hat, sich so oder anders zu entscheiden. Doch zugleich schreibt sie, dass immer beides mit im Spiel sei: der Widerspruch und die Konformität. Beide gingen Hand in Hand bei der Entwicklung eines jungen Menschen.

Das Diktum des „es könnte auch ganz anders gewesen sein“ erweist sich als ein Hallraum, der das ganze Buch durchzieht. Eine Atmosphäre süß-trauriger Rätselhaftigkeit durchweht Bancius ganz eigenen Umgang mit den Themen Tod, Vergangenheit, Abschied und Verlust. Vielfach verschränkt Banciu das Leben des in Danzig geborenen Günter Grass mit ihrer eigenen Vergangenheit in Rumänien.

Gegen Ende des Buches öffnet sich ein weiterer Hallraum: Viele der Begegnungen, von denen die Autorin schreibt, erlebt sie als Fügung. Ein Geflecht aus Prägung, Bestimmung und Geistesgegenwart spurt nicht unwesentlich den Weg, den wir im Leben gehen. Die beiden scheinbar konträren Hallräume – hier der Fügungen, dort der Möglichkeitsräume – werden bei Banciu in eine bereichernde Spannung gebracht, die man als beruhigenden Grundton der conditio humana verstehen kann.

Die Sprache selbst

Schließlich geht es der Autorin auch um den Prozess des Schreibens. Banciu scheut sich nicht, das angstvolle Zittern und Schwitzen der Schriftstellerin zu benennen, wenn sie das treffende Wort nicht finden kann, zuweilen entwischt ihr auch ein beinahe schon gefundener Satz wieder.

Sie fragt Grass, ob es ihm zuweilen auch so gegangen sei. Um ihm dann zu berichten, wie sich eines Morgens der beglückende Ausdruck wie aus dem Nichts im Kopf geformt habe.

Nur der nackte Satz blieb stehen. Und aus diesem Satz ergab sich unerwartet der nächste. Und der nächste, […] ein Teppich aus Vogelgemurmel wellt sich hin und her. Traumversunken. Monoton wiegen sich die Vögel im Halbschlaf. Mein Gefühl von Glück wird vollkommen sein, wenn der erste Leser vor seinen Augen mein Bild sieht. Wenn die erste Leserin mit einsteigt in das Gemurmel. Wenn beide sich auf dem gewellten Teppich aus Vogelgemurmel bis in den Schlaf wiegen lassen.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Wewelsfleth, Friedhof
Alle Bilder: Carmen-Francesca Banciu

Angaben zum Buch

Carmen-Francesca Banciu
Ilsebill salzt nach
Ein Briefroman
PalmArt Press 2023 · 300 Seiten · 25 Euro
ISBN: 978-3962581305

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Von Frank Hahn

Freier Autor in Berlin und Vorsitzender des Vereins „Spree-Athen e.V.“, der regelmäßig ins Literaturhaus Berlin zu Vorträgen aus den Bereichen Philosophie und Literatur einlädt.

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