Nan Goldins Fotos leuchten. Nicht nur aus sich selbst heraus, sondern auch unterstützt durch die Präsentation: Die Ausstellungsräume sind in Dunkelheit getaucht, aus der sich die Bilder im Scheinwerferlicht herausheben. Heilig wirken sie, aber auch verrucht, denn die Aufnahmen zeigen intime Momente zwischen Menschen in Clubs, Hotelzimmern, Backstage-Räumen, voller Rauch, Flitter und Glamour.

Düster und bonbonbunt

Wobei die Menschen stets Freund:innen oder Weggefährt:innen der Fotografin sind; ihre „chosen family“ , wie Nan Goldin sie nennt. Die eigenen Eltern verlässt sie mit vierzehn, nachdem Vater und Mutter versuchen, den Selbstmord der älteren Schwester zu vertuschen. Nan sucht nach Wahrheit. Die Kamera wird ihre ständige Begleiterin.

Von den frühen Arbeiten aus Boston sind vier Schwarz-Weiß Porträts ihrer damaligen Mitbewohnerin Ivy zu sehen, einer sehr dünnen großäugigen Transfrau, die in ihrer Zerbrechlichkeit bildschön erscheint. Schon diese ersten Fotos zeigen alle Merkmale der späteren Künstlerin, vor allem ihren Respekt vor Menschen, die auf der Suche nach Freiheit und Wahrheit Grenzen überschreiten. Spätestens in New York, wohin sie 1978 zieht, findet Goldin ihre düstere, zugleich bonbonbunte Ästhetik. Von der Reportagefotografie trennen sie ein Zuviel an Liebe und ein schriller Glanz, den sie von der zeitgenössischen Modefotografie und den Filmen Andy Warhols übernimmt. Die in den frühen 1980er Jahren begonnene Arbeit The Ballad of Sexual Dependency wird ihre berühmteste Fotoserie: keine bloße Bilderfolge, sondern eine mit Musik unterlegte Diashow, die sie privat oder in Clubs zeigt, später auch in Museen.

Der Undergroundszene entwachsen

Die Ausstellung in der Akademie der Künste am Hanseatenweg lässt sich als Retrospektive verstehen, gleichzeitig markiert sie den zweiten Höhepunkt von Nan Goldins Karriere. Denn nach dem Jahrtausendwechsel wird es erst einmal still um die Fotografin. Sie konzentriert sich auf die Sichtung ihrer immensen Archive, bleibt nach jahrzehntelanger Heroinabhängigkeit clean und merkt, dass sie den Underground-Szenen entwachsen ist. „They treat me like a crazy old lady“ sagt sie lachend und zugleich ungläubig in einem Interview aus jener Zeit. “I look like a punk grandma.”

Dann holt sich das Leben die Künstlerin zurück: Nach einer Operation erhält Nan Goldin das Schmerzmittel Oxycotin, von dem sie abhängig wird. 2017 nimmt sie den Kampf gegen den Pharmakonzern Purdue auf. Ein Kampf zwischen „Goldin und Goliath“  – so der Titel eines Zeitungsartikels – den sie am Ende gewinnt, auch weil das Drama unübersehbar geworden ist: Mehr als eine halbe Million Amerikaner:innen sterben an dem von der Firma Purdue in den Markt gedrückten Opioid. Zusammen mit Laura Poitras dreht Nan Goldin einen Dokumentarfilm über ihren Kampf: All the Beauty and Bloodshed gewinnt 2022 in Venedig den Goldenen Löwen. Er ist der künstlerische Erfolg ihres Engagements und zeigt, wie sie mit der politischen Arbeit auch ihre kreative Energie wiedergefunden hat.

Von Menschen- zu Himmelsbildern

Spätestens mit dem Film macht Goldin deutlich, wie sehr sie nach einer Form des Erzählens strebt. Tatsächlich betont sie in fast allen Interviews, dass nicht die Fotos den eigentlichen Reiz ihrer Arbeit ausmachen, sondern deren Zusammenstellung: „It‘s all about the editing process“, so Goldin. Die Bilderserien möchte sie als eine Art visuelles Tagebuch verstanden wissen: als Story, nicht als Momentum.

Doch genau an dieser Stelle schwächelt die Ausstellung. Denn auch wenn der Wunsch, Werke aus allen Jahrzehnten von Goldins Schaffens zu zeigen, einsichtig und die Auswahl gelungen ist, bleiben sie in der Schau vereinzelt. Mit einzelnen Bildern ist die Erzähldichte der Bilderserien aus ihren Büchern oder Diashows nicht einzufangen, auch wenn es sich dabei längst um Ikonen der zeitgenössischen Fotografie handelt.

Dennoch lohnt sich der Besuch. Allein die handgefertigten Abzüge zeigen, zu was die Analog-Fotografin Nan Goldin in der Lage ist: Sie rechtfertigen die fast schon sakrale Atmosphäre der Ausstellung. Im neuen Format der Grid-Bilder passt Goldin mehrere Fotos eines Shootings oder einer Person in eine Gitterstruktur ein; doppelt belichtete Fotos wiederum unterstreichen die Vergänglichkeit von Momenten, aber auch die Mehrschichtigkeit von Begegnungen. Ihre Landschafts- und Himmelspanoramen kommentiert sie mit dem Satz: „The sky is the most magical thing in our lives, the best art.“ Es scheint, dass die „punk grandma“ mit den Himmelsbildern ein neues Thema gefunden hat, das es in Dramatik und Schönheit mit ihren Menschenbildern aufnehmen kann.

Die Ausstellung Käthe-Kollwitz-Preis 2022. Nan Goldin ist noch bis zum 19. März 2023 in der Akademie der Künste am Hanseatenweg in Berlin zu sehen

Bildnachweis:
Beitragsbild: Niklaus Bächli, Blick in die Ausstellung.

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Von Stephanie Jaeckel

Kunsthistorikerin und Kulturjournalistin, Autorin von Sach-Hörbüchern für Kinder.

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