Wenn ein alter Mensch stirbt, brennt eine Bibliothek, so heißt es. Mit dem Tod von Peter von Matt ist ein ungeheures literarisches Wissen aus der Welt verschwunden: Er konnte Texte miteinander ins Gespräch bringen wie kein anderer. Zum Glück haben wir seine Bücher – und ich habe überdies noch etwas ganz Besonderes in meinem Archiv: die Akzessliste des Deutschen Seminars der Universität Zürich von 1981, mit all meinen Anmerkungen und Häkchen.

Mit dem Akzessexamen, einer halbstündigen mündlichen Prüfung, wechselte man damals – ich studierte ab 1984 – von der Proseminar- in die Seminarstufe. Die Akzessliste von 1981 enthielt 939 Werke aller Gattungen von 1700 bis 1980 und wurde alle paar Jahre von Peter von Matt aktualisiert. In den ersten drei, vier Semestern hatte man daraus eine Auswahl von ca. 120 Werken zu lesen.

Diese gefürchtete Liste – schon der Name klang abschreckend – war nebenbei auch ein effektives Selektionsinstrument: Wer nur Germanistik studierte, weil es für die Naturwissenschaften in Mathe nicht reichte und keine Fremdsprachenkenntnisse erforderlich waren, empfand diese Lektüreliste als Zumutung und machte auf dem Absatz kehrt.

Die ersten sechs Seiten der Liste bestehen aus einem „Akzessbrief“.

Die Adressaten werden, es war die Zeit vor der digitalen Kommunikation und politisch korrekter Distanzforderungen, vertraulich mit groß geschriebenem Du angesprochen. Zum einen erklärt Peter von Matt in diesem Brief, wie die Liste zu verwenden ist: Es gibt ein paar wenige Pflichttexte (z.B. von Gottfried Keller „Die drei gerechten Kammmacher“ und Der grüne Heinrich), und es gibt Werkgruppen, aus denen man sich ein oder zwei Texte aussuchen kann.

Peter von Matt ist kein Propagandist des „Gewehr bei Fuß“, ganz im Gegenteil: Wichtig sei, für das Lesen der Liste sein eigenes Verfahren zu finden:

Studiere die Liste in Ruhe durch und entscheide nach eigener Lust und Laune.

Denjenigen, die sich die kürzesten Werke heraussuchen wollten, um Lesearbeit zu sparen, erklärt Professor von Matt kurz und freundlich, worum es in ihrem Studium geht – dies ist das andere, vielleicht sogar das eigentliche Ziel dieses Akzessbriefs:

Es ist nicht „die Universität“, die dich ausbildet, sondern Du bildest Dich an dieser Universität und mit ihrer Hilfe aus. Du hast es von Anfang an in der Hand, Deine Ausbildung qualitativ schlecht, mittelmässig oder hochstehend zu gestalten. Die Akzess-Arbeit ist dabei Dein erster Testfall.

Im Weiteren findet man in diesem Akzessbrief einige Bemerkungen über Sinn und Zweck des Lesens überhaupt.

Warum studiert man Germanistik?

Man hat eines Tages erfahren, dass einem in der Literatur etwas zugänglich wird, was man anderswo nicht findet, und man hat davon mehr wissen wollen.

Was unterscheidet die professionellen Leser von den Amateuren?

Sie müssen nicht „alles“ gelesen haben – das hat niemand –, aber sie müssen die Fähigkeit haben, zu allem Literarischen, womit sie je konfrontiert werden, kurzfristig Zugang zu finden, es in seinem geschichtlichen Umfeld zu begreifen und zuletzt ein kritisches Urteil zu gewinnen.

Und das Akzessexamen mache eben, „unter anderem, den Amateur zum Professional“.

Die Liste selbst sei weder eine Bestenliste, noch enthalte sie ein „Totalwissen“.

Es geht hier um ein Verfahren, mit dessen Hilfe man innert nützlicher Frist zu einer vielseitigen Kenntnis exemplarischer (nicht: „der besten“) Texte unserer Literatur kommen soll.

Peter von Matts Akzessliste dürfte eine der besten (wenn auch etwa hinsichtlich des Frauenanteils ergänzungsbedürftigen) Zusammenstellungen der deutschsprachigen Literatur sein, mit einem helvetischen Twist (u.a. Autoren wie Johann Gaudenz von Salis-Seewis und viel Jeremias Gotthelf).

Sie ist das Vermächtnis eines Professors, der sich ebenso als Lehrer verstand wie als Forscher.

Teilen über:

Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

2 Kommentare

  1. Liebe Frau Geisel, herzlichen Dank für die Veröffentlichung dieses bemerkenswerten Dokuments – grossartig. Und selbst noch für den anregend, der ein jahrzehntelanges Germanisten-Leben hinter sich hat. Neugierde und Lust des Lesens – wie hat dies von Matt immer verkörpert – und in uns entfacht. Nochmals vielen Dank und herzliche Grüsse Bernhard Echte

    Antworten

  2. Stephanie Jaeckel 25. April 2025 um 10:28

    Wie ungeheuer schön und lebensnah. Ich bekam an der Uni eine Leseliste von 200 Titeln auf das Pult geknallt: Nebenfach Romanistik. Und natürlich im Original zu lesen. Ab dem 16. Jahrhundert. Ich wundere mich noch heute, dass ich das geschafft habe. Ein Vergnügen war es leider nicht. Hier aber spricht eine große Liebe zur Literatur UND zu den Studierenden. Und natürlich auch ein großes Vertrauen in die Fähigkeiten der neu heranwachsenden Germanist*innen. Was für ein Glück, dass Peter von Matt auch unterrichtet hat!

    Antworten

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert