Putins Angriffskrieg, Trumps Schockstrategie, Musks Machtrausch – bis vor wenigen Jahren hätte man sich das im Traum nicht ausdenken können. In unregelmäßigen Abständen lesen wir auf tell klassische Texte vor dieser Folie und fragen: Haben die Klassiker Antworten auf die derzeitigen Verwerfungen des politischen und gesellschaftlichen Raums?
- 1. März 2025: Die Tyrannei der Freiheit. Herwig Finkeldey über Fernando Pessoas „Ein anarchistischer Bankier“
In Thomas Manns Erzählung „Mario und der Zauberer“ von 1930 geht es um die Urlaubserfahrungen einer deutschen Familie am Tyrrhenischen Meer, mit dem Familienvater als Ich-Erzähler. Im ersten Absatz gibt Mann eine Zusammenfassung sowohl des Inhalts als auch der geistigen Grundlage dieser Novelle.
Diese Grundlage ist nichts anderes als der Alltag im faschistischen Italien. Der deutschen Familie wird im Grand Hotel der Platz im Wintergarten mit Blick auf das Meer vorenthalten, dort dürfen nur Italiener sitzen. Eine italienische Adelige beklagt sich über die Fremden: Ein ausklingender Keuchhusten der Tochter stört sie. Am Strand schließlich läuft die achtjährige Tochter nackt zum Meer, um ihren sandigen Badeanzug auszuspülen – dieses Ereignis führt zu einem veritablen Ärgernis mit Polizeieinsatz und Strafzahlung.
Personifizierter Ausdruck dieser „unangenehmen Atmosphäre“ ist der Zauberer Cipolla; sein Auftritt im Badeort wird zu einem „Ereignis“, an dem die ganze Familie teilnehmen möchte.
Künstlernovelle
„Zauberer“ wurde Thomas Mann familienintern genannt, und im Verlauf der Erzählung wird er Cipolla dann auch einen „Künstler“ nennen. Es ist also eine Künstlernovelle, freilich eine sehr spezielle. Denn Cipollas Kunst besteht darin, das Publikum, ohne das keine Kunst auskommt, direkt zu manipulieren: Er ist ein Hypnotiseur. Das Publikum wird nicht von einem Werk oder einer Darbietung überzeugt, vielmehr ist das Publikum als zu hypnotisierende Masse selbst Teil des Werks. Da das Kunstwerk dem Willen des Künstlers unterworfen ist, bedeutet diese Konstellation nichts anderes, als dass diese Unterwerfung nun mit dem Publikum geschieht.
Das ahnen manche Teilnehmer der Show und versuchen sich dagegen zu wehren. Ein junger Römer, der, wie alle, Zeuge wurde, wie Cipolla es mittels hypnotischer Kraft fertigbringt, Zuschauer stepptanzen zu lassen, stellt sich freiwillig zur Verfügung.
Hier nun war es, dass der Herr aus Rom sich meldete und trotzig anfragte, ob der Cavaliere sich anheischig mache, ihn tanzen zu lassen, auch wenn er nicht wolle.
„Auch wenn Sie nicht wollen!“ antwortete Cipolla in einem Ton, der mir unvergeßlich blieb.
Der Kampf beginnt, und es endet, wie es enden muss: Auch der Römer steppt schließlich wie alle anderen hypnotisch manipulierten Teilnehmer der Show.
Der Ich-Erzähler berichtet:
Verstand ich den Vorgang recht, so unterlag dieser Herr seiner Kampfposition. Wahrscheinlich kann man vom Nichtwollen seelisch nicht leben, eine Sache nicht tun wollen, ist auf die Dauer kein Lebensinhalt.
Cipolla spricht den jungen Mann, der sich noch gegen die Manipulation wehrt, direkt an:
„Wer wird sich so quälen? Nennst du es Freiheit – diese Vergewaltigung deiner selbst? Una ballatina! Es reißt dir ja an allen Gliedern. Wie gut wird es sein, ihnen endlich den Willen zu lassen! Da, du tanzest ja schon! Das ist kein Kampf mehr, das ist bereits Vergnügen!“ – So war es, das Zucken und Zerren im Körper des Widerspenstigen nahm überhand […], und so führte der Cavaliere ihn, während die Leute klatschten, aufs Podium, um ihn den anderen Hampelmännern anzureihen. Man sah nun das Gesicht des Unterworfenen, es war da oben veröffentlicht. Er lächelte breit, mit halbgeschlossenen Augen, während er sich „vergnügte“.
Cipolla hat dem Publikum bereits vorher mitgeteilt, dass jeder Widerstand gegen seine Kunst zwecklos sei. Auf die Frage eines Zuschauers, ob Widerstand gegen seine Hypnosekünste etwas ausrichten könnte, antwortet Cipolla:
„Sie werden mir […] damit meine Aufgabe etwas erschweren. An dem Ergebnis wird der Widerstand nichts ändern. Die Freiheit existiert, und auch der Willen existiert; aber die Willensfreiheit existiert nicht, denn ein Wille, der sich auf seine Freiheit richtet, stößt ins Leere. Sie sind frei zu ziehen oder nicht zu ziehen. Ziehen Sie aber, so werden Sie richtig ziehen – desto sicherer, je eigensinniger Sie zu handeln versuchen.“
Das Ende der Erzählung besiegeln zwei Schüsse des Kellners Mario. Nachdem er unter Hypnose statt seiner Angebeteten das abstoßende, vom Alkohol gezeichnete Gesicht des Zauberers geküsst hat, erschießt er diesen mit einem Revolver.
Anders kann man sich des Faschismus‘ nicht entledigen, das erkannte Thomas Mann vor annähernd einhundert Jahren, noch weit vor dem Höhepunkt dieser so fatalen wie verführerischen politischen Heilslehre. Heute kommt einem diese Jahrhunderterzählung – um nichts anderes handelt es sich hier – wie eine doppelte Prophezeiung vor: sowohl der damals unmittelbar folgenden Ereignisse als auch einer Entwicklung, die heute möglich ist.
„Mario und der Zauberer“ weist schon auf Manns Essay „Bruder Hitler“ hin, den er 1938 im Exil verfasste. Darin streicht er die Verwandtschaft des nationalsozialistischen Führers mit dem Künstler noch einmal heraus:
[…] muß man nicht, ob man will oder nicht, in dem Phänomen eine Erscheinungsform des Künstlertums wiedererkennen?
Das Wesen der faschistischen Politiker besteht laut Mann darin, dass ihr „Werk“ das Volk ist, dessen Willen sie formen, genauso wie der Künstler sein Werk formt. Daraus lässt sich in der Summe beinahe schon eine Handlungsempfehlung lesen. Wenn der Faschist unvermeidlich jeden manipuliert und formt, der sich auf ihn einlässt, so darf man eben diesen ersten Schritt nicht gehen. Man ist „frei zu ziehen oder nicht zu ziehen.“ Wer aber die Karten zieht, die der Faschist einem hinhält, zieht unweigerlich die vom Faschisten gewünschten.
Bildnachweis:
Beitragsbild: Niklaus Bächli
Thomas Mann
Mario und der Zauberer
Ein tragisches Reiseerlebnis
Erzählung
Fischer Verlag 1989 · 112 Seiten · 12 Euro
ISBN: 978-3596293209
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