„Öffnen Sie das Buch auf Seite 99, und die Qualität des Ganzen wird sich Ihnen offenbaren.“ (Ford Madox Ford)
Wir lesen mit der Lupe und schauen, was der Text auf dieser Zufallsseite leistet.
(Warnung: Der Page-99-Test ersetzt keine Rezension.)

Die Seite 99 von Kristine Bilkaus Roman Halbinsel ist ernüchternd. Es findet sich kein Wort, das vom normalen Alltagsdeutsch abweicht. Wir begegnen einer Ich-Erzählerin, die über sich nachdenkt – und dies in Floskeln tut, wie wir sie alle die ganze Zeit sagen.
Mittlerweile hörte ich mich so an, wie ich es immer hatte vermeiden wollen.
„So wie es jetzt läuft – das kannst du eigentlich nicht wollen. Was ist aus deinen Ideen geworden? Deinem Aufbruch? Deiner Energie? Das kann doch nicht alles weg sein.“
Manche Leute konnten unerträglich sein.
Mein schlechtes Gewissen meldete sich, wie früher, wenn Linn und ich stritten […]
Anführungszeichen bei Dialogen sind ein Merkmal eher konventionellen Schreibens, manche Texte kommen ohne sie aus. Auf dieser Seite gibt es allerdings nicht nur Anführungszeichen, sondern auch Sätze, die kursiv gedruckt sind – dann nämlich, wenn etwas off stage gesagt, also von der Ich-Erzählerin nur berichtet, erinnert oder imaginiert wird.
Das wirkt ein wenig holzhammerhaft, zumal diese Sätze ausnahmslos trivial sind.
Noch eine Frage von der Sorte Wie stellst du dir deine Zukunft vor.
Jemand im Ort hatte mich gefragt, ob Linn nun zurück wäre aus der Ferne, dazu der blöde Spruch – Na, dann wachsen die Bäume woanders auch nicht in den Himmel.
Lass sie doch mal durchatmen, gib ihr einen Moment, hörte ich Johan sagen, vielleicht möchte sie ja etwas antworten.
Markierungen wie „Noch eine Frage von der Sorte“ oder „der blöde Spruch“ zeigen, dass sich die Autorin der Floskelhaftigkeit dieser Sätze bewusst ist. Vielleicht geht es darum, dieses Gerede als Gewäsch zu denunzieren? Manche Sätze geben gar eine Form des Alltagsjargons wieder, die man in den USA mit dem schönen Wort Psychobabble bezeichnet, doch sie werden wiederum von der Stimme der Ich-Erzählerin geäußert.
[…] und ich in einen Monolog verfallen war, der ihr kaum Raum ließ zu reagieren.Als Kind und Jugendliche war Linn mir ausgeliefert gewesen, auch wenn ich es nicht so empfunden hatte. Ich war ihr Gegenüber, sonst niemand, Johan fehlte.
Die Haltung des Texts wird auf dieser Seite nicht recht deutlich. Was ich auf der ganzen Seite vermisse, ist Verdichtung, das wichtigste Kriterium für literarische Sprache. Manche Sätze lesen sich auf seltsame Weise redundant, es kommt mir vor wie ein Sofa, auf dem zu viele Kissen liegen:
Ob ich mich unbeschwert fühlte oder überlastet und missmutig war, Linn bekam das zu spüren, ich prägte die Stimmung im Haus.
Dass Dinge mehr als einmal gesagt werden, ist ein Kennzeichen nachlässigen Stils. Das gilt auch für die beiden Beispiele, die das oben beschriebene Stimmungsproblem illustrieren. Alles bezieht sich auf die Feststellung sechs Zeilen weiter oben: dass Johan fehlte.
War das Abendessen fertig, nach einem Streit, konnte niemand sonst an Linns Tür klopfen und ohne Zwischenton sagen: Es gibt Essen.
Morgens fehlte die unbeteiligte dritte Person, um Linn zu wecken, ohne mit einem reservierten Ton die Stimmung gleich wieder zu dämpfen.
Die Wiederholung von „ohne“ und „Ton“ ist kein Schönheitsfehler, sondern ein Symptom: Auch in „konnte niemand sonst“ und „fehlte die unbeteiligte dritte Person“ steckt die Wiederholung. Es ist ein Symptom für schlampiges Formulieren, für fehlende stilistische Wachheit – für eine eigenschaftslose Sprache.
Hat der Roman Qualitäten, die aus der Seite 99 nicht hervorgehen?
Kristine Bilkau
Halbinsel
Roman
Luchterhand 2025 · 224 Seiten · 24 Euro
ISBN: 978-3630877303
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Ich habe die Autorin gerade im Rahmen von „Leipzig liest“ aus diesem Text lesen hören — an einem Leseort, an dem ich aufgrund der Architektur nur die Stimme hörte, ohne sie selbst am Pult zu sehen. Ich konnte nicht umhin zu denken, was für ein langweiliger und sehr biederer Text dies ist, ohne Rätsel oder ästhetischen Mehrwert. Der Seite 99-Test hat diesen Eindruck bestätigt und gezeigt, dass es auch nach den ersten 15 Seiten so weitergeht. Keine Ahnung, warum dies den Preis der Leipziger Buchmesse verdient!