Der Schmerz der Protagonistin wird in einer ganz eigenen Sprache manifest, deren rhythmischer Bann während der Lektüre des ganzen Buches nicht nachlässt. Die Rede ist von dem Roman Mutters Tag, dessen erste Fassung die aus Rumänien stammende Carmen-Francesca Banciu bereits 2008 geschrieben hatte und der nun in einer Neuauflage beim Verlag PalmArt Press vorliegt.
Maria-Maria, das alter ego der Autorin, soll mit körperlicher Züchtigung und seelischer Grausamkeit zu einem besseren, einem neuen Menschen geformt werden, so verlangte es im kommunistischen Rumänien die Parteidoktrin. Doch die Eingangsszene des Romans zeigt erst einmal die erwachsene Tochter, die ans Sterbebett der Mutter eilt. In dieser Szene wird bereits die ganze Härte einer im Keim verdorrten Mutter-Tochter Beziehung spürbar:
Ich brachte Blumen mit. Aber Mutter war Blumen nicht gewohnt. Ich bin noch nicht tot, sagte sie. Die fleischigen Rosen wirkten plötzlich obszön. Sie sagte: schmeiß sie weg, wenn dir nichts besseres einfällt. Mir fiel gar nichts ein. Ich war wie erstarrt.
Der „neue Mensch“
Über vierzehn lange Seiten hinweg wird die quälende Szene am Sterbebett und die Frage „Wohin mit den Blumen“ in immer neuen Anläufen ausgeleuchtet. Angesichts des nahen Todes der Mutter beginnt sich im Innern der Tochter ein Karussell zu drehen: Will sie die Mutter sehen oder lieber doch nicht? Was kann sie sagen? Die Mutter will keine Blumen, sondern ein Gebet, obwohl sie nie gebetet hat. Die Blumen werden zur Folie der ganzen Tragik der Mutter-Tochter-Vater-Beziehung. Für die Mutter stinken sie, sie sind Boten des Todes, nicht der Schönheit oder Freude, denn beides scheint aus dem Leben in der Tristesse Rumäniens verbannt.
Niemand hat der Mutter je Blumen geschenkt. Vater wusste nicht einmal, dass es Blumen gibt.
Es ist diese Lakonie, mit der Banciu ein familiäres Elend einfängt, das nicht auf die Familie begrenzt ist. Der „neue Mensch“ im Rumänien der 1950er und 1960er Jahre brauchte keine Gefühle, er sollte nur funktionieren für die neue Gesellschaft, und dafür bedurfte es keiner Blumen, wenn überhaupt, dann Plastikblumen.
Die Mutter leidet unter Kopfschmerzen, unter der Gefühlskälte des eigenen Mannes und der Verrohung in der sozialistischen Gesellschaft. Sie schuftet, sie kauft ein, sie macht den Haushalt. Die Mutter leidet, und glaubt zugleich an die Parteidoktrin. Sie überträgt die selbst erlebte Härte des Lebens auf die Tochter: Alle Verbote, alle Schläge mit dem Riemen, den die Tochter selbst holen soll, sind „zum Besten des Kindes“.
Vielleicht meinte Mutter mit Liebe eigentlich Aufpassen. Und mit Aufpassen meinte sie eigentlich Kontrollieren. Und mit Kontrollieren meinte sie Zwingen. Und mit Zwingen meinte sie Züchtigen. Und mit Züchtigen meinte sie Erziehen. Und mit Erziehen meinte sie das Beste für das Kind.
Ein Wort schiebt sich ins andere und wandelt sich dabei, rhythmisch, klar und unerbittlich eine eigene Logik aufzeigend. Dadurch werden zum einen Gewalt und Schmerz besonders spürbar. Zum anderen aber unterläuft der Text auf diese Weise geschickt eine sich zuweilen aufbauende Empörung. Die Verstrickungen werden deutlich, in denen Mutter und Vater selbst gefangen sind. Als Maria-Maria in die Schule kommt, verbrennt die Mutter all ihre Puppen, denn nun sei sie ja groß und müsse sich auf sich selbst verlassen. Liebe und Zärtlichkeit erfährt das Kind nicht, es gibt keine menschliche Nähe, und so steht der Wunsch groß und schmerzhaft im Raum: „Ich hätte gern gewusst, was Mutter denkt, wer Mutter ist.“
Eine scheinbar einfache Frage. Doch sie ist nicht leicht zu beantworten angesichts der Monstrosität eines Lebens, das aus ideologischem Fanatismus, patriarchalem Zwang und permanenten Abspaltungen besteht. Banicu wählt einen ungewöhnlichen Weg, indem sie sich dem Körper der Mutter widmet. Nicht als Ganzes, sondern Körperteil für Körperteil kapitelweise aufzählend: Mutters Haare, Mutters Arme, Mutters Hände und Füße, Mutters Ohren, Mutters Wangen, Mutters Herz und so fort.
Der Schmerz der Mutter
Mithilfe einer eindringlichen und zugleich poetischen, Zeile für Zeile tiefer bohrenden Sprache dringt die Autorin von der Körperoberfläche in die Tiefenschichten der Mutter-Gefühle vor. Über den schmerzenden Nacken, die blauen Spuren auf den misshandelten Wangen bis zu den traurigen Augen folgt der Text behutsam und doch unerschrocken dem Schmerz der Mutter, die als Kind selbst Gewalt erfahren hat, in ihrer eigenen Familie und im Nonnenkloster. Schließlich werden auf diesem Weg die zwei vorherrschenden Gefühle der Mutter benannt: Angst und Scham.
Hier zeigt sich die Kraft des literarischen Schreibens: Im Buch geschieht etwas, wozu die Mutter selbst nicht in der Lage war, nämlich ihren Körper und ihre Gefühle bewusst wahrzunehmen.
Und so ist es ein Text nicht nur über die Mutter, sondern mehr noch ist es ein Text für die Mutter. Bei allen schonungslosen Einzelheiten über Missbrauch und Traumata spricht dieser Text von der Zärtlichkeit eines Versuches der Annäherung an die Mutter – und vom Scheitern dieser Versuche. Durchdrungen von einer Sinnlichkeit, die auch von der Schönheit der Mutter erzählt. Die sinnliche Sprache wird dabei zugleich von einer eigenen Melange aus Poesie und Philosophie getragen, indem der Text sich immer wieder selbst widerspricht und dadurch die Vieldeutigkeit des Lebens aufleuchten lässt:
Mutters Arme waren schlank. Ihre Bewegungen voller Eleganz. Ihre Haut roch gut. Mutter parfümierte sich nicht. Mutter roch nach Mutter, und das war schön. Und ich suchte den Geruch. Aber wenn ich mich Mutter näherte, verschwand er. Und ich musste weiter suchen. Und fand ihn nirgends. Denn nichts roch nach Mutter. Nicht einmal sie selbst.
Kleiderkauf
Der Untertitel des Buches heißt „Das Lied der traurigen Mutter“. Ihr Schmerz und ihre Traurigkeit bekommen Raum im Buch. Und in diesem Raum findet die Tochter schreibend eine Beziehung zur Mutter. In dieser Schmerzverbundenheit glimmt dann sogar so etwas wie eine Liebe zur Mutter auf. In der Geschichte vom grünen Kleid findet diese Liebe einen Ausdruck, berührend, komisch und hinreißend.
Die Tochter begleitet die Mutter zum Einkauf in die Stadt. Wie immer will die Mutter Kleidung für den Vater und die Tochter besorgen, nicht für sich, doch dieses Mal gelingt der Tochter ein kleiner Coup. Nachdem die Mutter eingesehen hat, dass sie vielleicht doch ein neues Kostüm braucht und sich dann für ein sozialistisch graues entscheidet, um bloß nicht aufzufallen, nutzt die Tochter den Vorgang der Anprobiererei, um der Mutter Schritt für Schritt ein farbenfroh grünes und sehr schickes Kleid nahe zu bringen, das am Ende tatsächlich gekauft wird.
Zu Hause zeigt die Mutter nur Desinteresse für das neu erworbene Kleid: Sie hat zu tun, da kann sie nicht vor dem Spiegel stehen und staunen. Die Tochter bleibt hartnäckig, und am Ende geschieht ein Wunder: Die Mutter betrachtet sich im Spiegel. In dieser Szene – genau genommen sind es drei oder vier – verdichtet sich die poetische Suche nach einem anderen Möglichkeitsraum zwischen Mutter und Tochter. Die Liebe der Tochter, die nichts sehnlicher wünscht als eine Mutter, die sich selbst als Frau annimmt, die sich etwas gönnt und so etwas wie Glück empfinden kann. Und eine Mutter, die einmal zumindest ihre Schönheit sehen und einen Anflug von Stolz erfahren kann. Die in dieser einen Szene vor dem Spiegel einmal alles hinter sich lassen kann: die Plackerei, die Lieblosigkeit (vielleicht den Betrug?) des Vaters, die Schmerzen, die Freudlosigkeit. Das Kleid ist eben mehr als ein Kleid, es ermöglicht ihr für einen Moment eine andere Sicht auf sich selbst. Nur für einen Moment, aber in diesem kommen sich Mutter und Tochter doch einmal nahe.
Der Schmerz der Großmutter
Die größte Nähe zwischen Mutter und Kind ereignet sich jedoch im Gebären und Sterben. Beides wird in „Mutters Tag“ auf eine Weise sprachlich durchdrungen, die in der zeitgenössischen Literatur einzigartig ist. Auch die Totgeburt durch Abtreibung ist Teil der Erzählung. Erwähnt wird auch die Mutter der Mutter, die das Sterben ihrer Tochter unter großem Schmerz miterlebt. Und dieser Schmerz der Großmutter über den Tod ihrer Tochter, fühlt sich an wie „eine neue Geburt“.
Hier passt die Wendung, wonach ein Text mit dem Körper geschrieben sei.
Mutters Mutter hatte ihre Tochter verloren.
Sie verstand das.
Sie verstand es mit dem Kopf.
Sie verstand es mit dem Herzen.
Sie verstand es mit der Haut.
Mit dem Bauch.
Mit dem Knie.
Mit dem Ellbogen.
Mit der Lunge.
Mit ihrem ganzen Wesen.
Sie verstand es und nahm es an.
Es war Schmerz.
Es war eine neue Geburt.
Ich verstand Großmutters Schmerz.
Ich spürte Großmutters Schmerz brennen in meinem Hals.
Der Text wächst so schließlich über die konkrete Mutter-Tochter-Beziehung hinaus. Banciu gibt der Fragilität des Lebens in all ihrem Schrecken und ihrer Schönheit eine Sprache. Wie soll man diese Zerbrechlichkeit beschreiben? Vielleicht als eine Form des lyrischen Innehaltens: das Schmerzhafte und Erschütternde des Lebens festhalten und es zugleich dadurch wandeln, dass die Worte sich weitersprechen – bis sich in der Sprache der Gegensatz von Leben und Tod auflöst.
Festhalten und Lösen des Schmerzes in einem Akt. Ein Annehmen des Lebens in all seiner Widersprüchlichkeit, in der Gebären und Sterben vielleicht weit weniger getrennt voneinander sind als wir gemeinhin glauben.
Bildnachweis:
Beitragsbild: Kim Hammar (Alamy)
Carmen-Francesca Banciu
Mutters Tag. Das Lied der traurigen Mutter
Roman
Mit einem Nachwort von Sieglinde Geisel
PalmArt Press 2024 · 252 Seiten · 20 Euro
ISBN: 978-3962581961
Bei yourbook shop oder im lokalen Buchhandel

Das ist so genau gelesen und auf den Punkt beschrieben….bin begeistert. Natürlich als Fan dieser Autorin,die sich was traut und schreiben kann. Und was zu erzählen hat.
💗 Das ist eine der besten Kritiken, die ich je gelesen habe – so eine scharfsichtige Analyse und empathische Einfühlung zugleich in die zutiefst weibliche Problematik einer Mutter-Tochter-Beziehung, geschrieben von einem Mann 😂🤣, nämlich Frank Hahn🥰🌹 , das freut mich innig für Banciu Carmen-Francesca, deren Roman ich jedem ans Herz lege – ganz egal, ob Mann oder Frau oder was auch immer, Hauptsache: MENSCH.