Unter den zahlreichen Publikationen zum Thomas Mann-Jahr verdienen zwei Bücher besondere Beachtung: Der Literaturwissenschaftler Kai Sina, Mitherausgeber der neuen großen Werkausgabe, stellt Thomas Mann in seinem Buch Was gut ist und was böse als politischen Aktivisten dar. Mely Kiyak wiederum gibt Manns Rundfunkreden gegen Nazi-Deutschland neu heraus, unter dem Titel Deutsche Hörer! So sprach Thomas Mann sein Publikum an, als er über BBC-Deutschland Radiobotschaften nach Deutschland schickte.
Thomas Manns Verhältnis zum Zionismus
Es sind die richtigen Bücher zur richtigen Zeit. Beide Autor:innen stellen darüber hinaus klar, dass das alte Urteil, Thomas Mann sei im Grunde seines Wesens immer ein „Unpolitischer“ geblieben, in dieser Apodiktik nicht haltbar ist. Freilich hat Thomas Mann in der ihm eigenen Ambivalenz selbst kräftig dafür gesorgt, dass solche Urteile überdauern konnten. Er wollte die Welt ästhetisch sehen. Aber die Zeit, in der er lebte, ließ ihn nicht. Daher seine berühmten Worte, dass er „mehr zum Repräsentanten, als zum Märtyrer“ geboren sei. Und zum politischen Aktivisten schon gar nicht – der er dann doch wurde.
Kai Sina nimmt sich dabei in seinem Buch Was gut ist und was böse eines Themas an, das bisher nur wenig Beachtung gefunden hat: das Verhältnis Thomas Manns zum Zionismus. Das ist der Faden, an dem Sina die Geschichte des politischen Aktivisten Thomas Mann auffädelt.
Sinas Ausgangspunkt ist der wegweisende Essay „Zur Judenfrage“ aus dem Kaiserreich, auf dessen Bedeutung bereits Marcel Reich-Ranicki hingewiesen hat. Der Anlass war eine Rundfrage von Julius Moses aus dem Jahr 1907, in der er die Angeschriebenen bat, sich zur „Judenfrage“ zu äußern. Dieser Begriff sei damals noch nicht negativ konnotiert gewesen, so Sina:
Vielmehr wurde der Begriff von unterschiedlichen jüdischen und nichtjüdischen Parteien für ihre jeweiligen Interessen und Ziele in Anspruch genommen.
Hier nun erteilt Mann den „Zionisten von der strengen Observanz“ eine klare Absage, weil die Juden für Deutschland einen „unentbehrlichen Kultur-Stimulus“ darstellen würden. Er betont die angebliche Andersartigkeit der Juden durchaus im essentialistischen Sinne und bezeichnet sich selbst als „Philosemiten“.
Die „Betrachtungen“ und ihre Folgen
Manns politische Verwirrungen in der Folge des ersten Weltkrieges unterschlägt Kai Sina nicht. Es sind Thomas Manns Schriften nach 1914, zunächst die „Gedanken im Kriege“, dann der Riesen-Essay Betrachtungen eines Unpolitischen, die aus heutiger Sicht befremdlich wirken. Sina schreibt zunächst:
Vom politischen Frühwerk aus betrachtet, kommt man nicht umhin, Manns Entwicklung in der Entstehungszeit der Betrachtungen als Diskontinuität zu begreifen, in der Sache wie im Ton, in der Form wie in der Rhetorik, bis hin zur Materialität.
Dann aber weist Kai Sina darauf hin, dass man die Betrachtungen auch als Literatur, als einen „verschleierten Roman“ verstehen kann, in dem Thomas Mann Positionen ausprobiert, gerade so, wie er es im Zauberberg erneut unternimmt.
Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu dem, was manche als Thomas Manns Wandlung beschrieben haben. Vor allem seine Gegner wurden enttäuscht, die wegen der Betrachtungen geglaubt hatten, er sei einer von ihnen. Auch Thomas Manns Einstellung zum Zionismus wandelte sich.
Zunächst kam es aber 1921 noch zu einem Streit mit seiner (jüdischen) Ehefrau Katia über einen projüdischen Essay. Sie hieß die Veröffentlichung nicht gut, wahrscheinlich aus ökonomischen Ängsten, denn Thomas Manns Essay ist Zeugnis der Solidarität mit den Juden und wendet sich gegen die „kulturelle Reaktion“. Deren „plump-populärer Ausdruck“ manifestiere sich nirgendwo abscheulicher als im „Hakenkreuz-Unfug“, so Thomas Mann bereits 1921!
Dann aber ließ sich Thomas Mann beim jüdischen Thema von niemanden mehr zurückhalten. Er wird Mitglied in dem Komitee Pro Palästina und präferiert zunächst einen „spirituellen Zionismus“. Im Gespräch mit der Jewish Telegraphic Agency sagt Mann: „The Jew has not come to conquer but to fullfill himself and to liberate his soul. […] After all, the Arabs have been here for over a 1000 years.“
Kai Sina fasst zusammen:
Mit einem aus heutiger Sicht rührenden Optimismus erdenkt sich Mann eine Zukunft in Eintracht und Kooperation: Wenn die Juden darauf achtgäben, vorsichtig zu handeln, ließe sich gewiss mit der arabischen Bevölkerung zusammenleben und gemeinsam etwas aufbauen.
Fähigkeit zur Neujustierung
Manns Meinung wird sich im Verlauf der Geschichte ändern, und nach dem Zweiten Weltkrieg wird er unter dem Eindruck der Shoa einen politischen Zionismus befürworten: die Errichtung eines jüdischen Staates. Sina schreibt:
So klar und emphatisch sich Thomas Mann hinter die Juden stellt, […] so einfach macht er es sich in Hinsicht auf ihr Zusammenleben mit den Arabern.
Der oben noch erwähnte „rührende Optimismus“ ist – folgt man Sina – von einem „als kolonial“ zu bezeichnendem Denkmuster verdrängt worden. Nun, ob hier bei Thomas Mann wirklich ausschließlich „koloniales“ Denken vorliegt, das er ja davor gerade in Bezug auf Palästina nicht gezeigt hat, muss hier vielleicht nicht ausdiskutiert werden. Eine strikte Befürwortung eines jüdischen Staates hatte unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und somit nach dem Bekanntwerden des Mordes an den europäischen Juden sicherlich noch andere Motivationen als ein „koloniales Denkmuster“, das wir bei Thomas Mann, 1875 als Großbürgersohn geboren, sicherlich voraussetzen dürfen. Jedenfalls wird Thomas Mann diese grundsätzliche Solidarität mit Israel Zeit seines Lebens nicht mehr aufkündigen.
Bekanntlich war er lange Zeit auch ein glühender Verehrer der USA, wurde dann aber nach den Erfahrungen mit dem McCarthyismus zu einem Kritiker und verließ am Ende seines Lebens das Land. Auch seine Einstellung zum Zionismus war einem ständigen Wandel unterzogen: von der ursprünglichen Ablehnung über die Befürwortung des kulturellen und dann auch des politischen Zionismus.
Wie sich seine Haltung im weiteren zeitgeschichtlichen Verlauf entwickelt hätte, können wir nicht wissen. Ob er aber beispielsweise ein Fürsprecher Netanjahus gewesen wäre, darf man immerhin bezweifeln. Seine grundsätzliche Fähigkeit zur Neujustierung sollte jeden davon abhalten, Mann in heutigen politisch-moralischen Diskussionen als Kronzeugen für eine bestimmte Position aufzurufen.
Polemik in den Radioansprachen
Thomas Mann hat sich nicht nur in seinen Essays politisch geäußert. In seinen Radioansprachen erweist er sich sowohl als leidenschaftlicher Polemiker wie auch als Analytiker, der Debatten beinahe Jahrzehnte vorwegnimmt. Mely Kiyaks Neuausgabe seiner Radioansprachen zeigt die visionäre Schärfe seines Denkens. Zunächst macht er in diesen Reden vor allen Dingen den Mord an den europäischen Juden öffentlich und das erstaunlich früh, schon 1942. Er hat die ersten Berichte nie als unglaubwürdig zurückgewiesen, wie es unter anderem Hannah Arendt tat, die das nach dem Krieg auch zugab: „Ich habe es nicht geglaubt!“ Thomas Mann hatte es sofort „geglaubt“, um nicht zu sagen: gewusst. Denn er kannte das Kulturvolk, die deutsche Gesellschaft nur zu gut, die deutsche Volksgemeinschaft, aus der er selbst kam und vor der er schließlich floh. Und er sprach dieser Volksgemeinschaft ins Gewissen. Nachdem er minutiös über die Vernichtung der Juden im sogenannten Generalgouvernement berichtet hat, fragt er die Deutschen aus dem Radio heraus: „Wisst ihr Deutsche das? Und wie findet ihr das?“
In der berühmten Rede vom April 1942 stellt Thomas Mann weiterhin klar, dass die Luftangriffe auf „Hitlerland“ (wie er Deutschland nennt) und speziell auf seine Vaterstadt Lübeck, Ausdruck dessen sei, „daß alles bezahlt werden muß“. Hier schon deutet Mann an, dass „Deutschland zu schluchzen hat auch über das, was es erleidet“. Die Diskussionen über den Bombenkrieg und Deutschland als Opfer sollten erst fünfzig Jahre später tatsächlich gesamtgesellschaftlich geführt werden.
Am 14. Januar 1945 erklärt Mann, was nötig sei:
die volle und rücksichtslose Kenntnisnahme entsetzlicher Verbrechen, von denen ihr tatsächlich heute noch das Wenigste wisst, teils, weil man euch absperrte […] teils, weil ihr aus dem Instinkt der Selbstschonung das Wissen um dieses Grauen von euren Gewissen fernhieltet. Es muß aber in euer Gewissen dringen, wenn ihr verstehen und leben wollt, und ein gewaltiges Aufklärungswerk, das ihr nicht als Propaganda mißachten dürft, wird nötig sein, um euch zu Wissenden zu machen.
Hiermit nimmt Thomas Mann die Re-Education und die deutschen Vorbehalte gegen diese vorweg – Vorbehalte, die heute wieder formuliert werden, zum Beispiel von Alice Weidel.
Mely Kiyak weist in ihrem bemerkenswerten Vorwort darauf hin, dass Thomas Mann gerade deswegen beispielgebend ist, weil ihm, dem Großbürgersohn, das Revoluzzertum nun gerade nicht in die Wiege gelegt worden ist.
Sie schreibt:
Seit ich mich mit Thomas Mann und seinem Widerstand intensiv auseinandersetze, lande ich immer wieder bei diesem Gedanken: Für jemanden, der aus ethnischen, religiösen oder sozialen Gründen ausgegrenzt und verfolgt wird, ist der Kampf für Solidarität und der Widerstand gegen ein faschistisches System notwendig und irgendwie auch selbstverständlich. […] Aber für jemanden wie Thomas Mann („männlich, weiß, privilegiert“ wären wohl die heutigen Schlagwörter) ist seine Beharrlichkeit und sein Aufbäumen gegen das NS-Regime zunächst einmal eine politische Entscheidung, zu der er nicht gezwungen war.
Es war ein innerer Zwang, der Thomas Mann trieb. Die Zeitumstände machten aus dem Schriftsteller, dessen Schreiben immer zuerst der Ästhetik verpflichtet gewesen ist, auch einen politischen Aktivisten.
Bildnachweis:
Beitragsbild: Thomas Mann 1947 in der niederländischen Wochenschau
Kai Sina
Was gut ist und was böse
Thomas Mann als politischer Aktivist
Propyläen 2024 · 304 Seiten · 24 Euro
ISBN: 978-3549100851
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Thomas Mann
Deutsche Hörer!
Radiosendungen nach Deutschland
Herausgegeben und mit einem Vorwort und einem Nachwort versehen von Mely Kiyak
S. Fischer 2025 · 272 Seiten · 24 Euro
ISBN: 978-3103976854
Bei yourbook shop oder im lokalen Buchhandel
