Mit dem Erscheinen dieses Buches seien alle vorherigen Biografien „verwelkt“, meint Gustav Seibt in einem Facebook-Beitrag zu Tilmann Lahmes neuer Biografie über Thomas Mann. Lahmes Fokus liegt dabei eindeutig auf Manns unterdrückter Homosexualität. Vor allem neu ausgewertete Briefe an Manns Schulfreund Otto Grautoff sowie bisher fehlende Tagebuchpassagen – beide werden im Anhang erstmals abgedruckt – sorgen hier für Klarheit.
Die „konträre Sexualempfindung“
Tilmann Lahme stellt anhand dieses Materials unumstößlich klar, dass Thomas Mann nicht „auch“ homosexuelle Neigungen hatte, dass er nicht „bisexuell“ gewesen ist, nicht nur eine „homosexuelle Achillesferse“ hatte oder wie die Formeln noch heißen mochten. Thomas Mann war schlicht homosexuell. Seine sechs Kinder, die er mit seiner Ehefrau Katia gezeugt hat, belegen nicht das Gegenteil. Vielmehr ist seine Ehe Ausdruck des Zeitgeistes, in dem sich Homosexuelle Ende des neunzehnten Jahrhunderts behaupten mussten.
Dies gilt auch für den medizinischen Zeitgeist, das damalige medizinische „Konzept“ der Homosexualität. Nach diesem Konzept wurde die Homosexualität, damals auch „konträre Sexualempfindung“ genannt, als therapiebedürftige Störung verstanden.
Nach all den Spekulationen zuvor in der Forschung, was Thomas Mann gekannt haben könnte von den beginnenden wissenschaftlichen Diskursen seiner Zeit um die „conträre Sexualität“, sorgen hier zwei Briefe für Klarheit: Er las noch in der Lübecker Jugendzeit die beiden zentralen Bücher von Krafft-Ebing und Moll zum Thema Homosexualität.
Mann kommt nach der Lektüre zur niederschmetternden Conclusio: „degenerative Hirnerkrankung, Perversion, schwer heilbar“.
Sublimation durch das Schreiben
Tilmann Lahmes Fokus auf die Homosexualität ist legitim und nachvollziehbar. Allerdings bleibt dadurch anderes auf der Strecke. Über das wichtige Thema Thomas Mann und die Juden liest man bei Lahme nichts substanziell Neues. Dabei war etwa die Ehe mit Katia Mann nicht nur die Ehe eines Homosexuellen mit einer Frau, sondern auch die Ehe eines für den Antisemitismus Verführbaren mit einer Jüdin.
Otto Grautoff, so erfährt man bei Lahme, ließ sich in der Praxis von Albert Moll in Berlin hypnotisieren. In Beschwörungsformeln muss er der angeblich krankmachenden Masturbation abschwören. Thomas Mann hingegen verordnet sich bewusste Entsagung, kaltes Duschen und diätetische Maßnahmen. Die Nietzsche-Formel aus Jenseits von Gut und Böse wird zu einer entscheidenden Metapher: Man habe „die Hunde im Souterrain“ gefälligst an „die Kette“ zu legen.
Bei Thomas Mann läuft das Kupieren der Begierde schließlich zum einen auf eine Ehe mit einer Frau hinaus; er nennt das selbst „sich eine Fassung geben“. Zum anderen werden die unterdrückten Wünsche klassisch freudianisch sublimiert: mit Hilfe des Schreibens. Im Laufe seines Lebens jedoch drängen die unterdrückten Wünsche immer wieder nach oben. Schon auf der Hochzeitsreise nach Genf notiert sich Thomas Mann in seinem Notizbuch die Namen zweier Psychiater und eines Hypnotiseurs.
Der verschwiegene Freund
Die Erlebnisse – zum Beispiel auf dem Lübecker Schulhof, mit Klaus Heuser auf Sylt, mit einem polnischen Jungen in Venedig vor dem ersten Weltkrieg oder mit dem bayrischen Kellner Franzl Westmeier 1950 in Zürich – sind hinreichend bekannt. Tilmann Lahme zeichnet die verschlungenen Wege vom Erleben und Erleiden zum sublimierenden Gestalten dezidiert und kenntnisreich nach. Die frühe Liebe auf dem Lübecker Schulhof wird in „Tonio Kröger“ verarbeitet und dann noch einmal in Der Zauberberg (Pribislav Hippe), der junge Pole in Venedig wird Anlass zum „Tod in Venedig“ sein. Und der Amphytrion-Essay respektive der Michelangelo-Essay spiegeln die Bekanntschaften mit Klaus Heuser und Franzl.
Wann Katia Mann, geb. Pringsheim, von der geheimen Neigung ihres Mannes erfuhr, ist letztlich unbekannt. Sicher ist aber, dass sie schließlich Bescheid wusste. Im Tagebuch spricht Thomas Mann von der „armen Katia“, der er die „letzte Geschlechtslust“ nicht bereiten könne. Und von seiner „Dankbarkeit“.
Das Verdrängen der eigenen Homosexualität bedeutete für Mann auch das Verschweigen des Freundes, mit dem er sich wie mit keinem sonst offen über seine Homosexualität ausgetauscht hat. Das Ende des Kontaktes mit Otto Grautoff – von belanglosen Briefen abgesehen – wirft auf Thomas Manns Charaktereigenschaften kein günstiges Licht. Freilich hängt dieses Ende auch damit zusammen, dass ihr gemeinsames Thema damals kein öffentliches sein durfte. Thomas Mann dürfte schlicht Angst vor Enttarnung gehabt haben. Dass diese Freundschaft ihm wichtig gewesen ist, bezeugt die Widmung des elften und letzten Teils von Die Buddenbrooks: „Meinem Freunde Otto Grautoff“.
Die Ignoranz der Germanistik
Engagiert rückt Tilmann Lahme seinen Germanisten-Kollegen zu Leibe, die das „Problem“ der Homoerotik bei Thomas Mann größtenteils übergingen, dies obwohl die Fakten längst auf dem Tisch lagen und auch der breiteren Öffentlichkeit im Feuilleton beispielsweise durch Marcel Reich-Ranicki oder auch durch Hans Mayer nach der Veröffentlichung der Tagebücher mitgeteilt worden waren. Es gab Ausnahmen. Lahme erwähnt die mittlerweile wieder aus der Versenkung aufgetauchte Doktorarbeit von Karl Werner Böhm (1991!), die verdienstvollen Arbeiten von Gerhard Härle sowie Heinrich Deterings wunderbares Buch Juden, Frauen und Literaten.
Jenseits dieser Ausnahmen aber schwankten die Gelehrten zwischen Ignoranz und Unverschämtheit: Manche bemühten sogar das Wortungetüm „Homosexualitätskeule“, die von einer „bestimmten Klientel“ geschwungen werde. Thomas Manns Biografie und seine Literatur sind von diesem Konflikt geprägt wie von nichts anderem. Seine „Lebensbeichte“ im Doktor Faustus ist wortwörtlich zu verstehen: Er „durfte nicht lieben“.
Tilmann Lahme übernimmt die Formulierung am Ende seiner Biografie:
Sein Leben, seine Literatur und seine Tagebücher erzählen die fesselnd-traurige Geschichte eines Mannes, der nicht lieben darf.
Bildnachweis:
Beitragsbild: Thomas Mann 1910
ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Unbekannt / TMA_0057
Tilmann Lahme
Thomas Mann
Ein Leben
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ISBN: 978-3423284455
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