In den Debatten um Peter Handke geht es kaum je um seine Prosa. Wir nehmen seine jüngsten Werke unter die Lupe und suchen nach Kriterien.
Die bisherigen Texte in chronologischer Reihenfolge:
- Page-99-Test zu Die Obstdiebin
- Ob der Kaiser nackt ist…
- P.S. zum Page-99-Test: Hundert Seiten Handke
- Grundanders anfangen
- Vorgetäuschter Tiefsinn
- „Nur keine Hast auf den Zwischenstrecken…“
- Schleife um Schleife, mit Riesenumwegen…
Das neue Buch von Peter Handke hat – als erstes nach der Nobelpreisverleihung – sofort viel Aufmerksamkeit gefunden, und da es mit 160 Seiten relativ schmal bemessen ist, lädt es offenbar zum schnellen Lesen ein, was auch schon mal ein Überlesen werden kann. Was in diesem Fall besonders schade ist, da es sich um einen Text handelt, der – über jene beseelende, tastend-tanzende Rhythmik der Sprache hinaus, die man von Peter Handke so oder ähnlich erwarten mag – weit reichende Reflexionen zu grundlegenden moralischen, philosophischen und tiefenpsychologischen Fragen anregt.
Diese kommen mir in dem Beitrag von Sieglinde Geisel zu kurz. Sie ärgert sich erneut über Handkes Stil und sagt ohne Umschweife: „Ich fühle mich als Leserin nicht angesprochen.“ Das ist eine ehrliche Aussage, dennoch würde ich erwidern, dass sie unter diesen Umständen Handke ja nicht stets aufs Neue lesen müsse. Warum tut sie es dennoch? Um am Ende ein gnadenloses Urteil zu fällen? Die Rache der verärgerten Leserin – oder der Journalistin – an dem ungeliebten Autor?
Vielleicht ist gerade das Rachemotiv eines, das jeden und jede von uns sehr persönlich angeht. Als ob Sieglinde Geisel unbewusst den Vorwurf bestätigen möchte, den der Erzähler in Handkes Buch gegen die „Schriftsprache der Zeitungen“ erhebt, deren Gewalt als die „alleinrichtige, besser wissende, allesdeutende, allesbeurteilende […] ihren wehrlosen Opfern nie wiedergutzumachendes Unrecht zufügt“. In dieses Bild passen die wüsten Polemiken, mit denen Geisels Besprechung endet. Da wird das Rache-Motiv als „bloßer Köder“ abgetan, und die Rede ist – den Autor persönlich verletzend – vom „recycelten Trauma als plot device“ (anspielend auf den Selbstmord der Mutter des Autors). Abgesehen von der übergriffigen Wortwahl frage ich mich, wie es gelingen kann, ein Buch so grundlegend misszuverstehen, das neben allen anderen darin verhandelten Fragen ein liebevolles Gedenken an die Mutter des Autors ist.
Doch eines nach dem anderen. Ich lese Das zweite Schwert als ein Buch über die Bedeutung von Literatur für das Zusammenleben von Menschen. Im Folgenden möchte ich dies begründen, wobei ich nur punktweise auf einzelne Kommentare von Sieglinde Geisel eingehen werde.
Innerer und äußerer Dämon
Ich beginne mit dem Rachemotiv. Können wir überhaupt jemand anderen rächen? Und können wir eine solche Tat dann auch noch delegieren? Zwei Fragen, die unausgesprochen in Handkes Text auftreten, um auf ein zentrales Motiv hinzuführen: die Einbildung. Es geschieht fortwährend, dass sich Menschen einbilden, ein Trauma, ein unbearbeitetes Gefühl, einen seelischen Konflikt dadurch aufzulösen, dass sie eine Antwort im Außen suchen. Sie schaffen sich einen äußeren Dämon, um sich nicht mit dem Dämon in sich selbst beschäftigen zu müssen und bilden sich ein, dass dieser oder jene ihr Feind, Verfolger oder der Urheber all ihrer Probleme sei. In der Psychologie spricht man dann von Projektion. In Das zweite Schwert wird eine Journalistin zur Projektionsfläche für den Ich-Erzähler: Diese habe vor vielen Jahren seiner Mutter eine schwere Kränkung zugefügt, und zwar durch die Behauptung, sie, die Mutter, habe als junges Mädchen den Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland bejubelt. Heute, hier und jetzt, sieht der Ich-Erzähler den Zeitpunkt gekommen, die Mutter durch die Ermordung der Journalistin zu rächen.
Der Erzähler macht sich also auf den Weg zu dieser Frau, wobei die Menschen, Landschaften und assoziativen Bilder, die dem Autor unterwegs begegnen, den Hauptteil der Erzählung ausmachen. Tatsächlich geht es dem Ich-Erzähler wohl weniger darum, seine Mutter zu rächen als darum, sich von seinem inneren Dämon zu befreien. Der hat natürlich etwas mit der Mutter zu tun, wie der Leser anlässlich eines Traumes erfährt, der den Ich-Erzähler auf seiner Wanderung zum potenziellen Mordopfer heimsucht. In diesem Traum ist es die Mutter selbst, die sich rächt – und zwar am Ich-Erzähler! Einfach dadurch, dass sie ihm ihr von Schwermut entstelltes Gesicht zeigt! Dieses Bild lässt ihn nicht los, man könnte davon ausgehen, dass es ihn verfolgt, und so möchte er es abschütteln durch das andere Bild, das Bild der Todfeindin, der Journalistin. Ein Schuss auf das Bild vor ihm – und schon wäre das Bild in ihm ausgelöscht? Wenn man sich auf diese Dynamik zwischen innerem und äußerem Dämon einlässt, dann wird das Ende fast plausibel: Es findet nämlich kein Mord statt, sondern die Einbildung wird verscheucht. Die Person, die getötet werden sollte, hat in der erzählten Geschichte „keinen Platz“ mehr, spielt einfach keine Rolle mehr. Indem die Geschichte anders erzählt wird, verflüchtigt sich der innere Dämon, und so verpufft auch das Bild des äußeren.
Übrigens geschieht am Ende des ersten Teils der Geschichte eine analoge Verpuffung: Jahrelang fühlte sich der Ich-Erzähler von einer Feindin verfolgt und gehindert, bis er eines Tages an sein Gartentor geht, in der Erwartung, sie stünde dort. Aber keine Feindin, kein Bild! Und seitdem war das Feindes-Bild auf immer getilgt.
Der jederzeit mögliche Gestaltenwandel
Bildet sich also unser Ich daran, wie wir die Geschichte unseres Lebens erzählen? In manchen psychologischen Schulen wird dies so gesehen. Von hier aus bekäme die Literatur eine geradezu existenzielle Bedeutung. Für den Dichter sind ohnehin Leben und Erzählen nicht zu trennen. Gibt der Erzähler dem Leben nicht ganz eigene „Gesetze“, unter denen der Mensch nicht nur gerichtet wird, sondern seine Geschichte zu Gehör kommt? Schreiben als das Erschaffen einer anderen Wirklichkeit? Schreiben als Bezeugen? Handke hat sich sein ganzes Leben lang mit der Frage auseinandergesetzt, was ihm das Recht gebe zu schreiben. Fast selbstquälerisch hat er sich diesem Thema ausgesetzt, vor allem in Die Geschichte des Bleistifts und Die Lehre der Sainte Victoire. Das sei nur erwähnt, da Sieglinde Geisel diese Frage von Ossip Mandelstam her aufwirft, wenngleich dieser dabei vom Leser ausgeht und sie so etwas anders konnotiert.
Was gibt dem Schriftsteller das Recht zu schreiben? Ist es die eigene Geschichte überhaupt wert, erzählt zu werden? Ist sie von allgemeinerem Interesse? Vielleicht schon, aber an den Schriftsteller werden strengere Maßstäbe angelegt. Er bewegt sich in der Sprache, und sie ist gesättigt mit Namen und ihren Bezügen aus 3000 oder 5000 Jahren, je nachdem, wo wir den Beginn der schriftlichen Überlieferung ansetzen. Ein „guter“ Schriftsteller ist sich bewusst, was er dieser Tradition verdankt und wird sie in seinen Texten – explizit oder implizit – durchscheinen lassen. In Das zweite Schwert verwebt Handke seine Textfäden mit solchen aus der Bibel sowie anderen von Homer bis zu Pascal und Proust. Das ist weder Größenwahn noch Selbstüberhebung – sondern Respekt gegenüber der Sprache, die sich aus dieser Tradition herschreibt. Die Worte der – dichterischen – Sprache sind fortwährend auf Wanderschaft, durch die Zeiten und Räume, sie streifen umher, lassen sich einmal hier und dort nieder, verwandeln ihre Gestalt, scheinbar ziellos, wie das Umherirren des Odysseus.
Der Gestaltenwandel ist im Übrigen ein wiederkehrendes Motiv bei Handke, so auch in seinem neuen Buch: Dort tauchen am Ende alle Menschen, denen der Ich-Erzähler auf seiner Fahrt im Laufe des Tages begegnet ist, noch einmal auf, jedoch in veränderter Gestalt. Gibt dies dem Schreiber genügend Legitimität, wenn er den jederzeit möglichen Wandel von Menschen und Verhältnissen aufscheinen lässt? Das homerische Umherstreifen scheint dafür jedenfalls eine gute Voraussetzung zu sein, und dies greift Handke nun in seinem „Ersatzbus-Epos“ auf (das entsprechende Zitat hat Sieglinde Geisel bereits in ihren Text eingebaut). Der Ich-Erzähler streift und schleift und rumpelt odysseenhaft in einem Ersatzbus durch nie gesehene Straßen und Siedlungen, die Erzählung wandert mal zu den Menschen draußen und mal zu denen im Bus.
Der wiederkehrende Bleistift
Dieses Wandern der Worte zwischen innen und außen, zwischen kurzen Momenten des Wahrnehmens und denen des schon wieder Weiterfahrens, sogar zwischen profanen und heiligen Räumen, schafft einen Bezug vom antiken Mythos zur Jetztzeit. Zwei Beispiele seien hier erwähnt: Bei einer „Rastpause“ betritt der Ich-Erzähler eine alte Kirche, deren sakrale Architektur nun einen profanen Bridgesaal beherbergt, in dem Frauen an den Tischen spielen:
Von der Kircheneinrichtung keine Spur mehr. Und dann doch eine: das Ewige Licht an einer Seitenwand, elektrisch schon gewesen in der Gottesdienstzeit, und wie es widerschien in den auf den Kopf geschobenen Brillen der Bridgekartenspielerinnen. Und dann noch so ein Überbleibsel: der frühere Beichtstuhl, von Kindern benutzt zum Versteckspielen. Und draußen im Rundbogen um die Eingangstür noch das Rautenmuster aus dem Mittelalter, gleichsam Auge verbunden mit Auge, was ich mir als eine Variante der Computer-„Aerobase“ vorstellte. Und dann noch einmal siehe!: die Steinmetzzeichen […]. Und ich zündete da oder dortselbst zuletzt noch zwei Kerzen an, nicht drinnen unterm ewigen Licht, sondern draußen im Freien, nah den Rauten und Steinmetzzeichen, eine für die Lebenden und eine für die Toten […]
Und dann schildert der Erzähler exemplarisch seine Wahrnehmung der Menschen, die er beim Vorbeifahren vom Busfenster aus sieht:
Und die Ereignisse an den hundert Umkehrschleifen: der auf der Hinfahrt dort ratlos vor seinen am Straßenrand ausgebreiteten Werkzeugen Hockende, und auf der Rückfahrt hockt er weiter so. Der am ganzen Leib Zitternde hält einem anderen, der ihm Feuer geben will, die zitternde Hand. Der von Kopf bis Waden Volltätowierte mit den bleicher als bleich abgekauten Fingerkuppen. Der Greis, der sich in einem fort bückt nach Haselnüssen unter einem Haselstrauch und nicht weiß, dass es erst Mai ist und dass der Sommer noch bevorsteht. Und wieder ein Kind, wie es jemand Unbekannten hinterrücks, von weitem, nachschreit – um ihn zu beschimpfen? Nein, um dem Fremden, wenn er sich umdreht, zu winken […].
Filigrane Szenen, Momentaufnahmen, in denen alles immer kurz vor dem Kippen zu stehen scheint, entweder Richtung Katastrophe oder Offenbarung. Die grundtiefe Verletzlichkeit des Menschen, aber auch die jederzeitige Möglichkeit des Gestaltenwandels klingt an. Ein messianisches Moment durchweht solche Szenen, von denen es mehrere im Buch gibt. Auch die Dinge und ihre Namen erleben im Erzählen einen Wandel der Gestalt. Der Bleistift als fortwährend wiederkehrendes Wort dient einmal als Material zum Nestbau des Rotkehlchens, dann, aufgesammelt zusammen mit einer rostigen Nadel in jenem alten verwitterten Kloster, in dem Pascal und Racine Schüler waren, als Werkzeug zum Bewahren und Bezeugen, schließlich als Zeichen der schriftstellerischen Freiheit, dass die Geschichte anders erzählt werden kann: In der Szene, in der die vom Rächer verfolgte Todfeindin im Fernsehen auftritt, hält sie nämlich einen Bleistift in der Hand, von dem sich der Ich-Erzähler wünscht, er möge in der Mitte entzweibrechen. Der Wunsch geht zwar nicht in Erfüllung, aber die Geschichte bekommt danach den entscheidenden Dreh.
Der Bleistift als Gegenstand des Beherbergens und Bezeugens: Die von Sieglinde Geisel zitierte Szene in der „Bar der drei Bahnhöfe“ gilt den Verlorenen, Gestrandeten oder Vertriebenen. Geisel bemängelt, dass diese Menschen keine literarische Existenz erhielten. Nur, was heißt dies? Der Bleistift gibt ihnen immerhin einen Platz in der Geschichte, er bezeugt nicht nur ihr Dasein, sondern ihr Menschsein. Ihre seelischen Landschaften werden zwar nicht in der Fülle ausgebreitet wie im klassischen Roman des 19. Jahrhunderts, aber das war auch nie die Absicht des Autors. Im Gegenteil: Sie gewinnen ihre Lebendigkeit eher durch die Leerstellen des nicht Gesagten, das vielleicht auch nicht gesagt werden kann, weil sie sich nicht offenbaren wollen oder weil der Erzähler sie nicht ausfragen möchte. Überhaupt dieses „Ausfragen“: Kann ich dem Anderen nicht sein Geheimnis lassen? Muss ich alles erforschen und ergründen, um ihn dann besser einschätzen zu können? Und dann mit der Einschätzung im Kopf ihm Ratschläge und Etiketten zu verpassen, die doch immer nur meine sind? Handke geht fürsorglich mit den Menschen um, die in seiner Erzählung auftreten. Er durchleuchtet sie nicht, sondern lässt sie lieber strahlen.
Der Rechtsmissbrauch
Doch reicht all dies, um den Schriftsteller zum „geheimen Gesetzgeber“ zu erklären? Steht nicht das Gesetz höher als die Erzählung? Bezeichnend, dass der Ich-Erzähler sich als „Illegalen“ bezeichnet – für mich ein Fingerzeig auf Handkes jahrelanges Ringen um die Legitimität seines Schreibens. Und dann taucht – ausgerechnet an dem besagten alten Kloster, in dem schon Pascal und Racine Schüler waren – ein Nachbar des Ich-Erzählers auf, der Richter ist. Dieser beklagt sich über seinen Beruf, er sei eine einzige Anmaßung. Es gebe nur noch eine Strafe, die er, der Richter, mit Überzeugung ausspreche:
Und das ist die Strafe für den Rechtsmissbrauch, ein Delikt, für das kaum je einer der Übeltäter mehr zur Verantwortung gezogen, geschweige denn bestraft wird. Dabei sind in meinen Augen die, welche ihre Rechte missbrauchen, heutigentags unter all den Gesetzesübertretern und -verletzern nicht bloß die Mehrheit, sondern sie tun auch den anderen, denen sie, und zwar in einem fort, Tag für Tag, mit ihrem Recht kommen und dieses ihr Recht – und das ist der Rechtsmissbrauch! – ohne Not, Grund und Sinn, allein aus Mutwillen exerzieren – sie, die Rechtsmissbraucher, sie tun den Anderen, ihren Opfern, Unheil um Unheil, Weh um Weh, Unrecht um Unrecht an. Eine eigene Religion ist der Rechtsmissbrauch geworden, eine götzenhafte, vielleicht die letzte: das Ausspielen und Übertreiben der eigenen Rechte gegen den nebenan als Existenzbeweis […].
Hier blitzt ein Phänomen der modernen Gesellschaft auf, das nicht zuletzt den Nährboden für „Wutbürger“ und Verschwörungstheoretiker abgibt. Die eigenen Rechte als Existenzbeweis – nicht meine und deine Erzählung. Zweifellos ist im großen gesellschaftlichen Zusammenhang die Bindung aller an das Gesetz ein großer Fortschritt gegenüber einer reinen Logik der Macht. Doch wenn zwischen zweien, seien es Nachbarn, Freunde oder auch nur Vertragspartner, einer stets auf das ihm zustehende Recht pocht, das ihm angeblich seine Feinde, Dämonen und Verfolger verwehren, dann tötet er das Gesetz, das er scheinbar hochhält. Das Motiv für den Mord aus Rache erwächst nicht zuletzt aus diesem Pochen – wobei der Mord mehr als nur ein „Missbrauch“ des Rechts gewesen wäre. Verhindert wird er dadurch, dass der Erzähler seiner Geschichte eine andere Wendung gegeben hat. Sieg der Erzählung über die Dämonen? Oder ist hier eine „vierte Macht“ am Werk, die der Richter erwähnt und die das Recht anders hochhält? Er meint damit die Kinder: Sie richten nicht – sie entscheiden. Und wenn er mit den Kindern auch die Dichter meinte?
Die Geschichte anders erzählen
Es sind die Schleifen und Umdrehungen der Sprache, die manchmal aus dem Tunnelblick reiner Legalität herausführen. Solche Schleifen sind in die Wendung der Geschichte vom Rachemord verwoben, sie führen als ein trudelndes Wandeln und Wandern von Worten zu ihr hin: Schauplatz der Wendung ist die „Endstation-Gaststätte“, die „an das Innere einer Scheune erinnert“. Eine Scheune befindet sich auch auf dem Gelände des Klosters, wo die Szene mit dem Richter stattfindet. Er ist es übrigens, der das Dachziegelmuster der Scheune „als die Andere Weltkarte“ bezeichnet – Gestaltenwandel, anderes Spiel! Eine weitere Assoziation: Die Eichenbretter auf dem Fußboden der Gaststätten-Scheune weisen dort, wo früher Ast-Augen waren, Vertiefungen im Boden auf. Sie erinnern den Ich-Erzähler an ähnliche Löcher und Mulden im dörflichen Fußboden der Heimat,
wo wir seinerzeit/unsererzeit […] mitten im Haus, und nicht etwa im Freien, mit eigenhändig gemachten Lehmkugeln unser ganz besonderes Murmelspiel gespielt hatten; und ohne an je die älteren Spiele zu denken, war es mir jetzt, jenes Kinderspiel sei, wiederum wörtlich, „das Summum“ all unserer Spiele gewesen. Und so eines wollte ich auch für die bevorstehende Nacht […].
Tatsächlich erfolgt die Wendung in der Geschichte in Gestalt des Murmelspiels – und zwar unmittelbar nach dem Wunsch, der Bleistift der Feindin möge entzweibrechen: „Und plötzlich rollte die Kugel, rollten die Murmeln ganz woanders hin, als zu Beginn dieser Geschichte gedacht. Sie, die Übeltäterin, sie und ihresgleichen, gehörten nicht in die Geschichte […].“
War also schon das dörfliche Murmelspiel ein Erzählspiel? Vieles drehte sich seinerzeit/unsererzeit ums Erzählen, und die beste Erzählerin war die Mutter. Sie wird dafür in Das zweite Schwert mehrfach auf liebevolle Weise als „Erzählerin-Säerin“ gewürdigt, die „mitten in den ernstesten und herzzerreißendsten Familiengeschichten mit einem Detail aufwartete, bei dem der Zuhörer etwas zu lachen hatte, wobei dann die Mutter, nach ihrer Art zwischen Verschämtheit und Urheberstolz, mitkicherte“.
Anrührend die späte Abbitte an die Mutter des Erzählers, der einst die Rolle des „Richters“ spielte. Sie war hin und wieder Opfer der Ausbrüche des jugendlichen Sohnes – Ausbrüche aus Wut darüber, dass scheinbar niemand „gegen das Verbrecherreich Widerstand geleistet habe“. Die unschuldige Mutter „antwortete nicht, rang nur stumm die Hände. Und dann weinte sie, wortlos, wimmerte, schluchzte vor ihrem Möchtegern-Richter. Und ihr Schluchzen wird niemals aufgehört haben“. Ganz leise, vorsichtig schleicht sich die Frage heran, ob dieses Schluchzen auf einer „anderen Weltkarte“ vielleicht aufhört, wenn die Murmeln woanders hinrollen.
Bildnachweis:
Beitragsbild: Von Saken53, via needpix.com (gemeinfrei)
Buchcover: Verlag
Peter Handke
Das zweite Schwert
Eine Maigeschichte
Suhrkamp 2020 · 160 Seiten · 20 Euro
ISBN: 978-3-518-42940-2
Bei Mojoreads oder im lokalen Buchhandel
Lieber Frank Hahn,
es geht mir nicht um Rache, sondern um Kritik: Ich folge meinem Ärger ja nicht, sondern versuche ihm mit den Methoden der Literaturkritik auf die Spur zu kommen.
Mir geht es wie Ihnen: Ich staune, wie unterschiedlich wir den gleichen Text lesen.
Beim Lesen Ihrer Wiedergabe der Handkeschen Texte musste ich an einen Satz von Virginia Woolf denken. In ihrem Essay „Wie sollte man ein Buch lesen?“ findet sich die Aufforderung, den Geist bei der ersten Lektüre „weit zu öffnen für die rasch hereinströmenden unzähligen Eindrücke“ (bevor man sich, in einem zweiten Akt des Lesens, ans Vergleichen und Urteilen macht). Mir scheint, Sie gehen noch einen Schritt weiter: In Ihrer anempfindenden Lektüre fügen Sie dem Text von Handke manches hinzu, was nicht dasteht. Das ist vielleicht eine höhere (manche würden sagen: tiefere) Form des Lesens als das, was ich versuche. Mein Bestreben ist es zu lesen, was wirklich dasteht, also den Wörtern und dem Satzbau auf die Schliche zu kommen, mit denen der Autor arbeitet.
Sie bezeichnen meine Wortwahl bezüglich Handkes literarischem Umgang mit dem Selbstmord seiner Mutter als „den Autor persönlich verletzend“. Es hätte an der Sache nichts geändert, wenn ich meine Feststellung zurückhaltender formuliert hätte. Ich spreche diesem Autor die Glaubwürdigkeit ab, so glaube ich ihm nicht, dass es ihm um die Mutter geht. Ich sehe in der Muttergeschichte ein Vorwand, um seine inszenierte und in der Sache erbärmliche „Rache“ zu Papier bringen zu können. Sie zitieren „liebevolle“ Aussagen über diese Mutter, doch diese Passagen empfinde ich als scheinheilig. Das Ganze Konstrukt geht ja auch logisch nicht auf: Weder behauptet der Ich-Erzähler behauptet, die Mutter habe sich wegen der Zeitungsmeldung umgebracht, noch bestreitet er ihren den Wahrheitsgehalt.
Was mich (auch bezüglich meiner eigenen Irritation) interessiert: Macht es für die Literatur einen Unterschied, ob es sich bei dieser Mutter um eine fiktive Figur handelt oder die reale Mutter des Autors? Bei einer fiktiven Mutter würde ich angesichts des sozusagen an den Haaren dieser Mutter herbeigezogenen Rachemotivs nur die Schultern zucken, mein Verdikt wäre nur ein ästhetisches. Die Tatsache, dass dieser Text in die Biografie hinüberlappt, hat mich affiziert (und zwar erst recht nach dem Wiederlesen von „Wunschloses Unglück“).
Was Handkes mikroskopisch verzeichnete Umherschweifereien angeht: Ich kann nachvollziehen, wie man als Leser in diesem virtuosen, artifiziellen Gewebe aufgehen kann. Allerdings müsste ich mich dazu dieser Ästhetik unterwerfen und anerkennen, dass die Art und Weise dieses „anders“ Sehens und Erzählens meine ganze Aufmerksamkeit verdient, egal worauf sich dieses Sehen und Erzählen bezieht. Mir fällt auf, dass manche Handke-Verteidiger seine Verfahrensweisen feiern, ohne sie zu hinterfragen. Lothar Müller hat etwa in seiner Rezension von „Das zweite Schwert“ die Provenienzen sämtlicher Motive in Handkes eigenem Werk nachgewiesen, was von einer bestechenden Kenntnis des umfangreichen Werks zeugt. Was Müller jedoch unterlässt, ist eine literaturkritische Würdigung dieses Verfahrens: Soll ich den Text nun bewundern, weil der Autor darin so viele Motive seines bisherigen Werks wiederkehren lässt? Oder ist diese Plünderung des eigenen Werks ein Zeichen des Mangels – fällt ihm nichts mehr Neues ein?
Es gibt kaum einen Autor, an dem die Geister sich so sehr scheiden wie bei Handke, das merke ich an den Reaktionen auf meine Stilkritik. Einerseits ernte ich scharfen Widerspruch (nicht nur bei Ihnen), ebenso jedoch heftigen Zuspruch von Lesern, die sich in ihrer eigenen Wahrnehmung geradezu erlösend bestätigt sehen.
Was ich gern verstehen würde: Warum ist die Auseinandersetzung um Handke emotional so aufgeladen? Was triggert er in seinen Lesern (auf beiden Seiten)?
Kommentar Teil 1
Liebe Frau Geisel,
im letzten Satz Ihres Kommentars werfen Sie die Kernfrage auf: was wird durch die Lektüre von Peter Handke eigentlich getriggert? Insofern könnten Sie meine rhetorische Frage danach, ob es Ihnen nicht zuletzt gegenüber dem Autor Handke auch um „Rache“ ginge, natürlich auch so lesen: was triggert Handke in Ihnen?
Aber vielleicht wiederum eins nach dem Anderen: was das Thema Stilkritik betrifft, pflichte ich grundsätzlich Christian Backes‘ Hinweis bei. Ich kann auch schlicht fragen, ob Sie sich z.B. bei einem Maler über seinen Stil ärgern? Ob Gerd Richter die Technik des Verschwimmens anwendet oder – die von Ihnen zitierten – Pointilisten über das Bild Tupfer setze: das stellen wir gewöhnlich fest und haben so Unterscheidungsmerkmale zwischen den verschiedenen Schulen, denen wir jedoch allen das Recht zugestehen, Ihren jeweiligen „Stil“ zu pflegen. Manche Betrachter tun vielleicht kund, ob Ihnen der jeweilige Stil gefällt oder nicht, aber dabei bleibt es dann auch meist. Mehr nicht. Und mehr ist dazu auch nicht zu sagen. Ich erlebe es äußerst selten, dass ein Maler wegen seines „Stils“ abgewertet wird und über sein Werk abfällig gesprochen wird. Wie auch? Wie können wir uns anmaßen, dem Künstler sagen zu wollen, welcher Stilmittel er sich zu bedienen hat? Dann wäre die Freiheit der Kunst dahin. Auch der Dichter ist vollkommen frei in der Wahl seiner „Stilmittel“. Doch ich habe den Eindruck, dass es darum in der hier stattfindenden Debatte um Peter Handke schon längst nicht mehr geht, sondern eben um die „Trigger“. Ihrem Ärger wollen Sie mit der Sprachanalyse auf den Grund gehen, sagen Sie. Mir scheint, dass dieses Verfahren (oder eben die „Stilkritik“) vor allem dazu dient, das Gefühl zu bestätigen. Warum auch nicht? Wir beide haben z.B. beim Lesen der „Obstdiebin“ den gleichen „Stil“ eines tastend verzögernden Sprachgestus entdeckt. Wir haben nur ganz entgegengesetzte Empfindungen dabei, Sie ärgern sich über das „Stottern“, wie Sie es nennen, ich genieße es als eine „Poetik des Innehaltens“. Bei uns beiden dient also augenscheinlich die „Sprachanalyse“ der Bestätigung des ersten Gefühls beim Lesen. Soweit wäre alles in Ordnung und unterschiedliche Empfindungen beim Lesen benannt. Sie aber sprechen in Ihrem jüngsten Kommentar erneut – und das empfinde ich als unredlich – ein Urteil über Handke, indem Sie ihm einfach seine Glaubwürdigkeit absprechen und ihm Scheinheiligkeit unterstellen. Auf welcher Grundlage? Ich wundere mich, wie Sie sich ein solch abfälliges Urteil über einen Menschen erlauben können. Sie nennen das Rachethema „erbärmlich“ – was bitte soll denn an dem Thema erbärmlich sein? Mir scheinen all diese Anwürfe in dem Satz zu kulminieren, Sie wollten Handke „auf die Schliche“ kommen – so als ob er ein Unrecht begeht oder gerade dabei ist, im Verborgenen eine böse Tat auszuhecken. Das zeigt vielleicht am deutlichsten, dass Sie voreingenommen sind und nicht Ruhe geben können, bis Sie ihn „gestellt“ haben. Aus all diesen Redewendungen höre ich eine tiefe Aggression heraus, die Sie beim Lesen Handkes befällt. Und da wären wir denn tatsächlich beim Trigger, den Sie selbst gern aufspüren würden.
….Fortsetzung folgt in Kommentar Teil 2
Kommentar Teil 2…
…Es wäre nun meinerseits anmaßend, Ihren persönlichen Trigger aufspüren zu wollen. Zu der auch von Ihnen beobachteten emotionalen Aufgeladenheit in der Debatte um Handkes Literatur biete ich daher nur eine ganz allgemeine Hypothese an, die ich aus diversen Beobachtungen – nicht nur in Bezug auf Handke – gewonnen habe. Handke schreibt sehr persönlich und er berührt Themen, die „ans Eingemachte“ gehen: Traumata aller Art, Mutter- Kind-Beziehungen, Gewalt, Tod, die Wahrnehmung der Anderen etc. Diese Texte berühren Leser – vor allem auch deren verletzliche, zarte Seiten, die nicht immer präsent sind. Da versagt die kalte Analyse, die ja vor allem Distanz schafft, und so werden solche Texte von der Wissenschaft und der Kritik häufig abgewehrt, weil man sich verbissen dagegen wehrt, beim Lesen von Literatur vor allem zunächst einmal den eigenen Gefühlen nachzuspüren. Und so bilden gerade intellektuelle Kreise eine oft aufgeregte Phalanx gegen literarische oder auch philosophische Texte, die „zu tief“ berühren könnten, d.h. auch an abgespaltene Gefühle rühren und dort etwas „triggern“. Ich habe das gerade jüngst wieder in Bezug auf einen Text von Hélène Cixous erlebt und fühlte mich dabei an die Handke-Debatte erinnert. Vielleicht steht tatsächlich das „Ethos“ des Literaturkritikers einer vertiefenden Lektüre im Weg, da dieser dem Autor auf irgendwelche Schliche kommen muss und von daher zwangsläufig eine Distanz zwischen sich und dem Werk aufbaut, die sich dem Berührtwerden in obigem Sinne verweigert. Dennoch lassen Sie sich ja berühren, sonst kämen nicht diese Wut und Aggression bei Ihnen zu Tage, und das ist ja immerhin etwas….aber dann wollen Sie diese Gefühle schnell wieder durch ihre „Stilkritik“ bändigen statt ihnen vielleicht weiter auf den Grund zu gehen.
Nun werden Sie mich fragen, was Handke in mir „triggert“. Ich habe das eigentlich in meinen Beiträgen schon formuliert, als ich vom meditativen Klang seiner Texte gesprochen habe, der mich an tiefere Schichten meiner eigenen Wahrnehmung herankommen lässt. Das geschieht auch parallel zu und auch mithilfe „Sprachanalyse“. Sie nennen meine Art des Lesens – und das empfinde ich durchaus als freundliche Geste – eine „anempfindende Lektüre“. Zugleich –vielleicht weniger freundlich – sehen Sie darin eine Art, etwas in den Text hineinzulesen, was dort nicht steht. Das ist ja doch gerade das Geheimnis der Sprache, dass sie immer mehr sagt, als sie sagt beziehungsweise – wie es so schön heißt – vom Überschuss an Bedeutung lebt. Ein Philosoph (ich glaube es war Paul Ricoeur) hat einmal gesagt, dass die dichterische wie auch die prophetische Sprache im Gleichnis sprechen. Das heißt nicht nur im Sinne eines Rätsels, das aufzulösen wäre, um die „eigentliche Bedeutung“ dahinter zu erfahren, sondern ich lese dies als Hinweis auf die Gleichzeitigkeit verschiedener Bedeutungsebenen (zugleich) bis hin zum Verzug jeglicher einfacher Bedeutung (sogleich) – wie z.B. das Innehalten bei Handke. Wenn ich in einem Text diese Mehrschichtigkeit nicht finde, dann spricht er mich nicht an, dann steige ich als Leser aus, würde dem Autor deshalb aber trotzdem nicht das Recht bestreiten zu schreiben, da er sicher andere Leser finden wird als mich.
Ich bewundere Ihre Gründlichkeit, aber auch die Geduld, mit der Sie auf diese sogenannte “Debatte” reagieren, in der Dichtung und Dichter mit unglaublichem Unverständnis und oberlehrerhafter Rechthaberei der Prozess gemacht wird. Danke.
Warum ist es eine ‘sogenannte Debatte’, in der einem Dichter der ‘Prozess’ gemacht wird, wenn in einem Medium unterschiedliche Positionen zu seinem Werk zur Sprache kommen?
Vielen Dank für diesen leseaufschlussreichen Artikel. Er macht noch einmal deutlich, dass man Handke nicht mal so schnell und nebenbei lesen kann bzw. wenn man ihn schnell und nebenbei liest, die Leseerfahrung nur an der Oberfläche bleibt.
Ich möchte auch noch gerne auf einen kleinen Zusammenhang hinweisen. Auf Seite 119 steht der Satz: “‘Schließ die Pforten deiner Sinne!'” Dieser Satz steht auch in der “Langsamen Heimkehr” – der Beginn der “Schreibwende” bei Handke. Dort folgt dem Satz im nächsten Absatz: “Er fing zu laufen an; lief eine Zeitlang blicklos;…”. In “Das zweite Schwert” folgt dem Satz: “‘Sie sind geschlossen.'” Hier – in dieser Geschichte – scheint jemand angekommen, heimgekehrt zu sein.
Was nicht passt, muss weg. So ist es üblich, und auch ich danke darum Frank Hahn für die Mühe, Handkes Arbeiten aus dem Feld von Kult (samt BilderstürmerIn;) herauszuholen – (auch, wenn Handkes Neuerscheinungen seit einer Weile für mich nicht mehr so notwendig sind und andere HausautorInnen wichtiger, wie eben u.a. Cixous:) weitaus anregenderer (und neugierig machender) Umgang mit Literatur, als Frau Geisels immergleiche Perspektive, die nichts produziert als den immergleichen Zement zum nochmals Verfestigen.. Glück auf!
Seltsam nur, dass Sie mit keinem Wort auf meine Argumente eingehen (“Zement zum nochmals Verfestigen” ist ja keine Antwort auf das, was ich bei H. stilistisch beobachte).
Was sagen Sie denn zu H.s Manierismen, zu seinem sprachlichen Aufwand angesichts von Banalitäten etc.?