In den Debatten um Peter Handke geht es kaum je um seine Prosa. Wir nehmen seine jüngsten Werke unter die Lupe und suchen nach Kriterien.
Die bisherigen Texte in chronologischer Reihenfolge:
- Page-99-Test zu Die Obstdiebin
- Ob der Kaiser nackt ist…
- Grundanders anfangen
- Vorgetäuschter Tiefsinn
- „Nur keine Hast auf den Zwischenstrecken…“
- „Schleife um Schleife, mit Riesenumwegen…“
Darf ich, anhand von zwei Buchseiten, Peter Handkes Literaturnobelpreiswürdigkeit in Frage stellen? So fahrlässig der Page-99-Test sein mag (wie etwa Elke Heinemann anmerkt) – ich staune immer wieder über die Trefferquote. Ich bin mir bewusst, dass es sich dabei auch um einen Bestätigungsfehler handeln kann, denn was ich unter der Lupe identifiziert habe, springt mir danach natürlich bei der Lektüre erst recht ins Auge. Doch der Befund der ersten hundert Seiten von Die Obstdiebin ist eklatant.
Noch und noch
Beginnen wir mit den harmloseren stilistischen Marotten. Peter Handke erzeugt Verstärkungen gern durch Verdopplung:
- fand ich nicht und nicht die Socken, die zueinanderpaßten
- spielten die zwei um- und ineinander, nicht und nicht zu entwirren
- Und unwillkürlich äugte ich, ob in dem Hinterteil des Gefährts nicht eine Liege eingebaut war, mit Gurten noch und noch, um mich für den Transport festzubinden.
- Noch und noch Busse kamen auf einmal gefahren
- Oft und oft, und in den letzten Jahren von Mal zu Mal stärker
- Das Licht brach und brach nicht
Die Verdopplung kann ein Zeichen stilistischer Hilflosigkeit sein. Wer glaubt, seine Rede werde überzeugender durch Einschübe wie „noch und noch“, vertraut den eigenen Worten nicht. Ich finde es bemerkenswert, dass Handke nicht einmal vor der Verdopplung der Verdopplung zurückschreckt:
das zu Tuende ging und ging mir nicht und nicht auf.
Im Weiteren gehören Wendungen wie „jedwede“, „gleichwelche“, „nur je/ohne je“ zu den Handkeschen Gesten der forcierten Eindringlichkeit. Hier wird die Aussage nicht nur verstärkt, sondern absolut gesetzt:
- frei von jedweder Bedeutung oder von gleichwelchem Bedeuten,
- über gleichwelche Völker-, Landes- wie Kontinentalgrenzen hinausgehen
- gleichwelche Nasen
- [etwas, dem] jedwede Realität ausgetrieben [worden war]
- gleichwelches Wünschen
- ohne je eine Nuance
- Und doch bildeten die beiden ein Paar, wie vielleicht kein anderes, und vielleicht wie nur je eines
Handke verwendet Steigerungen, die laut Duden nicht vorgesehen sind.
- allerorten sekundiert von den zugleich mitauftretenden Mitpassanten, und insbesondere den Autos und, noch insbesonderer, den Lastwagen
- mit dem Vorsatz, augenblicklich doch noch, verborgen im innersten Laubwerk, eine, und sei es nur eine einzige der so anders birnenförmigen, so anders gelben Quitten, die allereinzigste Dunja ausfindig zu machen
Muss ein Autor sich an die Regeln der Grammatik halten? Natürlich nicht. Aber wenn er von der Grammatik abweicht, muss er für den Regelbruch gute Gründe haben. Haben diese Manierismen eine werkinterne Funktion, wie sie Lars Hartmann ins Feld führt? Nach der Lektüre der ersten hundert Seiten von Die Obstdiebin kann ich einen höheren Sinn nicht erkennen, zumal Handke diese Manierismen offenbar auch in anderen Werken verwendet. Michael Kannenberg zitiert in seinem Facebook-Kommentar eine Stelle aus Mein Jahr in der Niemandsbucht:
Ein einziges Mal nur ging damals jemand Unbekannter mir durch und durch
Wie Kannenberg anmerkt, hat Handke diesen Satz 27 Jahre vor Die Obstdiebin geschrieben. Dieser Manierismus sitzt also tief.
Dahergehetzte, Gezogene, Gehäufte
Bei der Passage auf Seite 98/99 waren mir die substantivierten Partizipien aufgefallen – die „Daherrennenden“, „Dahergehetzten“, „Aufgesprungenen“, „Gezogenen“. Ich empfand sie als dehumanisierend, worauf Lars Hartmann anmerkt, dass vielleicht damit gerade die anonyme Masse dargestellt werden soll. In der Tat kommen diese Partizipien auch im weiteren Umfeld der Bahnfahrt von Seite 98/99 vor:
und spürte mich auch schon in der Tat vorwärts getragen, wie über die inzwischen vorabendlich sich verdichtende Menge hinausgehoben, und zugleich fest und sicher auf den beiden Beinen, den Blick im Spuren zwischen den Passagiermassen unentwegt auf dem Bahnhofsboden, welcher im Geschiebe und Gedränge leer erschien, frei da! für nichts als mich und meinen Weg. Zu bemerken dabei, wie durch alle die rasch und dabei doch ruhig, als etwas tagtäglich Gewohntes, zu den Zügen Gehenden, ruhig selbst die Eilenden, Laufenden, ein ums andere Mal ein Ruck ging und ein regelrechtes Gerenne einsetzte, das etwas von einer Flucht hatte, einem geradezu panischen vor etwas Davonrennen, das freilich keinmal andauerte und nach kurzem, kaum ein paar Laufschritten, sich wieder beruhigte.
Ich gebe Lars Hartmann recht: Es spricht einiges dafür, dass Handke tatsächlich Anonymität ausdrücken wollte, auch die Wörter „Passagiermassen“, „Geschiebe und Gedränge“ deuten darauf hin.
Der Ich-Erzähler sieht sich am Bahnhof von Bettlern bedrängt, und auch sie werden mit einem substantivierten Partizip bezeichnet (diesmal allerdings mit einem Partizip Perfekt):
Die Tausende und Abertausende der in Paris auf die Gehsteige Gehäuften, vor sich die Pappschilder mit der gefälschten, oder auch echten Handschrift: »J’ai faim!«, ich konnte ihnen nicht mehr glauben.
Die Wendung „auf die Gehsteige Gehäuften“ drückt einen Zynismus aus, der mich unangenehm berührt. Ist das der Zynismus des Autors, oder will der Autor damit vielmehr auf den Zynismus der Situation hinweisen? Das müsste sich anhand der Haltung des Texts entscheiden lassen, wie es Frank Heibert ausführt. Was mich irritiert, ist zum einen die Frage, inwiefern die Handschrift auf den Pappschildern der Bettler „gefälscht“ sein könnte. Es sind ja keine Urkunden, und ob dieses „J’ai faim“ von eigener oder von fremder Hand buchstabiert wurde, spielt für die Echtheit des Hungers keine Rolle. Das hat etwas Diffamierendes. Zum anderen lässt mich auch der folgende Satz an der Haltung des Texts zweifeln: „ich konnte ihnen nicht mehr glauben“. Der Ich-Erzähler kündigt eine Empathie auf, die er früher offenbar hatte. Damit erhält das substantivierte Partizip der “auf die Gehsteige Gehäuften” eine andere Färbung: Nicht die Situation wird denunziert (und damit die Gesellschaft, die zulässt, dass Menschen auf Gehsteige gehäuft werden), sondern die Gehäuften selbst.
Viele Worte um nichts?
In meiner Handke-Kritik geht es nicht nur um die Wortwahl, sondern auch um den Satzbau, also das innere Gefüge dieser Prosa. Es ist ein Satzbau der Verzögerung, des Aufhaltens und Stotterns, so der Befund des Page-99-Tests. Auch diese Diagnose wird von den ersten hundert Seiten bestätigt. Handke führt geradezu vor, wie man möglichst viele Worte um möglichst wenig Stoff drapiert.
Fangen wir mit einem der kürzeren Sätze an:
Es war, auch das wie immer, ein, jedenfalls am späten Morgen, sonniger, aber noch nicht heißer Tag Anfang August, mit einem beständigen Blauen, hoch und immer höher, im Himmel.
Dieser sonnige Tag Anfang August stottert hier geradezu über die Zeilen, immer wieder aufgehalten von Kommas. Dieser Tag war, zumindest am späten Morgen, noch nicht heiß, also ganz so, wie man es erwarten würde, und auch dass der Himmel an einem sonnigen Tag blau ist, versteht sich von selbst. Ungewöhnlich ist hier nur die Formulierung: Handke redet von einem „beständigen Blauen“, einem Blauen „im Himmel“ (wo sonst?), und zwar „hoch und immer höher“ (ein Echo auf „noch und noch“?).
Das muss keine bloße Redundanz sein, man kann es auch als eine sich intensivierende Wahrnehmung beschreiben: Einer blickt in den Himmel, und je länger er schaut, desto blauer kommt ihm dieser Himmel vor.
Im nächsten Beispiel geht es um eine Null-Aussage: Alles war wie immer (also wie bereits im Satz mit dem Himmel). Das wäre nicht der Rede wert – und gerade das umkreist Handke mit seiner Rede.
Nichts war wie immer an jenem Sommertag? Unsinn: Es war wie immer. Alles? Alles. Alles war wie immer! Wer sagte das? Ich. Ich beschloß es. Ich setzte es so fest. Ich erklärte: Es war wie immer. Rufzeichen? Punkt.
Drei Mal wird die Null-Aussage wiederholt, und ebenso wird drei Mal wiederholt, wer diese Aussage macht, nämlich „ich“. Ist das ein Beharren auf der eigenen Wahrnehmung, also der Autonomie des Subjekts? Mit einem fröhlichen Trotz? Oder ist es Ironie? Doch was würde hier ironisiert?
Auf den ersten hundert Seiten dieses Romans macht der Ich-Erzähler sich auf die Reise. Er verlässt sein Haus in Chaville – hier wohnt Peter Handke seit 1990 –, er unternimmt eine „Fahrt ins Landesinnere“ (so der Untertitel des Romans), in die Picardie, wie wir erfahren.
Ich bin vor das Tor getreten und habe es hinter mir zugezogen. Ich wollte es dann sogar, anders als sonst, da ich es, auch bei einem Aufbruch für länger, nur zufallen ließ, absperren, gar zweimal.
Der Ich-Erzähler tritt also vor das Tor, zieht es hinter sich zu und will es dann absperren. Sechs Kommas sorgen im zweiten Satz dafür, dass wir ins Stottern kommen. Das ist die perfekte Übereinstimmung von Form und Inhalt, die mir schon im Page-99-Test aufgefallen war. Der Satz stottert, weil sich auch der Ich-Erzähler nicht flüssig bewegt, sondern zögert, einhält und überlegt, dass er das Tor diesmal doch absperren will, und das tut er schließlich auch, und zwar „gar zweimal“. Es wird klar: Das ist ein Abschied für länger.
Doch das altertümelnde „gar zweimal“ verleiht der Banalität des Tor-Abschließens den Nimbus des Bedeutungsvollen, und diese Überhöhung macht mich misstrauisch. Kunst oder Kitsch?
Windloses Wehen
Ekkehard Knörer spricht in seinem Facebook-Kommentar von „Glutamattexten“, und dem stimme ich zu: Hier arbeitet einer mit Geschmacksverstärker, und zwar auch dann, wenn es gar nichts gibt, was man verstärken könnte:
Jetzt aber, mit der Mittagsstunde, umfangen von einem unhörbaren, an dem Sommerlaub auch nicht sichtbaren, windlosen Wehen, eher einem zusätzlichen Luftstrom ohne eigens eine Strömung, einer nach außenhin, auf der Haut, weder an den Armen noch an den Schläfen, unspürbaren Luftzufuhr – kein einziges Blatt, auch nicht das leichteste, das der Linde, regte sich mehr –, senkte sich die über die Gegend gebreitete Stille, und zwar mit einem Mal, mit einem so sanften wie machtvollen Ruck herab auf die Erdlandschaft, und, einzigartiger Vorgang, allsommerlich nur momentlang sich ereignend: die Landschaft, schon vorher umfaßt von Stille, senkte sich oder sank ein mit Hilfe der aus den Himmelhöhen sich urplötzlich herabsenkenden Stillezufuhr und blieb dabei weiterhin die vertraute gebuckelte, aufgewölbte, tragende Erdoberfläche.
Das Gerüst dieses Satzes lautet ungefähr so:
Jetzt aber senkte sich die Stille herab auf die Erdlandschaft, und die Landschaft senkte sich und blieb dabei weiterhin die vertraute Erdoberfläche.
Das ergibt keinen Sinn, und das verbale Glutamat, das den Satz auf 119 Wörter anschwellen lässt, treibt die Entleerung von Sinn noch weiter. Diese Stille ist „umfangen von einem unhörbaren, an dem Sommerlaub auch nicht sichtbaren, windlosen Wehen“. Das Wehen ist also weder hör- noch sichtbar, überdies ist es windlos, was noch einmal genauer beschrieben wird: Es sei eher ein zusätzlicher Luftstrom „ohne eigens eine Strömung“, eine „Luftzufuhr“ demnach, die „unspürbar“ ist, und zwar „weder an den Armen noch an den Schläfen“. Dieses Wehen wird mindestens dreifach als Abwesenheit jeglichen Wehens beschrieben. Die Stille, die bereits über die Gegend gebreitet ist, senkt sich nun „mit einem Ruck“ auf die Erdlandschaft herab, ein Vorgang, der „einzigartig“ ist, „allsommerlich“ und sich doch nur „momentlang“ ereignet. Die Landschaft ist „umfasst von Stille“, und mit Hilfe einer „Stillezufuhr“ (vgl. „Luftzufuhr“), die sich wiederum aus dem Himmel herabsenkt, senkt sie sich offenbar noch einmal. Und bei alldem bleibt diese Landschaft weiterhin die vertraute Erdoberfläche, und zwar die „gebuckelte, aufgewölbte, tragende Erdoberfläche“.
Man kann diesen Satz auswringen noch und noch, ohne ihm jedwelchen Tropfen Sinn zu entlocken.
Der wilde Wille zum Sehen
Die Reise ins Landesinnere beginnt im heimischen Garten. Der Ich-Erzähler pflanzt sich vor dem Quittenbaum auf (ja: „pflanzt“), und zwar „mit etwas anderem als bloß einer Hoffnung“, nämlich
mit dem Vorsatz, augenblicklich doch noch, verborgen im innersten Laubwerk, eine, und sei es nur eine einzige der so anders birnenförmigen, so anders gelben Quitten, die allereinzigste Dunja ausfindig zu machen.
Die „anders gelben“ Quitten sind nichts Neues. In Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996) schwärmt Handke, anlässlich eines Marktbesuchs in Belgrad, von den derzeit vielzitierten „andersgelben Nudelnestern oder -kronen“ (in einer Doppelwort-Aufzählung mit „den walddunklen massigen Honigtöpfen, den truthahngroßen Suppenhühnern, den oft raubtierspitzmäuligen, oft märchendicken Flussfischen“). Und im Versuch über den Pilznarren (2013) hat er das „Andersgelbe“ bei Pilzen gefunden.
Der Ich-Erzähler fasst den Vorsatz, eine dieser anders gelben Früchte ausfindig zu machen, und er lässt uns Zeuge werden, wie er diesen Vorsatz umsetzt, nämlich
Schritt für Schritt um den Quittenbaum herumgehend, innehaltend, den Kopf hebend, äugend, vor und zurück gehend, und so fort.
Doch das reicht ihm nicht, sein Vorsatz steigert sich
zu einem wilden Willen, mit nichts als den eigenen Augen die fehlende Frucht in die Leere über mir hineinzuschauen, allein kraft meines Blicks dort oben aus all den zugespitzten Blätterlanzetten in einem, und wenn auch noch so winzigen Zwischenräumchen »diejenige welche« hervor ans Licht treten, sich jetzt, jetzt vorwölben und runden zu machen.
Was auffällt, sind Stabreime („wilder Wille“, „fehlende Frucht“ – wie übrigens schon vorhin im „windlosen Wehen“) und Redundanzen, („zugespitzte Blätterlanzetten“, „winzige Zwischenräumchen“, „vorwölben und runden“ sowie die Verdopplung des „jetzt“). Der wilde Wille des Ich-Erzählers gilt einem Ding, das es nicht gibt: Der Ich-Erzähler will die Quitte – eine einzige, die allereinzigste, „diejenige welche“ – nicht sehen, er will sie „kraft seines Blicks sich vorwölben und runden machen“. Das heißt wohl, er will sie sich vorstellen. Mit einem wilden Willen. Ernsthaft? Ekkehard Knörer spricht von Edeltrash und Selbstparodie, das scheint mir hier kaum von der Hand zu weisen.
Lautlose Stille
Große Literatur sei nichts anderes als bis zum Äußersten mit Bedeutung aufgeladene Sprache, so die Definition von Ezra Pound. Bei Handke ist es umgekehrt: Seine Prosa besteht in einer systematischen Entleerung von Bedeutung.
Die Stille, die jetzt herrschte, vollkommen lautlos, ging auf mich über als Schweigen – ein Stillschweigen. Es war nicht jenes Schweigen der unendlichen Räume, welches den Blaise Pascal hat schaudern machen, sondern eines, das allein der Raum hier und jetzt, ja, ausstrahlte, ein allgemeines Stillschweigen, welches keineswegs aus irgendwelcher angemaßter Zeitlosigkeit kam, sondern aus einem Innehalten wie Innewerden der Zeit, das auch sonst Sekunde um Sekunde wirksam war, als Materie, nicht als Hirngespinst, als eben eine andere reale Zeit in der sogenannten Realzeit, in solch Momenten des horizontweiten Stillschweigens nur spürbarer, oder übergänglicher, als üblich, eines Stillschweigens, das beredt war, strahlte, und schaudern ließ in dem Sinn des Satzes, wonach der Schauder »der Menschheit bester Teil« sei.
Auch hier wieder Verdopplungen und Redundanzen: Die Stille ist lautlos (und zwar „vollkommen lautlos“), sie geht über auf den Ich-Erzähler als Schweigen, und zwar als „Stillschweigen“, dann in ein „allgemeines Stillschweigen“. Es kommt aus einem „Innehalten wie Innewerden der Zeit“, und zwar einem Innewerden der Zeit, das „Sekunde um Sekunde wirksam“ ist. Unaufhaltsam dreht sich dieser Satz um sich selbst: Von einer realen Zeit in der Realzeit ist die Rede, von einem Stillschweigen, das spürbarer und „übergänglicher“ (?) war als üblich, ein Stillschweigen schließlich, das beredt ist, das strahlen und schaudern lässt.
Mein Versuch, diesen Sätzen zu entlocken, was sie sagen, ist vergeblich und deshalb qualvoll. Doch vielleicht wollen diese Sätze gar nicht auf das hin analysiert werden, was sie transportieren, vielleicht sind sie reine Form. Schreiben um des Schreibens willen?
Ästhetik und Ethik
Handkes Virtuosität bestehe gerade in der „Auflösung der Grenzen zwischen Sprache und Poesie“, sagt Claus Löser in seinem Facebook-Kommentar. Regula Rüegg spricht von dem „eigenartig Schwebenden, Suchenden“ in der Sprache von Die Obstdiebin. Stephanie von Oppen nennt die „spezielle Atmosphäre“ dieser Prosa. Dieser Eindruck entsteht durch die systematische Entleerung: die Wörter verlieren ihre Konturen, so dass man nichts mehr deutlich sieht. Am Sound, der dabei entsteht, kann man sich durchaus berauschen.
Und doch drängt sich mir die Frage auf: Was soll das Ganze? Was hat das mit der Welt zu tun? Ein sprechendes Ich (und ja, ich bin geneigt, dieses Ich mit dem Autor zu identifizieren) zelebriert hier seine eigene Wahrnehmung, und zwar auf meine Kosten. Denn diese seltsamen Verstärkungs-Manierismen haben das Ziel, sich in meine Aufmerksamkeit zu drängen, und mir scheint: je belangloser die Sätze, desto dringender ihr Appell. Wir sollen die Kunstfertigkeit dieses ständig sich entleerenden Kreisens um das eigene Selbst bewundern. Liegt darin die Haltung dieses Texts?
Es ist ein durch und durch apolitisches Schreiben. Es blendet aus, dass es etwas jenseits dieses unablässig um seine eigene Wahrnehmung kreisenden Selbsts gibt, das überhaupt erzählenswert, sagenswert wäre. Diese Prosa kommt nicht von Homer, von Tolstoi, von Cervantes, denn das sind keine apolitischen Autoren. Mit dem Stammbaum, den Handke sich anmaßt, hat sein Schreiben nichts zu tun, zumindest nicht, wie es sich auf den ersten hundert Seiten von Die Obstdiebin zeigt.
Man solle ihn in Frieden lassen „und nicht solche Fragen stellen“, antwortete Handke den Journalisten, die ihn für seine politischen Worte zur Verantwortung ziehen wollten. Er gibt den verkannten Dichter, der sich im Besitz einer höheren und daher nicht auskunfts- und schon gar nicht beweispflichtigen Wahrheit sieht.
Peter Handke hat ein vielgestaltiges, von seinem Umfang her kaum mehr zu überblickendes Werk geschaffen, das auch andere Modi des Redens kennt. Soll man dieses monumentale Werk vor seinem Autor in Schutz nehmen? Das würde bedeuten, die Ästhetik von der Ethik zu trennen. Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Handkes politische Provokationen sind ebenso Pose wie der Habitus des zu Unrecht verkannten Künstlers. Handke sei „ein selbsternannter Rebell wider die Heuchelei der westlichen Welt“, sagt der serbische Essayist Dejan Ilić in der FAZ. Er wirft Handke vor, mit seinen politischen Einlassungen seine Poesie zu verraten. Doch hier gibt es nichts zu verraten. Ich halte Handkes Fein- und Tiefsinn für einen Fake (zumindest in der Form, in der er sich in diesen hundert Seiten zeigt), und ich glaube, dass sowohl für seine pseudopolitischen Statements als auch die pseudopoetische Ausprägung seiner Prosa gilt: Peter Handke geht es nicht um irgendeine Sache, sondern nur um sich selbst.
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Peter Handke
Die Obstdiebin
Roman
Suhrkamp Verlag 2017 · 559 Seiten · 34 Euro
ISBN: 978-3518427576
Ich las vor einigen Jahren einen Kurzroman von – ich glaube, es war Cheever – mit einem Nachwort von Handke. Ich wollte das Nachwort nicht ignorieren, obwohl es von Handke war, las guten Willens drei Seiten und ließ es dann: Denn Handke schrieb nicht über den Autoren, er schrieb nicht über das Buch, er schrieb über sich selbst.
Dieses ewige Umsichselbstkreisende – eine Augenfälligkeit seines Schreibens, das mich schon vor der Serbiendebatte auf Abstand gehen ließ. Nun mag das einfach mein individueller Geschmack sein – das aber hier so fein analysiert zu lesen, tut wohl. Bravo für diesen Text! Und danke für die Aussage: Nein, Ästhetik und Ethik lässt sich nicht trennen. Aber hierin liegt vielleicht auch das verführerisch-gefährliche Moment von Handkes Schreiben: Er lullt seine Leser in eine Abfolge poetisch-raunender verschwurbelter Sätze ein, umspinnt solange, bis man sich ergibt. Ein Blender.
Ich melde mich hier noch einmal zu Wort, weil ich an Sieglinde Geisels Beispielen illustrieren möchte, warum die Frage nach der Haltung hilfreich ist, um den Sinn (oder “die Funktion”, lieber Lars Hartmann) der vorgefundenen stilistischen Feinarbeit in der Sprachgestalt zu ergründen.
Die Haltung, die, so lässt sich interpretieren, hinter all diesen extrem detaillierten Beschreibungen und Wahrnehmungen steckt, ist diejenige eines dringlichen Aufmerksammachens auf eine Köstlichkeit des Erlebens und Wahrnehmens, wir sollen mit Handke (dank ihm!) eine Einzigartigkeit entdecken, die uns sonst entgangen wäre. (Darin liegt auch eine große Portion Eitelkeit).
Nun ist es so: Ich kann mir tatsächlich einige dieser köstlichen Momente vorstellen, ich habe so etwas auch schon erlebt. Ich erinnere mich an solche Besonderheiten in der Luft, der Stille, dem Licht eines Sommertags, die sich kaum beschreiben lassen (was nur Dichtung kann und was er hier unternimmt): Denn sie sind so besonders, dass es sie eigentlich gar nicht geben könnte (daher rühren, liebe Sieglinde Geisel, wohl auch die Widersprüche, wie zB das windlose Wehen, ich weiß tatsächlich genau, was er meint). Dass er mir diese von mir selbst erlebten Wahrnehmungen ins Gedächtnis ruft, nimmt mich punktuell für ihn ein. Ich glaube, wenn seine Sprache eine Stärke hat, wenn das Poetische für die Leser gewinnbringend wirkt, dann so.
Aber das Apolitische und Eitle zerstört alles wieder. Denn solchen Wahrnehmungen gegenüber finde ich nicht die auftrumpfende Haltung des wissenden Hinzeigens überzeugend (sozusagen “Schaut doch endlich, was ihr ohne mich nicht seht, ihr Banausen!”), sondern eher eine Bescheidenheit angesichts der atemberaubenden Schönheit von Natur. Dann wäre die unsichere, suchende Annäherung womöglich sympathisch, weil wir die eigene Verunsicherung ob der Größe der Natur darin wiederfinden könnten.
Die Wirkung der zitierten Textstellen beinhaltet eben beides, das Hinweisen und Erschließen besonderer Momente und die eitle Ichbezogenheit des hinweisenden Autors.
Die Wahrnehmung von Besonderheit als Dauerzustand erschöpft sich irgendwann und delegitimiert sich auch selbst: “ständig besonders” ist eigentlich nichts Besonderes, keine Ausnahmeerfahrung mehr. Die Zuschreibung “besonders” rutscht damit auf die Metaebene: als besonders steht nur noch das Ich da, das in seinem Blick auf die Welt behauptet, nur Besonderes zu sehen (sogar, wenn alles so ist wie immer). Hier stellt sich das Ich vor die nur poetisch beschreibbare Wahrnehmung der Besonderheit der Welt, deshalb überwiegt die Ichbezogenheit in der Wirkung (und killt das Poetische).
Und wenn dann noch die Suche nach dem Besonderen (-> Haltung) in die unfreiwillige Selbstparodie (-> Wirkung) kippt, wie bei dem “anders gelben”, ist es mit dem Genuss am Poetischen für mich endgültig vorbei.
Deshalb finde ich Sieglinde Geisels nunmehr auf 200 Seiten bezogene Stilkritik plausibel (auch wenn ich im einzelnen gelegentlich anders auswerten würde).
Lieber Frank Heibert, danke sehr!
… Mit einiger Erleichterung las ich deine, wie auch Lars Hartmanns, Vorschläge zur Differenzierung angesichts des (muss jetzt mal sein;) unsäglichen Schullehrerhabitus von Siglinde Geisels Art des Abwatschen von Handkes (mir im Spätwerk auch nicht nahen) Schreibweise, ala zu viele Kommas, nicht flüssig genug etc. – – Überall sah ich das rot tadelnde Sinn?? der guten alten Aufsatzkommentatoren leuchten, ehe dann noch was zur Grammatik folgt;)
…Das ist ein mir persönlich wirklich extrem unerträgliches Lesen, weil es zu sehr auf die eigenen lieb gewonnenen Parameter vertraut, und wenig Willens ist, sich sozusagen versuchsweise mal vom vielleicht doch ganz richtigen Fehler an die Hand nehmen zu lassen… ;)
Lesebasis hier:
Nach dem großartigen „Wunschloses Unglück“ bis zur „Die Wiederholung“ habe ich Handkes Schreiben nur noch sehr sporadisch verfolgt (und kann mich erinnern, die „Lehren der St. Victoire“ wirklich inbrünstig:) gehasst zu haben als Kunststudentin;;)) und finde, obschon ich auf meinem Hausaltar eher Kluge & Goetz stünden als Handke, ihn doch passagenweise wieder wunderbar genau – grade da, wo es, wie Du schreibst, eben sehr schwierig ist, sich auch nur anzunähern…
…Der voreingenommene Furor der S.G. zeigt sich darin, dass selbst die alte Umgangssprachlichkeit, „das geht mir durch und durch“ von ihr nicht mehr erkannt wird, sondern nur als einer von vielen sinnfreien Manierismen gewertet bleibt. (..Sinnbefreit wäre wohl nochmal was anderes;)
Oder dass ihr nicht einfällt – um jetzt kurz auf Ihr Verlangen nach humanitär ehrenwerter Literatur zu reagieren – dass es natürlich seit jeher und derzeit wieder, soetwas wie Bettelbanden gibt, die das gewerblich angehen und auf Kosten jener – oft Frauen und Kinder – die sie ausbeuten um genau das, was die an ihrem Plätzchen im öffentlichen Raum einnehmen.
…Handkes Schreiben verknüpft ja häufig ein sehr visuelles Schreiben mit akustischem – in diesem noch immer oft lesevitalen sensorischen „Apparat“ unterwegs, ist erstmal wenig Raum für Subjektportraits, wie sie die bürgerliche Literatur gern hat..
(Also etwa ein Zoom ala: Der alte Mann neben dem Imbiss sah aus als würde er.. o.ä. – Handke reproduziert hier tatsächlich auch jenen Blick den Eilige auf Bahnhöfen nunmal haben, auf die dort Uneiligen ohne Zielort. – –
… Inwieweit nun freilich er selber, sprich, sein Erzähler-Ich (ein wichtiger Unterschied) sich vor das sensorisch Vermittelte schiebt – und inwieweit das womöglich selber ein Thema der Erzählung der „Obstdiebin“ wäre, und von ihr auch reflektiert als solches, das müsste wiederum die Lektüre des Ganzen erweisen, denke ich.
Oder irre ich mich da?
… Ich habe jedenfalls auch viel anfangen können mit der Passage um Landschaft und Wind, und kann es auch bei vielen anderen der hier kritisierten: wenn ich lesend eher ein sensorisches Erfahrungsregister aktiviere (fast vorsprachlich, aber eben nicht ganz;) – und ganz davon absehe, dass mir mundgerecht serviert werden soll, warum einer so und nicht irgendwie pragmatischer und alltagspolitischer in der Welt unterwegs ist.
Im Lesen der Beispiele habe ich öfter das Gefühl, dass Handke ziemlich eigensinnig daran arbeitet, eben diesen aktuell wenig beliebten (eskapistisch etc. gelabelten) Weltzugang zu extrapolieren, auf Gelingen wie auf Scheitern hin.
Dass große Autoren-Ego ist sicher da, aber in der Genauigkeit dieses Erzähl-Ichs wiederum liegt natürlich ebensoviel ungewolltes Lächerlichkeitspotential wie eben mögliches Untertunneln just solcher Größenideen.
(Und ja, ich glaube, ich mag Substantive über Menschen, die noch das/ein Verb/Tun in sich haben, wohl auch oft lieber, als solche hausartigen Großwörter, in denen Siglinde Geisel wohl mehr Menschenwürde und Subjektsein gesichert glaubt…:/) Da scheint mir ihr Lesen (und Begründen) der Seiten 1-99 leider ein ganz und gar durchkonditioniertes.
Liebe Frau Trenscéni,
vielen Dank für Ihre ausführliche Wut-Rede. Ich watsche Handke nicht ab, sondern versuche zu lesen, was dasteht und warum das so dasteht und nicht anders, und dann versuche ich darzulegen, warum mich das überzeugt oder eben nicht. Wenn das schulmeisterlich rüberkommt, tut mir das leid, aber ich finde es unredlich, meine Kritikpunkte in Watte zu verpacken. Dann gäbe es wohl weniger Widerspruch, aber gerade um den geht es mir: Ich will nicht recht behalten, sondern herausfinden, was wir mit einer Prosa wie der von Handke anfangen sollen.
Sie sagen, dass Sie beim Lesen von Sätzen wie dem über die Landschaft und Wind eher Ihr “sensorisches Erfahrungsregister aktivieren”. Das sei Ihnen unbenommen, aber das kann in Konflikt geraten mit dem “Lesen, was dasteht”. Für mich ist Genauigkeit ein Kriterium von Literatur (https://tell-review.de/satz-fuer-satz-3-genauigkeit/). Manche Sätze empfinde ich als Nebelpetarden, und das zu benennen (und zu belegen) gehört für mich zur Literaturkritik.
Auch Sie verweisen darauf, dass Sie manche Sätze von Handke “wunderbar genau” finden. Das habe ich ja bei der Übereinstimmung von Form und Inhalt benannt. Wenn das durch Kommas erzeugte Ruckeln zeigt, dass hier einer eben gerade nicht flüssig denkt, dann ist das für mich ein Zeichen von Qualität. Wenn damit allerdings nur eine Banalität sprachlich aufgeplustert wird, wenn sprachlich also eine Überhöhung geschaffen wird, die der Satz nicht hergibt, dann erlaube ich mir, das zu kritisieren, als Pathos, Stilisierung oder auch nur Kitsch.
Dass sich die Stelle mit den “Gehäuften” auf organisierte Bettelbanden beziehen könnte, ist ein interessanter Gedanke. Davon ist allerdings, soweit ich es sehe, im Text nicht die Rede, doch Ihre Lesart, dass hier einer gerade die gehetzte (und dann eben oft auch genervte) Innenwelt eines Reisenden wiedergibt, finde ich spannend. Ich schaue mir den Text daraufhin noch einmal an.
Während der Lektüre der Stilkritik musste ich an Arno Schmidts Polemik gegen den „Nachsommer“ von Handke-Ahn Adalbert Stifter denken („Sollte dergleichen wassersüchtiger Stil denn zum berüchtigten ‘Einfach=leben` wirklich unerläßlich sein?“).
Zu dem Detail der “in Paris auf die Gehsteige Gehäuften”:
Dieser Satz weicht von den anderen, hoch detaillierten Beschreibungen ab, denn hier entsteht nicht nur Atmosphäre durch poetische Mittel.
Handkes Wortwahl insinuiert undeutlich, sie unterstellt; Sieglinde Geisel erwähnte schon das eigenartige Element der in Frage gestellten Glaubwürdigkeit der Bettelnden (Fake-Schilder, als ginge es um die Handschrift). Alexandra Trencséni vermutet einen Bezug auf organisierte Bettlerbanden.
Okay — aber wie ist das Wort “die Gehäuften” eigentlich genau zu verstehen? Das ist ja eine passivische Konstruktion, es wird unterstellt, irgend jemand habe hier, aktiv, “in Paris” und in übergroßer Zahl Bettler auf die Gehsteige befördert.
Wer soll das sein? Die Stadt, die mit ihrer Wohnungspolitik seit Chirac alle anderen als die Reichen aus dem Zentrum in die Vorstädte oder in die Obdachlosigkeit gedrängt hat? Sollte Handke eine so konkrete politische Äußerung beabsichtigt haben? Das würde aber nicht zu den “gefälschten” Bettelschildern passen.
Oder meint er die Bosse der Bettlermafia, die die Banden auf die Gehsteige “häufen”? Sind die Bettler also Opfer, nur anders, als sie mit ihren Fake-Schiildern behaupten? Dafür müsste man Handke schon eine vielschichtige Aussage, raffiniert verklausuliert, zuschreiben.
Ich muss gestehen, ich finde beide Lesarten nicht schlüssig, wenn ich versuche, sie der in diesem Text durchklingenden Grundhaltung zuzuordnen. Ich vermute eher, das “die Gehäuften” nur heißen soll, es sind viele, sie treten “gehäuft” auf, was er zwar schon gesagt hat (mit seinen Mengenangaben), aber sein Hang zu den substantivierten Partizipien führt zu noch einem weiteren, ebendiesem etwas verquasten Exemplar.
Und die Ablehnung der Bettler — das mag man zynisch finden oder nicht — passt zu dem insgesamt Elitären, Menschenabgewandten, das die Schilderung der Menschenmengen durchzieht. Das hat auch eine politische Komponente, aber vermutlich keine bewusste oder beabsichtigte.
Was “die Gehäuften” aber sprachlich unterstellt (siehe oben), wird offenbar vom Autor übersehen oder in Kauf genommen, die Stilmarotte ist wichtiger.
Es ist schon erstaunlich — ich versuche, bei jeder neuen “Gewebeprobe”, jeder neuen. möglichst präzisen Sprachanalyse nicht mit lauter Vorannahmen hinzuschauen, versuche nur zu ergründen, was ich sprachlich vorfinde. Und lande, wenn ich abwäge, was mir plausibler und überzeugender vorkommt, bei ähnlichen Ergebnissen.
So und nur so muss man den Handkeverstehern entgegentreten. Vielen Dank für die Analyse.
Danke für diese gelungene Analyse. Im Gegensatz zu Handkes Aufzeichnungen “Am Felsfenster morgens” (1998), wo er besondere, auch mystische Augenblicke in konzentrierter, sehr poetischer und nachvollziehbarer Form schildert, was mich als Leser durchaus beglückt hat, kommen mir die oben besprochenen Ausschnitte aus “Die Obstdiebin” seltsam undeutlich vor. Zwar höre ich den bekannten Handke-Sound dann und wann heraus, aber es fehlt für mein Empfinden an Konzentration. Beim Lesen dachte ich: “Er schreibt aus der Rolle des ‘bedeutenden Autors’. Weil er es beschreibt, muss alles, noch das Unbedeutendste, Nebensächlichste, einfach wichtig sein.” Das Bewusstsein der eigenen Wichtigkeit als Autor kritisierte Handke vor dreissig Jahren am Beispiel von Thomas Mann aber scharf: “Da ist gleich der erste Satz so, daß man spürt, der das schreibt, ist sich dessen gewiß, eine Gemeinde zu haben, die auf seinen bestimmten Tonfall hört. Also er fängt nie wirklich an, sondern schreibt in dem Bewußtsein, daß er der Thomas Mann ist. Das ist doch verwerflich.” (Interview mit André Müller, 1988) Doch in diesem Bewusstsein geschrieben kommen mir die Passagen aus “Die Obstdiebin” ein Stück weit vor.
Einige der Sätze, die Sie anführen, erscheinen mir tatsächlich nicht geglückt, allerdings fehlt mir der Kontext, so dass ich mir kein abschließendes Urteil erlaube.
Als Jurist bin ich irritiert, dass Sie die 100 Seiten nun ja wie ein Jurist gelesen haben, als ob es darum ginge, einen objektiven Sachverhalt herauszufiltern. Den “Stille”-Satz – ob der nun geglückt ist oder nicht, sei dahingestellt – lese ich als Ausdruck mystischen Erlebens. Auch enthält er typische stilistische Merkmale mystischer Prosa – wie Ihr Test wohl bei Meister Eckhart, Teresa von Avila oder Jakob Böhme ausfiele? Leere ist in einem mystischen Kontext ebenfalls positiv konnotiert, von daher fände ich das, was Sie als Bedeutungsentleerung (ich assoziiere dabei auch Barthes: Die Leere der Zeichen) bezeichnen, nicht unbedingt negativ, so es denn zutrifft.
Was für mich zählt, ist, dass Handke jedenfalls etwas riskiert und aufs Ganze geht – ich spreche jetzt von den Sachen, die ich von ihm kenne. Das würde ich bei Nora Bossong, die bei Ihrem Test aus mir unerfindlichen Gründen gut abschneidet, bezweifeln.
Und dann verstehe ich, ehrlich
gesagt, Ihre Schlussfolgerungen, Frau Geisel, nicht. Auf Basis von 100 Seiten aus der “Obstdiebin” kommen Sie zu einem harschen Urteil über den Autor und den Menschen Handke. Sie schreiben: “Soll man dieses monumentale Werk vor seinem Autor in Schutz nehmen? Das würde bedeuten, die Ästhetik von der Ethik zu trennen.” Was haben Ihre Frage und Ihre Antwort mit den 100 Seiten aus der Obstdiebin zu tun? Nichts. Wieso stellt sich überhaupt diese Frage? Und wieso würde die Bejahung dieser Frage bedeuten, Ästhetik und Ethik zu trennen? Dafür liefern Sie kein einziges Argument. Und wieso sollen Ästhetik und Ethik nicht getrennt werden, obwohl Ethik und Ästhetik doch offenbar voneinander getrennte, weil unterschiedene Bereiche sind? Heisst das, eine Handlung, die gut ist, muss auch ästhetischen Kriterien genügen? Mir ist klar, dass Sie’s anders meinen. Aber Ihre ethischen Normen/Werte legen Sie dabei gar nicht offen, als würden sich die von selbst verstehen? Kann man Literaturkritik und Ethik trennen? Ist Ihre Kritik ethisch? Ich lese Ihre Kritik als Plädoyer für ästhetische und ethische Konformität.
Vielen Dank für Ihren Einspruch, der viele Türen öffnet. Interessant, dass Sie meine Lektüre als “juristisch” empfinden. In gewisser Weise trifft das zu, denn ich versuche, durch die Analyse der Sprache zu einem literaturkritischen Urteil zu kommen.
Virginia Woolf beschreibt in ihrem Aufsatz “Wie sollte man ein Buch lesen?” (in: “Der gewöhnliche Leser 2”) zwei Modi des Lesens: Bei der ersten Lektüre begibt man sich in die Rolle des Komplizen des Autors und versucht, alles zu erfassen, was sein Text uns geben kann. Bei der zweiten Lektüre, “nachdem der Staub des Lesens sich gelegt hat”, übernimmt man die Rolle des Richters, der das Ganze in den Blick nimmt und zu entscheiden versucht, ob es sich bei dem Buch, bildlich gesprochen, um einen Schweinestall, ein Wohnhaus oder einen Palast handelt.
In meiner Gewebeprobe nehme ich nicht das Ganze in den Blick, sondern beschränke mich auf einen Ausschnitt, daher ist mein Urteil längst nicht so apodiktisch gemeint, wie es vielleicht wirkt. Allerdings werden in einzelnen Formulierungen manchmal Dinge sichtbar, die einem verborgen bleiben, wenn man das Ganze liest. Und ich staune immer wieder, wie oft sich der Befund in der Lektüre des Ganzen bestätigt (übrigens auch im Fall von Nora Bossong, bei er nur eine Facette ihrer Erzählweise sichtbar wurde, die jedoch ist Teil des Ganzen).
Das Verhältnis von Ethik und Ästhetik ist ein weites Feld. “Ethik und Ästhetik sind eins”, sagte Wittgenstein. “Die Ästhetik ist die Mutter der Ethik”, sagt Brodsky, der meint, dass die Unterscheidung zwischen schön und hässlich älter sei als die zwischen gut und böse. Wenn wir unethische Handlungen miterleben, empfinden wir ja oft nicht nur eine moralische Empörung (“das ist falsch”), sondern auch Ekel (“das ist hässlich”).
Zum vorliegenden Fall: Sie haben Recht, ich hätte meine Schlussfolgerung genauer begründen sollen. Das Schlüsselwort ist “apolitisch”. Ich empfinde die 100 Seiten der Obstdiebin nicht als unpolitisch, sondern als apolitisch, d.h. es ist nicht so, dass der Autor sich entscheidet, einen unpolitischen Roman zu schreiben (z.B. über die Liebe, die Natur etc.), sondern er blendet das Politische vollständig aus. Und da stellt sich mir die Frage der Relevanz, gerade im Vergleich zu den Autoren, die er für sich als Ahnherren in Anspruch nimmt.
In der Ästhetik eines Texts drückt sich m. E. eine moralische Haltung aus, die ein Text einnimmt(Frank Heiberts Begriff ist in dieser Diskussion unverzichtbar). “Moralisch” nicht im Sinn einer Konformität, indem man gewissen Regeln gehorcht, sondern im Sinn einer Übernahme von Verantwortung. Sage ich etwas? Und hat dieses Etwas nur mit mir selbst zu tun, oder weist es über mich hinaus? Bei Mandelstam heißt es sinngemäß irgendwo, der Dichter müsse sich erst die Erlaubnis verdienen, mit dem Leser ins Gespräch zu treten. Das berührt dieses Thema der Verantwortung des Künstlers.
Ich hatte beim Lesen nicht das Gefühl einer mystischen Erfahrung (was an mir liegen mag), sondern den Eindruck, jemand wolle mir sein in allen Schattierungen ausgemaltes Wahrnehmen von Dingen aufdrängen, die völlig austauschbar und banal sind. Mit einem “wilden Willen” eine “andersgelbe” Quitte sehen zu wollen, die es gar nicht gibt, macht aus einer Nicht-Tatsache ein pathetisch aufgeladenes Ereignis. Das ist eine Simulation von Literatur (man könnte es auch einfach heiße Luft nennen), die ich als anmaßend empfinde (abgesehen davon, dass es auch an Selbstparodie grenzt).
Und das wiederum spiegelt sich auch in den politischen Texten von Handke: Es kommt mir vor, als sei die Tatsache, dass in jenem auf bestialische Weise Menschen ermordet wurden, weniger wichtig, als die Wahrnehmung des Autors, der davon berichtet (oder auch gerade nicht davon berichtet, siehe den Beitrag “Grundanders anfangen” von Lars Hartmann). Formulierungen wie “die Abgehausten” für die Opfer von Srebrenica empfinde ich als geschmacklos, und zwar sowohl aus ästhetischen wie aus ethischen Gründen – hier kippt die Ästhetik in Ethik. Die vorgefundene Realität, egal ob Quitte oder Kriegsopfer, ist nur noch Vorwand für eine Sprache, die ihre Pirouetten dreht.
Das gilt aber, um es noch einmal ausdrücklich zu sagen, nicht für alle Texte von Handke, das Frühwerk kennt eispielsweise andere Stilprinzipien.
Vielen Dank für Ihre Erwiderung. Darauf möchte ich Folgendes sagen:
1. Ihr Hinweis auf die beiden Lektüre-Modi ist konstruktiv. Frage: Haben Sie die 100 Seiten auch in Modus 1, also auch als Komplizin des Autors gelesen? Davon dringt in Ihrem Essay kaum etwas durch. Es könnte ja durchaus sein, dass Sie bei der Obstdiebin sogleich einen Widerwillen gegen solche Komplizenschaft empfunden haben. Und: Beruht ein gerechtes literaturkritisches Urteil nicht womöglich auf der Synthese beider Modi?
2. Ich habe die ersten 21 Seiten der Obstdiebin gelesen, also das, was als Leseprobe verfügbar ist. Mir zeigt sich der Erzähler als alter Mann, der in seine eigene Vorstellungswelt ziemlich versponnen scheint, mir zeigt sich eine Grundkonstellation, die man aus früheren Werken Handkes nur zu gut kennt und wohl mittelalterlichen Epen nachgebildet ist: jemand zieht aus zu einer Âventiure. Für Handke ungewöhnlich entfalten diese Szenen eine gewisse verhaltene Komik oder Ironie – das, was Sie als Selbstparodie bezeichnen? Ich neige dazu, die Komik für freiwillig, wenn auch nicht für beabsichtigt zu halten. Vor allem: Ich höre eine Erzählstimme, einen Erzählton, der durchaus etwas Einnehmendes hat – was Sie als aufdringlich empfinden? Was mich zum Beispiel einnimmt: Man gerät gleich in ein anderes Zeitempfinden. Auch die Stille überträgt sich, wenngleich nicht so stark. Mein Hinweis auf mystische Prosa sollte auf die rhetorischen Mittel aufmerksam machen, die Verwendung von Paradoxien und Oxymera und auch Redundanzen. Ob sich das mystische Erleben überträgt, ist wiederum eine andere Frage – dies muss man aber miteinbeziehen, wenn man sich fragt, wovon der Kerl da überhaupt spricht. Die Manierismen stören mich merkwürdigerweise kaum, da sie zur Erzählstimme gehören, mir kommt es vor, als würde ich einen alten Mann beim Selbstgespräch belauschen. Kurzum: Ich würde mich zum Komplizen des Erzählers machen und weiterlesen.
2. Zufällig lese ich aber gerade “Krieg und Frieden”. Was Sie zu Ethik und Ästhetik sagen, dem stimme ich weitgehend zu – so dass ich mich gefragt habe, wie macht sich das Ethische bei Tolstoi bemerkbar? M. E. darin, dass er seinen Figuren und den geschilderten Situationen gerecht zu werden versucht und deren Ambivalenzen zeigt und sich mit moralischen Wertungen gerade zurückhält.
3. “Apolitisch”? Ihren Test ausprobierend, habe ich “Immer noch Sturm” aus meinem Regal gezogen und auf S. 99 aufgeschlagen. Leider gibt das nur eine halbe Seite, aber was steht da: “Ja, gottgefällig zusammensitzen: das ist Tätigsein. Das ist Politik!” Keine Ahnung, was das zu bedeuten hat. Ich gebe zu, ich verstehe nicht genau, was sie mit “apolitisch” meinen. Irgendwie scheint das mit Handkes Egozentrik, seiner Selbstbezüglichkeit, die sich auch in einer selbstbezüglichen Sprache niederschlägt, zu tun zu haben. Dazu könnte man viel sagen. Auch mit Blick darauf, dass moderne Kunst eben selbstreferentiell ist. Handkes Ich-Sagerei finde ich durchaus politisch, und zwar als Gegenpol zu den politischen Kollektivismen, wie sie das 20. Jhd. geprägt haben. Das rechne ich Handke eher hoch an, dass er auf seinem Recht, als Einzelner zu sprechen beharrt. (Natürlich passiert es ihm, dass er sich selber auf den Leim geht und sein Ich ihm den Blick verstellt.) Dann denke ich an Prousts Aussage, wonach Lesen heiße sich selber Lesen. (Übrigens kann man dem Erzähler Marcel denselben Vorwurf machen wie Sie Handke: dass er die “Köstlichkeiten” seiner Wahrnehmung manchmal allzu sehr ausstellt, und manchmal empfinde den Erzähler auch aufdringlich, nach Aufmerksamkeit heischend wie nach dem Gute Nacht-Kuss der Mutter – aber das macht doch nicht die “Suche nach der verlorenen Zeit” aus?) Und so ging es mir auch bei Handke. Im günstigsten Fall führt das zu Selbstreflexion. Darin kann ich nichts Verwerfliches finden, im Gegenteil. Ist Ethik ohne Selbstreflexion möglich?
4. Ihre Kritik an Handke ist für mich durchaus nachvollziehbar: So kann man es sehen, muss es aber nicht. Hintergrund der Debatte ist ja der Literatur-Nobelpreis an Handke. Das wird skandalisiert mit Blick auf die Jugoslawien-Texte. Die Skandalisierung macht aus Handke quasi einen Unmenschen und impliziert, dass nur ein Blick auf ihn zulässig sei, nämlich der der Skandalisierung im Namen der Moral. Das halte ich für moralisch fragwürdig.
Was für eine reichhaltige Antwort, vielen Dank!
Zu 1.) Sie haben wohl recht, dass ich mich bei Handke nicht zur Komplizin machen wollte, und es ist auch im Page-99-Modus tatsächlich eine Gefahr, dass man ins Lehrerhafte rutscht. Allerdings suche ich nicht nur Fehler, sondern auch das Gelungene. Es geht darum, Abweichungen vom bewährten Durchschnittsdeutschen festzustellen, d.h. zu ergründen, ob es sich um ein literarisches Sprechen handelt und wodurch dieses sich auszeichnet. Der nächste Schritt besteht dann in der Wertung: Ist es genial oder ist es bullshit (“gemacht”)? Allerdings glaube ich, dass es durchaus Gründe hat, warum ich mich mit dieser Altmännerstimme nicht gemein machen will. Sie widerstrebt mir tatsächlich, schon im Ton. (Mal sehen, wenn ich Zeit habe, lese ich die nächsten 100 Seiten der Obstdiebin gern im Komplizenmodus!)
Zu 2.) Spannend, was Sie bei Tolstoi als das Politische seines Schreibens erkennen! Genau darum geht es: Perspektiven darzustellen, den Stoff bzw. die Figuren ernstzunehmen, also: dem gerecht zu werden, worüber man schreibt. Angemessenheit der Mittel. Und die finde ich eben nicht gewahrt, wenn einer sich mit “wildem Willen” der größtmöglichen Banalität widmet. So entsteht Pathos. Und wenn die Ästhetik in die Ethik kippt, würde ich sogar sagen, dass das etwas Verlogenes haben kann. Die Autoren, auf die Handke sich beruft (u.a. Tolstoi), haben sich eben alle nicht mit sich selbst und der eigenen Wahrnehmung befasst. Thomas Harlan hat einmal gesagt: “Kunst ist für andere.” Das scheint mir ein produktives Kriterium. Und das widerspricht nicht unbedingt, in der Stimme eines Einzelnen zu schreiben. Das kann durchaus ein politischer Akt sein.
Zu 3.) Was genau ich mit “apolitisch” meine, kann ich gar nicht eindeutig sagen. Ich bin da noch am Nachdenken. Es hat mit dem Ästhetik/Ethik-Komplex zu tun. Der senegalesische Autor Boris Boubacar Diop sagte in einer Schriftstellerkonferenz zu Ruanda einmal: “You can’t show off when you write about genocide.” Es sei zynisch, bei diesem Stoff seine stilistische Versiertheit vorzuführen. Thomas Harlan spricht in “Heldenfriedhof” vom “Verbrechen der Schönheitssucht”, gemünzt auf Ernst Jüngers Ästhetisierung des Kriegs. Auf der anderen Seite gibt es wiederum den Triumph der Schönheit über das Verbrechen: Die Fähigkeit, den Schrecken zu bannen, es ausdrücken zu können.
Was mich an Handke stört, hat mit der Ästhetisierung zu tun, sowohl des Schrecklichen wie auch des Banalen.
Zu 4.)Am Fall Handke wird die Trennung von Autor und Werk derzeit wieder neu diskutiert, und auch da bin ich zwiespältig. Beschädigen politisch fragwürdige Äußerungen oder Haltungen das Werk? Wie sagt William H. Gass so schön: “Bad men sometimes write good books.”
Es ist eine Tatsache, dass es in der Literaturgeschichte faschistische Autoren gibt, die nicht faschistische Werke geschrieben haben (Pound, Céline, Hamsun). Diese Spaltung spricht dafür, Werk und Autor zu trennen. (Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich zähle Handke nicht zu den faschistischen Autoren.)
Lieber Christian Backes, allen Dank für Ihre feinen Lektüreerweiterungen! (Elemente mystischer Texte gibt es tatsächlich bei Handke – – gar nicht unreflektiert. Dafür gibt es aber derzeit selten ein Leseohr, und eher nicht hier.:/ Trotzdem oder grade schön, wenn soetwas auftaucht.
Auch der Hinweis auf das historisch-politische Moment seiner Ichperspektiven ist wichtig.
(Persönlich kann ich einer scheinbar schlichten und direkten Prosa wie von Chantal Akerman (my mother laughs/ ma mere ride) genauso viel abgewinnen wie Prousts Ranken.:).
Vielleicht gibt es ( ohne nun Handke zum letzten wahren Literaten etc. heroisieren zu wollen) tatsächlich Arten von Prosa, bei denen man mit einer Seite 99 ihre Grenze eben gerade nicht erreichen kann, so verständlich so ein Anliegen im Feuilletonschaum sein mag…
Liebe Siglinde Geisel,
schade, dass Sie meinen Hinweis auf das sensorische Erfahrungsregister, für ein in Text finden, gleich mal ausrichten müssen als „nicht lesen (wollen/ können) was dasteht“.
Wenn das tatsächlich Ihre einzige Möglichkeit ist, Literatur zu rezipieren, dann wäre das schon schade…
…Vermutlich ist aber auch auf meiner Seite die innere Protestantin nicht stark genug, um von Literatur direkte Sinnstiftung im Sinne von ‚da sein kann nur was auch explizit benannt wird‘ zu ertragen. Bzw. das zu Erzählende kann wohl nicht im Flimmern der vielen sensorischen Überlagerungen im Text als situative Atmosphäre auftauchen – so ging mir das im (durchaus konspirativ willigen;) Lesen der Satzbeispiele durchaus.
Eigentlich ist Seite 99 ja ein Spiel wie Sie schreiben – aber es ist ein durchaus einseitiges, wenn der Text eben gerade nicht auch(!) mit dem konspirativen Aspekt gelesen wird, sondern eben zugerichtet aufs eigene Werturteil abgeklopft. Denn das war nun einmal in meinem Lesen Ihrer Kritik geworden…
Schön, dass dank Herrn Backes Beitrag die Konspirative wenigstens als fehlend bemerkt werden kann. :)
S.99 ist ja mal angetreten im Gestus von „des Kaisers neue Kleider“ entlarvenden Verfahren und Spielen. (Angesichts von feuilletonistischen Glanznoten für alles und jedes). – Und ich muss nun doch sagen, dass es mich auch freut, dass es Literatur gibt, die in diesem Verfahren einfach nicht zuende erschlossen werden kann bzw. die Grenze des Textes eben gerade nicht erreicht wird. (Einzelne gelungenere oder ungelungenere Sätze her oder hin.;). …Also bliebe dann tatsächlich eine Notwendigkeit weiter zu lesen, gegen den eigenen Widerstand. (Ob nun Die Obstdiebin dafür wirklich das lohnendste Handkebuch wäre, wage ich auch zu bezweifeln.;) ….Aber es wäre interessant zu erfahren, was im Ende des Buches aus dem ungeduldigen, womöglich pedantischen – kennen Sie wirklich nicht das Gefühl, so brüchig und schräg in der Welt unterwegs zu sein, oder in die Welt hinauszugehen, dass man manchmal zweimal abschließen möchte, oder es unvermittelt tut und es zugleich merkwürdig findet? – überempfindlichen und doch nicht genug empfindlichen Kerl geworden ist … Ob vielleicht sein Weltzugang noch derselbe ist, oder ob mehr menschliche Welt (Natur gewiss, aber auch die beschreibt Handke ja oft als von Menschenwerk versehrt) Teil hat bzw. umgekehrt.. (Ohne zur Erbauungsliteratur zu werden;))
Danke, dass Sie meinen Hinweis aufs Bahnhofs-Erleben hastiger Reisender als Basis der von Ihnen so kritisch diskutierten Zeilen trotz meines Unmuts bedenken wollen.:)
Liebe Alexandra Trencséni,
vielen Dank für die Fortführung Ihrer Bedenken. Vielleicht verstehe ich noch nicht ganz, was Sie mit „sensorischer“ Lektüre meinen. Ich stelle es mir so vor, dass die Wörter einen Nebel erzeugen, in dem ich mich sensorisch vorantaste, dass sie einen Duft, ein Lebensgefühl erzeugen – eben dieses „Schwebende“, von dem viele reden –, dem ich lesend nachgeben kann? Ich kenne diese Wirkung von Literatur durchaus, allerdings überzeugt mich die betreffende Literatur sehr viel mehr, wenn sie sprachlich genau ist. Ich misstraue dem absichtsvoll Ungefähren. Für mich ist Genauigkeit ein Kriterium für literarische Qualität.
Literatur ist aus Sprache gemacht, daher finde ich es nicht nur legitim, sondern für die Literaturkritik sogar geboten, die Sprache zu analysieren. Der Page-99-Test funktioniert ja immer in zwei Schritten: Zuerst schaue ich, was dasteht, und dann versuche ich herauszufinden, was ich davon halte. Der zweite Schritt ist natürlich viel schwieriger – und interessanter. Vor allem dann, wenn daraus solche Diskussionen entstehen, wie wir sie hier gerade führen.
Offenbar kommt man bei diesem Text von Handke dem Lese-Eindruck, den Sie hatten, mit der Analyse nicht auf die Spur. Vielleicht ist es ein bisschen so, wie wenn man ein impressionistisches Gemälde unter die Lupe hält und dann nur noch Punkte sieht. Allerdings habe ich mir mit der Lektüre der ersten 100 Seiten dann doch einen größeren Ausschnitt des Gesamtwerks angeschaut, und mein Lese-Eindruck ist dabei nicht in eine andere Qualität umgeschlagen. Darüber kann man selbstverständlich geteilter Meinung sein.
Sie bemerken völlig zu Recht, dass sich Handkes Literatur durch die Page-99-Test-Methode nicht zu Ende erschließen lässt. Das ist allerdings auch nicht die Absicht, und ein Buch, bei dem das gelänge, wäre wohl in seinen Mitteln sehr begrenzt. Es ist vielmehr umgekehrt: Für mich ist der Page-99-Test ein Anfang, ein erstes Hineinstechen. Dass das oft nicht so wahrgenommen wird, liegt wohl an meiner Neigung zu apodiktischen Formulierungen. Aber würde ich meine Einschätzungen mit allen durchaus gebotenen Vorbehalten versehen, würde sich vielleicht auch niemand zum Diskutieren herausgefordert sehen…
Eine Frage noch: Was ist denn Ihr Lieblingsbuch von Handke?
porträt des schreibers als literarischer gigant. erzählerZautorZleser. alles einZ. diese andauernde girlanderei, die den erzählend fühlenden in die weltelite fiktiver und autofiktiver helden stellt. sowie den einfühlend lesenden. kalkül, selbstüberwältigung, ringkampf mit sprachZe. das abo-sondern/auflecken des poesiespeichels. was sind schon hänsels, gretels, hamlete, quichotten, bachfrauen und die gesämtheit aller lyrischen ichse neben, vor und hinter diesem hochwichswald meines kürwill. lost in zen. ein bemessen/erobern von situationen, momenten ob ihrer literarizität; schlachtengemälde potentiollen mackertums. kommentar eines irritierten: der schweinehund scheint alles gelesen zu haben, übersetzt alles, was vor die flinte kommt – warum dieser stil? ist das hochkomik? “glotzt nicht so” die kuh beim kack?