In den Debatten um Peter Handke geht es kaum je um seine Prosa. Wir nehmen seine jüngsten Werke unter die Lupe und suchen nach Kriterien.
Die bisherigen Texte in chronologischer Reihenfolge:
- Page-99-Test zu Die Obstdiebin
- Ob der Kaiser nackt ist…
- Hundert Seiten Handke:Ein P. S. zum Page-99-Test
- Grundanders anfangen
- „Nur keine Hast auf den Zwischenstrecken…“
- „Schleife um Schleife, mit Riesenumwegen…“
Es lohnt sich, anlässlich der Nobelpreisverleihung an ein paar ältere Texte zu erinnern, die versuchen, sich auf Peter Handke einen Reim zu machen.
Marcel Reich-Ranicki hat 1976 einen Verriss von Die linkshändige Frau geschrieben (den Hinweis darauf verdanke ich den tell-Lesern Luisa und Ulrich Umlauf). „[E]in erstaunlich harmloses Prosastück, das schon von einigen Rezensenten mit Andacht analysiert wurde“, findet MRR. Er identifziert diesen Text, in dem eine Frau namens Marianne ihrem Ehemann den Rücken kehrt, als „eine typische, eine fast schon klassische Emanzipationsgeschichte“. Die Emanzipation werde „seit geraumer Zeit von jeder Generation als ein besonders dankbares und reizvolles Thema entdeckt“. Zum Ziel allerdings sei es noch weit. „Nichts also gegen Handkes Thema. Zu fragen wäre lediglich, was er im einzelnen erzählt und wie er das macht.“
Genüsslich zitiert Reich-Ranicki den Stuss, den Handke Mariannes Ehemann Bruno sagen lässt, um dann festzustellen: „Wie man sieht, liebt dieser Verkaufsleiter nicht nur seine Frau, sondern auch die feierliche Rede.“ Die Noch-Eheleute beschließen, in einem Restaurant zu essen. „Fragt er etwa: ‚Gehen wir zu Fuß?‘ Nein, bei Handke spricht ein Verkaufsleiter anders: ‚Hast du auch Lust auf einen Fußweg wie ich?‘“
Es komme darauf an, ob ein Dichter Formulierungen finde, „die uns zwingen, ihm zu folgen“. An diesem Kriterium scheitert Handke:
Wo die Sprache versagt, verlieren die undefinierbaren Ahnungen augenblicklich den Reiz des Dunklen: Was bleibt, ist dann nur noch unverbindliches Gerede.
Reich-Ranicki wirft Handke nachlässiges, also schlechtes Formulieren vor. Dabei entstehe
jener Mumpitz, der Tiefsinn vortäuscht und in Deutschland immer beliebt war und ist.
Reich-Ranicki belegt dies mit Zitaten wie diesem: „Gerade hatte ich das Gefühl, jede Minute allein entgehe einem etwas, das nicht mehr nachholbar ist. Sie wissen, der Tod.“ So spricht in der Erzählung ein Trivialliteratur-Verleger zu Marianne.
In Die linkshändige Frau dominieren das Ungefähre und das Triviale, jedenfalls findet Marcel Reich-Ranicki sich hier nicht in der Welt von Tolstoi-Homer-Cervantes wieder. In der Restaurantszene zitiert er den Satz: „Der Ober stand still im Hintergrund…“
Und dicht neben ihm, ließe sich hinzufügen, Hedwig Courths-Mahler.
Schon 1976 finden sich in Reich-Ranickis Text Anspielungen auf die quasi-religiösen Handke-Verehrer, die „das Dürftige und Nichtssagende der Darstellung zu Handkes Gunsten“ auslegten, „etwa als Zurückhaltung und Diskretion, als radikale Beschränkung auf das Wesentliche“.
„Wissen Sie, ich rede nur so dahin, ohne Bedeutung“, zitiert Reich-Ranicki den von seiner Frau verlassenen Bruno. Er fragt sich, ob das vielleicht auch für den Autor gelte.
Adorno als Handke-Kritiker?
Peter von Matt verweist in seinem Aufsatz „Ist die Literatur ein Spiegel der Welt?“ (1994) auf Adornos Aufsatz „Standort des Erzählers im modernen Roman“ von 1954. Dort findet sich das Diktum: „Es läßt sich nicht mehr erzählen.“ Peter von Matt erwägt, ob sich bei Adorno „eine Kritik an Handke zum voraus“ ausmachen lasse. Er zitiert Adorno mit den Worten: “Wer heute noch, wie Stifter etwa, ins Gegenständliche sich versenkte und Wirkung zöge aus der Fülle und Plastik des demütig hingenommenen Angeschauten, wäre gezwungen zum Gestus kunstgewerblicher Imitation. Er machte der Lügen sich schuldig […].“
Als Adorno dies schrieb, trat Handke eben als Zwölfjähriger ins Gymnasium ein. Die Meinungen aber, ob Adorno damals schon gegen den späteren Handke recht gehabt habe oder aber von diesem eines Tages widerlegt worden sei, dürften bis heute geteilt sein.
Ich glaube, dass Peter von Matt Recht hat, wenn er das Adorno-Zitat vorausschauend auf Handke münzt. Auch mir hatte sich in meinem Page-99-Test der Begriff „Kunstgewerbe“ aufgedrängt.
Reich-Ranicki spricht 1976 in seinem Verriss eines Prosatexts von „unverbindlichem Gerede“. Eine „ganz private Schwätzerei“ nennt Dževad Karahasan zwanzig Jahre später Handkes Winterliche Reise zu den Flüssen Save, Donau, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien in einem Essay in der Zeit.
Alles, was in Handkes Text existiert, sei
lediglich Kulisse und Anlaß für Wasserfälle von Bekenntnissen des Erzählers, der nicht willens ist, etwas außerhalb seines Subjekts wirklich wahrzunehmen.
Handkes Text ist eine ganz private Schwätzerei, in der es nichts gibt außer dem sprechenden Subjekt. Und selbst wenn sich etwas anderes außer dem Subjekt zeigt – dann wird es nur erwähnt (nicht beschrieben, nicht präsentiert, nicht mit Dasein beschenkt – nur erwähnt), um eine momentane Assoziation des sprechenden Subjekts zu illustrieren.
Genau das ist es, was auch mich an Handke politisch abstößt: ein ausbeuterischer Narzissmus, der die monströse Realität des Leids der anderen benutzt für seine poetisch verbrämte Versenkung ins Hier und Jetzt. Der Poet feiert sich und seine Wahrnehmung, unbekümmert um die Toten.
Der Dichter-Priester
Mit bestechender Detailschärfe entlarvte Wolfram Schütte damals in der Frankfurter Rundschau die Poetenpose, mit der Handke sich vom Journalismus abgrenzt und sich zugleich eine politische Narrenfreiheit erschleicht:
Er selbst sieht sich als „Dichter“, d. h.: als eine allem „Schrieb“, „Geschreibsel“ und Journalismus per se überlegene, weisheits- & weihevolle Wahrnehmungs-Instanz, die ihre schöne „Kunst der Ablenkung – die Kunst als die wesentliche Ablenkung“ versteht. […] Händler-Manipulatoren versus Dichter-Priester; Uneigentliche, konterkariert vom Eigentlichen; Gucker, die ein Seher überschaut.
Zur narzisstischen Poetik dieser Texte – die „ganz private Schwätzerei“ in Karahasans Worten – schreibt Schütte:
Das gleichermaßen Faszinierende wie Deprimierende des Handke-Textes ist seine vollkommene Transparenz im Hinblick auf den Autor als empirische Person. Deren Streit- & Winkelzüge treten einem unverhüllt als Motivationen, Strategien und Rhetoriken eines entlastungssüchtigen Subjekts entgegen.
Pseudopolitische Prosa
„Die Ästhetik ist die Mutter der Ethik“, sagte Joseph Brodsky 1987 in seiner Nobelpreisrede. Bei Peter Handkes Serbien-Texten geht es letztlich nicht um politische Aussagen, daher lautet die Frage auch nicht, ob Handke das schreiben darf. Die Frage lautet: Was ist es wert?
Selbst Dževad Karahasan, der als bosnischer Autor aus dem belagerten Sarajevo geflohen war und genug Grund für eine moralische Verurteilung gehabt hätte, landet schließlich bei einer ästhetischen Verurteilung dieser pseudopolitischen Texte: Kunst, die keinen Aspekt des objektiven Daseins artikuliert und damit nicht der Erkenntnis dient, ist Kitsch. Auch der Literaturwissenschaftler Jürgen Brokoff stellte 2010 in der FAZ fest: „Es ist eine Verharmlosung, Handke für seine vermeintlich naiven politischen Stellungnahmen zu kritisieren. Der eigentliche Sündenfall dieses Autors ereignet sich nicht auf dem Feld des Politischen, sondern auf dem Feld des Literarischen.“
Der Sündenfall auf dem Feld des Literarischen besteht in der poetisch verklärten Selbstbezogenheit. Diesen Zug der Handkeschen Prosa beschreibt auch Christine Lötscher, und zwar in einem aktuellen Text in der Republik. In ihrer Analyse von Versuch über den Pilznarren kommt sie zu dem Schluss:
[…] Handkes Erzähler ist es darum zu tun, die Welt in ein Reich der Poesie zu verwandeln, zu dem er allein Zugang hat – und dessen Bedeutung nur er der Leserin verkünden kann.
Dass der Erzähler in Versuch über den Pilznarren nicht nur Pilze sucht, sondern in seinem Brotberuf als Anwalt auch Kriegsverbrecher vertritt, und zwar erfolgreich, ist in dieser Feld-, Wald- und Wiesenprosa offenbar nur eine Fußnote. Es geht nicht um die politisch-gesellschaftliche Welt, in der wir alle leben, sondern allein um den Dichter und seine Poesie.
Das scheint mir, sowohl ethisch als auch ästhetisch, nun ja, sagen wir mal: fragwürdig.
Nun ist es aber nirgends gesagt, weshalb die Sätze von Dževad Karahasan, Wolfram Schütte, Peter von Matt, Marcel Reich-Ranicki und Theodor W. Adorno per se und qua Zitation schon richtig sein sollten (Argumentum ad verecundiam). Diese sachliche Richtigkeit muß sich aus der Sache sowie der konkreten Analyse erweisen und nicht aus einem Autoritätsargument heraus. Und „konkrete Analyse“ bedeutet eben nicht, von außen an die Literatur seine persönliche Wunschliste heranzutragen, sondern einen Text immanent nach seinem Gemachtsein, seiner Struktur und nach seinen eigenen Ansprüchen zu sichten.
Das Zitat von Adorno ist übrigens, nimmt man einmal seine Konzeption von Literatur für richtig, überaus interessant: Dann es richtet sich nämlich diese Frage nach dem Standort des Erzählers nicht einfach und schlicht gegen eine bestimmte Form von Subjektivität, sondern gegen einen Realismus und gegen solche realistischen Formen des Erzählens insgesamt.
„Die Aufgabe, in wenige Minuten einiges über den gegenwärtigen Stand des Romans als Form zusammenzudrängen, zwingt dazu, sei’s auch gewaltsam, ein Moment herauszugreifen. Das soll die Stellung des Erzählers sein. Sie wird heute bezeichnet durch eine Paradoxie; es läßt sich nicht mehr erzählen, während die Form des Romans Erzählung verlangt. […]Vom Standpunkt des Erzählers her durch den Subjektivismus, der kein unverwandelt Stoffliches mehr duldet und eben damit das epische Gebot der Gegenständlichkeit unterhöhlt. Wer heute noch, wie Stifter etwa, ins Gegenständliche sich versenkte und Wirkung zöge aus der Fülle und Plastik des demütig hingenommenen Angeschauten, wäre gezwungen zum Gestus kunstgewerblicher Imitation. Er machte der Lüge sich schuldig, der Welt mit einer Liebe sich zu überlassen, die voraussetzt, daß die Welt sinnvoll ist, und endete beim unerträglichen Kitsch vom Schlage der Heimatkunst. Nicht geringer sind die Schwierigkeiten von der Sache her. Wie der Malerei von ihren traditionellen Aufgaben vieles entzogen wurde durch die Photographie, so dem Roman durch die Reportage und die Medien der Kulturindustrie, zumal den Film. Der Roman müßte sich auf das konzentrieren, was nicht durch den Bericht abzugelten ist. Nur sind ihm im Gegensatz zur Malerei in der Emanzipation vom Gegenstand Grenzen gesetzt durch die Sprache, die ihn weithin zur Fiktion des Berichtes nötigt: konsequent hat Joyce die Rebellion des Romans gegen den Realismus mit einer gegen die diskursive Sprache verbunden.“ (Adorno, Der Standort des Ezählers)
Diese Art der Sprache (und insbesondere im Hinblick auf die Dichtung der Gegenwart) finden wir jedoch in der Literatur kaum noch – mal gesetzt diese normative Sicht Adornos auf Dichtung ist stichhaltig. Und damit fiele in etwa 90 Prozent der Literatur unter den Tisch und dem Verdikt Adornos anheim. Und nicht bloß Handke, wie hier suggeriert wird. Auch diese Passagen von Adorno muß man nämlich mit dazusetzen. Insofern ist der polemische Einsatz von solchen Zitaten eine heikle Sache und kann Effekte erzielen, die nicht unbedingt gewünscht sind. Dieses knappe Adorno-Zitat einfach so aus dem Kontext als Autoritätsargument zu gebrauchen: damit schießt man sich am Ende selbst ins Knie und damit fallen genauso die von Sieglinde Geisel geschätzten Autoren wie Elena Ferrante und Karen Köhler (siehe der Page-99-Test) knallhart-krachend dem Adornoschen Diktum zum Opfer. Und ich vermute sogar 99,29 Prozent der deutschsprachigen Literatur überhaupt geht den Gang übern ästhetischen Jordan. Dies also einfach nur auf Handke zu beziehen, verfehlt die grundsätzliche Dimension von Adornos Kunstkritik.
Hinzu kommt, daß bei Adorno Subjektivität einen mehrfachen Sinn besitzt. Einerseits geht es ihm um die Konstruktion von Kunst, andererseits um eine kraft Subjektivität aufgeladene Wahrnehmung, wie wir sie auch bei Handke finden. Und dies ist eine Wahrnehmung die gegen den Strom schwimmt:
„Denkende Subjektivität ist aber gerade, was nicht in den von oben her heteronom gestellten Aufgabenkreis sich einordnen läßt: selbst diesem ist sie nur soweit gewachsen, wie sie selber ihm nicht angehört, und damit ist ihre Existenz die Voraussetzung einer jeglichen objektiv verbindlichen Wahrheit. Die souveräne Sachlichkeit, die das Subjekt der Ermittlung der Wahrheit opfert, verwirft zugleich Wahrheit und Objektivität selber.“ (Adorno, Minima Moralia)
Und in diesem Sinne steht auch Handke in solchem Bezug von Subjektivität, der für Adorno erkenntnisstiftend sein kann. Gerade auch, weil vom Mainstream abgewichen wird.
Das herausbrechen einzelner Sätze aus dem Kontext des Werkes, um sich dann ohne Zusammenhang über sie zu amüsieren, ist zudem kein Ausweis von Literaturkritik. Und auch hier gilt: Weshalb sollten die Behauptungen von MRR richtig sein? Nur weil MRR es sagt? Wohl kaum. Dem quasi-religiösen Handke-Verehrer korrespondiert, so scheint es, der quasi-religiöse Handke-Hasser. Dialektik ist nicht die Stärke dieser Art von Literaturkritik.
„Der Poet feiert sich und seine Wahrnehmung, unbekümmert um die Toten.“
Solche Sätze gehen nun schon in den Bereich der Unterstellung und sind ungehörig, um die höfliche Variante zu wählen. Und sie lassen mich auch vermuten, daß weder „Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“, noch „Sommerlicher Nachtrag zu einer winterliche Reise“, noch die übrigen sechs Texte von Handke zum Jugoslawien-Krieg angemessen gelesen wurden. Und ebensowenig wird diese Unterstellung deshalb richtig, weil Dževad Karahasan sie kundtut, der vorgibt, diese Texte gelesen zu haben. Im Reich des Meinens kann diese Sache ebenso auf Karahasan wieder zurückfallen. Das Fragende und das Suchende dieser beiden Handke-Texte kann oder will Dževad Karahasan nicht sehen.
Und auch hier zeigt sich wieder einmal, wie sehr die ideologische Brille den Blick verstellt. Ja, man kann kritisieren, daß Handke wenige Worte für die bosnischen Muslime und die Kroaten übrig hat. So wenig wie in großen Teilen die deutschen Medien für die serbischen Opfer etwas übrig hatten und ihr aus alter Zeit bekanntes „Serbien muß sterbien“ krächzten, kann man dann allerdings mit bösem Ton entgegnen.
„Bei Peter Handkes Serbien-Texten geht es letztlich nicht um politische Aussagen, daher lautet die Frage auch nicht, ob Handke das schreiben darf. Die Frage lautet: Was ist es wert?“
Nun, als Medienkritik gegen einen Mainstream-Journalismus, der gerne die Opfer der einen Seite zeigte und die der anderen aussparte und verschwieg, daß in den von Serben angegriffenen Moscheen und Krankenhäusern eben auch Artillerie sich befand und daß von allen Kriegsparteien gleichermaßen Frauen und Kinder als Schutzschilde mißbraucht wurden, ist all das, was Handke brachte eine wesentliche und wichtige Stimme. Man hätte sich gewünscht, daß dies damals auch in den Zeitungen zu lesen gewesen wäre.
Nach diesen von mir gezeigten Befunden und wenn man es ähnlich böse und polemisch machte, müßte man nun die Überschrift umformulieren: „Vorgetäuschte Literaturkritik“. In der Causa Handke, die eigentlich eher eine Causa Medien ist, geht es leider schon lange nicht mehr um die Dichtung Handkes, sondern um einen ideologisch motivierten Komplett-Verriß eines Autors. Auf einer Ebene zudem, wo die Privatbefindlichkeiten zum Maßstab für die Sache gemacht werden. Für eine gelungene Literaturkritik ist sowas nicht wirklich hilfreich.
„Ein argumentum ad verecundiam (lat. für ‚Beweis durch Ehrfurcht‘) oder Autoritätsargument ist ein Argument, das eine These durch die Berufung auf eine Autorität, wie zum Beispiel einen Experten oder einen Vorgesetzten, beweisen will. Da Autorität als solche keine Garantie für Wahrheit ist, handelt es sich nicht um eine logisch zwingende Schlussfolgerung.”
– musste ich Dummerchen in der Wikipedia nachlesen.
Hier jetzt in der Kommentarspalte groß Adorno aufzufahren, um die von Sieglinde Geisel treffend ausgewählten und kompilierten Zitate abzutun, scheint mir nicht eben folgerichtig. (Der Wagenbach-Verlag zitierte einmal – aber wen?! – in seinem Almanach Zwiebel: „Mit Leonardo weg von den Autoritäten!”)
Es hätte nicht viel guten Willens bedurft, um einzuräumen, dass die vom verstorbenen Papst monierten Handke-Stellen tatsächlich krampfhaft originell und somit misslungen sind. Dieses einfache Zugeständnis habe ich hier vermisst. Darum möchte ich abschließend auch ein kleines Adorno-Prunkzitat bringen, einen Begriff nur, aus dem Zusammenhang gerissen und falsch gebraucht, aber vielleicht wird doch ein Reim daraus: „Verblendungszusammenhang”.
Meines Wissens war es Erich Fried (also das Leonardo-Zitat).
Lieber Lars,
Nur kurz zum Autoritätsargument: Es ist schlechte Argumentationstheorie (das, was ich Listenabarbeiterei nenne, Listen abarbeiten anstelle kritischer Analyse), ein Autoritätsargument per se für schlecht zu erklären.
Beispiel: Ich behaupte, aus der Cauchy-Schwartzschen Ungleichung folge die Dreiecksungleichung. Woher ich das weiß? Steht so in meinem Mathe-Buch.
Autoritätsargument?
Ja!
Also ein schlechtes, irrationales, ungeeignetes Argument?
Mitnichten!
Und das gilt für viele Thesen, bei denen wir uns – anders können wir uns gar nicht orientieren – vertrauensvoll einem etablierten Wissensstammm anvertrauen. Es ist schlechte, diskurszerstörende Argumentationstheorie, jedesmal die Peano-Axiome abzufordern, jedesmal das Originaldokument abzufordern. Natürlich werden die etablierten Thesen – anders ist Fortschritt nicht möglich – immer wieder überprüft. Aber man muss dann auch mal, im in Frage stehenden Kontext unhinterfragt, mit ihnen arbeiten können. Jedem Essay abzufordern, er müsse bei Adam und Eva anfangen bedeutet: Jedesmal muss ich erst einmal 500 Seiten erkenntnistheoretische Prolegommena schreiben…das geht so nicht. Das ist nicht Kritik, das ist Taschentrick-Spielerei. Sorry, aber es juckt mich seit langem in den Fingern…
Lieber Harmtut Finkeldey: Weil X, Y oder Z etwas sagen, ist es nicht deshalb richtig, weil X, Y oder Z es sagen. Man muß schon anführen, warum das so ist. Ansonsten nenne ich nun einfach ein paar Namen wie Lothar Struck, Malte Herwig oder Klaus Kastberger, die sagen, weshalb Handkes Prosa gut oder genial ist und warum diese Art von Literatur in der Spätmoderne eine angemessene Weise des ästhetischen Ausdrucks is. Und da steht dann, wie Hegel so schön in der „Phänomenologie des Geistes“ festhielt, ein Meinen gegen das andere und mit solchem Aufzählen ist also nichts gewonnen; man kleidet sich höchstens mit Namen.
Und weshalb die Zitation von Adorno nach hinten losgeht und nicht funktioniert, zeigte ich bereits. Wer also eine solch große Nummer auffährt und derart die Latte hoch ansetzt, der muß sie auch überspringen und nicht unterlaufen. Und der Einsatz eines solchen Mittels, um einen Autor des Kitsches zu überführen, muß da schon etwas genauer und gründlicher gehen. Adornos generelle Kritik an einer bestimmten Art von Literatur nun an Handke festzumachen, schränkt den Problembereich unzulässig ein und extrahiert eine bei Adorno grundsätzlich in der ästhetischen Frage aufgeworfene Problematik
„Jedem Essay abzufordern, er müsse bei Adam und Eva anfangen bedeutet: Jedesmal muss ich erst einmal 500 Seiten erkenntnistheoretische Prolegommena schreiben…“
Falsche Voraussetzung., denn ist hier nicht das Thema, bei Adam und Eva zu beginnen, sondern es geht lediglich darum, eine konsistente Begründung zu liefern und die funktioniert nicht, indem man sich auf andere Autoren beruft und dabei von MRR eine Polemik sich herausgreift, die zudem MRRs Privatlesevergnügen nur widerspiegelt. Aber das Dekontextialisieren ist ja in der Sache Handke inzwischen eine beliebte Methode. (Und wenn wir uns mal mit MRRs Verständnis von Literatur befassen, dann käme ggf. heraus, daß da einiges im Argen ist. Insofern ist mir nicht ersichtlich, weshalb ich MRR als eine Autorität anerkennen sollte. Wenn ich Herrn Raddatz nach MRR befragte, käme wenig Erquickliches zum Vorschein.) Zumal diese Kritik hier nicht einmal mehr konkret auf ein Werk eingeht, sondern hier einen Pauschalverriß liefert. Insofern wäre es gut, zunächst einmal weder bei Adam und Eva anzufangen, noch andere Kritiker als Gewährsleute zu wählen, sondern in sich konsistent darzulegen, weshalb das Werk von Handke mißlungen ist. Was nebenbei bei einer solch umfangreichen Dichtung, wie sie Handke schrieb, eine sportliche Leistung darstellt, wenn man das mal eben auf 9000 oder 12.000 Zeichen erledigen will. Bei der „Obstdiebin“ wurde ja wenigstens versucht, diese Kritik anhand der ersten 100 Seiten einer Dichtung durchzuführen, wenngleich auch das mich nicht überzeugt, denn für die Frage nach der Ausfaltung von Motiven z.B. sollte man eigentlich alles und das auch am besten mehrmals gelesen haben.
Aber das sind Fragen, die eine Literaturkritik insgesamt im Feuilleton betreffen und dabei Fragen auch nach neuen und anderen und besseren Formen der Literaturkritik aufwerfen.
Und bei den Taschenspielertricks wäre ich insofern vorsichtig, weil sie recht einfach auf einen selbst zurückfallen können. Ein Autoritätsargument ist dann schlecht, wenn es anstelle des eigenen Arguments sich auf eine andere Autorität oder Instanz beruft und diese als Referenz benutzt. Ich kann mich hier auch nicht auf Struck oder Kastberger berufen, um dann zu behaupten, daß Handke einer der großen Dichter des 20. Jahrhunderts ist.
Um es kurz zu machen: Ich zitiere MRR nicht qua Autorität, sondern weil ich seine Argumente, die er mit Zitaten belegt, überzeugend finde. Ditto alle anderen Zitate.
Aber es bleibt dabei, dass Sie hier über einen Autor urteilen, von dem Sie bisher kaum etwas gelesen haben. All die Zitate besagen nicht viel, solange Sie nur dazu dienen, Vorurteile zu untermauern. Hat nicht übrigens derselbe Reich-Ranicki fünfzehn Jahre später Handkes sprachliche Virtuosität gepriesen?
Schön und gut, dass es hier um Ästhetisches geht. Die spannende Frage scheint mir aber fast: weshalb schafft es Handke derart zu polarisieren.
Ich glaube, MRR etc. fungieren hier nicht als Autoritäten, jedenfalls nicht in erster Linie, sondern als Zeugen, die Frau Geisels Ansicht bestätigen bekräftigen sollen. Spannender hätte ich’s gefunden, wenn auch Zeugen pro Handke aufgerufen worden wären, das würde sich doch auch lohnen. Oder nicht? Sebalds Essay über Die Wiederholung? Oder auch Federmairs Essay, kürzlich auf Lothar Strucks Blog erschienen?
“Die linkshändige Frau” habe ich als eher schwach in Erinnerung, sie ist weder ein Hauptwerk noch typisch. Angeregt durch MRRs Verriss könnte ich erneuter Lektüre womöglich ganz neue Reize abgewinnen, nicht ausgeschlossen, dass Handke da mit Mustern des Trivialromans gespielt hat.
Anders als MRR, dessen Literaturverständnis für mich auch überaus fragwürdig ist, ist die Adorno/PvM-Linie interessanter. Da müsste man weit ausholen, kurz gesagt: Was Handke seit seiner sog. “metaphysischen Wende” liefert, ist kein Kunstgewerbe,ich finde vielmehr, dass er damit Türen (wieder) geöffnet hat. Auch darin, dass er das Subjektive nicht zugunsten des Objektiven verdrängt, sehe ich ein Verdienst. Muss man nicht durch das Subjektive hindurch, um zu etwas Objektivem zu gelangen? Alles andere sehe ich als Illusion, und das hat auch mit Handkes m. E. berechtigter Kritik zu tun, wie er sie in der winterlichen Reise an der Serbien-Berichterstattung übt.
“Selbst Dževad Karahasan, der als bosnischer Autor aus dem belagerten Sarajevo geflohen war und genug Grund für eine moralische Verurteilung gehabt hätte” – finde ich wiederum schief: Welchen Grund genug hätte Karahasan gehabt? Hat Handke Karahasan vertrieben? Handkes Schriften hatten keinen Einfluss auf den Krieg. Das stört mich dermaßen an der Debatte, dass nicht zwischen Tätern und Sympathisanten (oder wie immer man Handkes Haltung bezeichnen will) unterschieden werden kann.
Narzissmus? Kann ich nicht ganz von der Hand weisen. Aber sind davon denn Handkes Texte bestimmt? Selbstbezüglichkeit – dieser Vorwurf geht in eine ähnliche Richtung – ist aber das “Markenzeichen” der Moderne, während das Mittelalter die recurvatio in se ipsum als schlimme Sünde brandmarkte.
Dennoch sehe ich Handke auch ambivalent, bin ich nicht restlos überzeugt. Aber bei welchem Autor wäre das anders?
Teil 1/4
Im Podcast des Deutschlandfunk Kultur sagt Frau Geisel auf die Frage, was sie an Handke gereizt habe: „Ich bin ja ein Stil-Junkie. Ich wollte herausfinden, was ist eigentlich mit der Literatur los?“ https://www.deutschlandfunkkultur.de/lakonisch-elegant-61-literaturnobelpreis-warm-up-vor-der.3717.de.html?dram:article_id=464996
Ein Junkie ist jemand, der im fortgeschrittenen Stadium von harten Drogen wie Heroin oder Crack abhängig ist. Frau Geisel ist also vom literarischen Stil abhängig. Doch was ist Stil?
Karl-Dieter Büntig schreibt in seiner „Praktischen Stilistik“: „Von allem etwas. Und das macht die Frage schwierig. Die Kompliziertheit macht aber auch sofort klar: Es gibt keine eindeutigen Urteile, daß nur eine bestimmte Ausdrucksweise guter Stil sei. Es hängt immer von vielerlei ab, zumindest von der Zeit, in der man lebt, von den Schreibabsichten, vom Texttyp, vom Gebrauchszusammenhang des Textes, von den Eigenheiten des Schreibers, aber auch von der Erwartungshaltung und damit den Sprachgewohnheiten des Lesers, und das gilt für Schreiberin und Leserin natürlich in gleicher Weise.“ https://www.uni-due.de/buenting/01WasistStil.pdf
Mit diesem Vorwissen – und der Erwartung, dass ich nun eine Zerlegung von Literatur bekomme – gehe ich an den Text „Vorgetäuschter Tiefsinn.“ Weil ich Frau Geisels negative Grundhaltung zu Peter Handke aus anderen Beiträgen (u.a. im Deutschlandfunk Kultur) kenne, erwarte ich aufgrund der Überschrift keine neuen Erkenntnisse, sondern einen weiteren Versuch, Peter Handke zu demontieren. Im Gegensatz zu den anderen Kritikern will sie das aber „stilvoll“ machen.
In der Unterüberschrift (Subline) stellt die Autorin zwei Fragen: Was für Rückschlüsse erlaubt die Literatur eines Autors auf seine politische Haltung? Und: Lassen sich Ästhetik und Ethik überhaupt trennen?
Zwei große Fragen. Zuerst fragt sie: „Was für Rückschlüsse…?“ Sie hätte auch fragen können: „Welche Rückschlüsse erlaubt die Literatur…?“ Mit „was für ein?“ fragt der Interrogativartikel nach dem unbestimmten Artikel. Die Frage ist offen und fragt nach einem Adjektiv, das Auskunft über Beschaffenheit, Qualität oder Art gibt. Das Fragewort „welche“, fragt nach dem bestimmten Artikel und trifft eine Auswahl bekannter Personen, Sachen oder Dingen.
Frau Geisel will sich also gar nicht mit der Literatur Peter Handkes befassen, sondern vielmehr nur mit der Art, Beschaffenheit und Qualität der Rückschlüsse (aus der Literatur eines Autors auf seine politische Haltung). Man hat es hier also mit einer formalen und nicht mit einer inhaltlichen Frage zu tun.
Aus dem Wort „erlaubt“ ergibt sich ein weiteres Problem. Nochmals die Frage: Was für Rückschlüsse erlaubt die Literatur eines Autors auf seine politische Haltung? Welches „Erlauben“ ist hier gemeint? Das Erlauben im Sinne des Gestattens oder sich ein Recht herausnehmen oder im Sinne etwas zu ermöglichen oder sich selbst zu gestatten? Alle vier Möglichkeiten beziehen sich – zur Erinnerung – nur auf den formalen Aspekt: Ermöglicht die Literatur eines Autors überhaupt die Bestimmung der Art, Beschaffenheit oder Qualität der Rückschlüsse auf seine politische Haltung? Oder: Gestattet die Literatur eines Autors überhaupt die Bestimmung der Art, Beschaffenheit oder Qualität der Rückschlüsse auf seine politische Haltung (ethische Frage) usw. Welche Erlaubnis meint Frau Geisel?
Der Übersichtlichkeit (und Kürze) halber platziere ich meinen Kommentar zu Ihrem mehrteiligen Kommentarthread gleich hier unter dem ersten Kommentar.
Erst einmal: Vielen Dank für die vielfältigen Anregungen, vor allem zum Verhältnis von Ästhetik und Ethik.
Was meine eigene Auseinandersetzung mit Handkes Stil angeht, verweise ich Sie auf meinen Page-99-Text und die Erweiterung auf “Hundert Seiten Handke”, die diesem Text hier vorausgegangen sind. Die Manierismen, die ich dort auf der extrem kurzen Lesestrecke so gehäuft gefunden habe, sind mir dann auch in Zitaten aus anderen Büchern begegnet. Sie scheinen sich an jedweden Manierismen noch und noch nicht und nicht zu stören. (irony off)
Was mich interessieren würde: Worin besteht für Sie die stilistische Leistung von Handke?
In Ihrem unbedingen Willen, Handke gegen meine Kritik zu verteidigen, wenden Sie meine Methoden und Schlussfolgerungen auf meine eigenen Texte an. Das kann man machen, und manches finde ich spannend, beispielsweise die Frage, ob persönliche Betroffenheit beim Lesen und Beurteilen von Literatur eine Rolle spielen darf.
Was ich dagegen bedaure, ist Ihre völlig ironiefreie Analyse meiner Aussagen, teilweise mit absichtlichem Missvertändnis einhergehend. Damit zielen Sie an meinem Text vorbei, oder zumindest an meiner Absicht.
Ein Beispiel: Den Ausdruck “Stiljunkie” verwende ich natürlich selbstironisch. Ich signalisiere damit, dass ich mehr auf die stilistischen Eigenschaften eines Texts schaue, als das in der Literaturkritik gemeinhin üblich ist. Wenn ich nun wiederum ihre Anmerkungen zu meiner Stilsucht ernst nehmen wollte, müsste ich mir überlegen, ob man mir zu einem Entzug raten sollte. Was wiederum die Frage nach sich zieht, wie ein solcher Entzug dann aussehen würde (drei Wochen nur noch Trivialliteratur?). Und vor allem: Wie würde ich lesen, wenn ich meine Stilsucht überwunden hätte?
Teil 2/4
Die zweite Frage, die sie stellt: „Lassen sich Ästhetik und Ethik überhaupt trennen?“ Ich wusste gar nicht, dass Ästhetik und Ethik zwangsläufig zusammengehören? Ist diese Frage nicht eher ungeklärt? Zum „Streit“ sei Dagmar Fenner zitiert:
„Bei Reflexionen über das Verhältnis von Ethik und Ästhetik bzw. ihren Gegenstandsbereichen sollte meines Erachtens grundsätzlich die Autonomie der beiden Perspektiven gewahrt bleiben: In der ethischen Perspektive sind wir in faktische Lebensvollzüge involviert, und es geht um die Begründung des richtigen und verantwortlichen Handelns (vgl. Düwell 1999:11f.,235f.). Aus ästhetischer Perspektive hingegen tritt man aus den alltäglichen Interessenzusammenhängen hinaus, nimmt ein sinnlich-sinnenhaftes Verhältnis zum Dargebotenen ein und spielt in einem Freiraum der Möglichkeiten mit verschiedenen Welt- und Selbstsichten. Während man im Alltag z.B. verpflichtet ist, Menschen in Bedrängnis zu helfen, ist im Theater niemand zum Eingreifen in eine Gewaltszene aufgefordert. Der Respekt vor der Autonomie beider Perspektiven verbietet einerseits eine Ästhetisierung der Moral bzw. eine Ästhetisierung der Ethik, bei der man die Ästhetik zum Fundament der Ethik erklärt. Josef Früchtl nennt letztere Position eine „fundamentalästhetische Ethik“ und ordnet ihr Lyotard und Welsch zu (vgl. Früchtl 1996:21). Genauso unangemessen ist aber andererseits eine Moralisierung der Kunst, d.h. ihre Indienstnahme für die moralische Besserung der Menschen, wie sie bei Platon und teilweise bei Rorty und Nussbaum zu verzeichnen ist. Als unhaltbar erscheint mir schließlich auch die dritte alternative Position einer „antiästhetischen Ethik“, die jeden Beitrag der Ästhetik zur Ethik leugnet (vgl. ebd.). Denn offenkundig gibt es zahlreiche Bezüge zwischen ästhetischen Phänomenen und dem guten und gerechten menschlichen Handeln. Ohne dass Kunstwerke instrumentalisiert werden, können sie verschiedene direkt oder indirekt ethisch relevante Funktionen übernehmen. Einige sind generelle Funktionen, die in der Struktur ästhetischer Erfahrungen gründen, einige sind lediglich potentielle und können einzelnen konkreten Kunstwerken zukommen oder auch nicht.“ https://www.kubi-online.de/artikel/ethik-aesthetik
Wie beantwortet Frau Geisel nun diese Fragen? Nach dem ersten Lesen fällt mir auf, dass der Text viele Zitate, viele Namen und einige Buchtitel hat. Der Artikel besteht aus 1.126 Wörter. Davon sind 498 Wörter Zitate. Das entspricht 44,2 %. Auf den zirka drei Schreibmaschinenseiten werden acht Autoren als „Zeugen“ aufgerufen. (Zählt man die beiden Tippgeber dazu sind es sogar zehn.)
Der erste Satz lautet: „Es lohnt sich, anlässlich der Nobelpreisverleihung an ein paar ältere Texte zu erinnern, die versuchen, sich auf Peter Handke einen Reim zu machen.“
Wie? Die älteren Texte „versuchen sich einen Reim“ auf Peter Handke zu machen? (Die Literatur schlägt zurück?)
Welche „älteren Texte“ zitiert die Autorin und wer sind die dazugehörigen Kritiker?
– Die linkshändige Frau (1976) – Marcel Reich-Ranicki
– Winterliche Reise zu den Flüssen Save, Donau, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996) – Dževad Karahasan
– Versuch über den Pilznarren (2013) – Christine Lötscher
An „ein paar ältere Texte“ (und nicht an „ein Paar“ ältere Texte) wollte die Autorin erinnern!
Und wie erfolgt diese Erinnerung? Die Autorin zitiert ausschließlich Kritiken ÜBER diese Texte. Für einen „Stil-Junkie“ eine ungewöhnliche Art, sich mit stilistischen Fragen von literarischen Texten auseinanderzusetzen. Was in den Texten steht, erfahre ich als Leserin aber nicht.
Teil 3/4
Zwischen den Zitaten verteilt die Autorin dann ihre eigenen 628 übrig gebliebenen Wörter. Eine kleine Auswahl:
„Er [MRR] identifiziert diesen Text, in dem eine Frau namens Marianne ihrem Ehemann den Rücken kehrt, als „eine typische, eine fast schon klassische Emanzipationsgeschichte“. Die Emanzipation werde „seit geraumer Zeit von jeder Generation als ein besonders dankbares und reizvolles Thema entdeckt“.
Kommentar: Dass Handke ein aktuelles Thema (Emanzipation) nimmt, spricht nicht gegen Handke, sondern eher gegen MRR, den man dafür heute als „alten, weißen Mann“ bezeichnen würde, wenn er mit solchen Kommentaren käme.
„Genüsslich zitiert Reich-Ranicki den Stuss…“
Kommentar: Woher weiß Frau Geipel, dass MRR mit Genuss zitiert. Das Wort Stuss scheint von Frau Geisel zu kommen. Hier unterstellt sie MRR eine Äußerung, die er so nicht getätigt hat.
„In Die linkshändige Frau dominieren das Ungefähre und das Triviale, jedenfalls findet Marcel Reich-Ranicki sich hier nicht in der Welt von Tolstoi-Homer-Cervantes wieder.“
(„dominieren“, „jedenfalls findet“
Kommentar: Hier findet eine unredliche Verbindung von zwei verschiedenen Sachverhalten statt. Es kann nicht ein Zitat aus 2019 in das Jahr 1976 verschoben und MRRs Gedankenwelt untergeschoben werden. Auch inhaltlich liegt eine Verfälschung vor, weil Handke die Äußerung nicht in Bezug zu einer Buchkritik geäußert hat, sondern gegenüber Journalisten, die ihn mit Fragen zur Saša-Stanišić-Kritik gestört hatten.
„Und dicht neben ihm, ließe sich hinzufügen, Hedwig Courths-Mahler.“
Kommentar: Mit “Hedwig Courths-Mahler“ wird das Wort Kitsch vorbereitet, dass dann unten weiter kommt.
„Schon 1976 finden sich in Reich-Ranickis Text Anspielungen auf die quasi-religiösen Handke-Verehrer…“
Kommentar: „Anspielungen“ = versteckter, verhüllter Hinweis; „quasi-religiösen Handke-Verehrer“ – Hier taucht man dann in den Sektenbereich ein. Weil MRRs Hinweis verdeckt war (durfte man wohl 1976 noch nicht sagen?) bekommt die Sache auch noch etwas Geheimes!
„Ich glaube, dass Peter von Matt Recht hat, wenn er das Adorno-Zitat vorausschauend auf Handke münzt. Auch mir hatte sich in meinem Page-99-Test der Begriff „Kunstgewerbe“ aufgedrängt.“
Kommentar: „Auch mir hat sich … der Begriff „Kunstgewerbe“ aufgedrängt.“ – Peter von Matt hat den Begriff nicht verwendet, deshalb ist die Wendung „auch mir“ falsch. Das Wort „auch“ bekräftigt oder begründet eine vorangegangene Aussage.
„Ich glaube,…“ ist eine unredliche Einführung eines Gefühls in eine Argumentation.
Zum 99-Page-Test: Im Podcast sagt Frau Geisel, dass sie nie ein Buch aufgrund dieses Tests beurteilen würde. Allerdings sei der Vorteil dieses Verfahrens, dass sie keinen Lesevorsprung habe, da man nur über diese eine Seite rede.
„Genau das ist es, was auch mich an Handke politisch abstößt: ein ausbeuterischer Narzissmus, der die monströse Realität des Leids der anderen benutzt für seine poetisch verbrämte Versenkung ins Hier und Jetzt. Der Poet feiert sich und seine Wahrnehmung, unbekümmert um die Toten.“
Kommentar: Hier schafft es die Autorin nicht, ihre Ablehnung gegenüber Peter Handke direkt aus dessen „älterer“ Literatur herzuleiten und zu begründen. Stattdessen macht sie sich ein Zitat zu eigen. Hier bin ich dann besonders verärgert, weil Frau Geisel doch eingangs gerade ausdrücklich gefragt hatte, was für Rückschlüsse sich aus Handkes Literatur auf seine politische Haltung ziehen lassen. Antwort: Anscheinend keine! Wenn das nicht klappt, dann zieht man Rückschlüsse aus der „Literatur“ über Peter Handke.
„Mit bestechender Detailschärfe entlarvte Wolfram Schütte damals in der Frankfurter Rundschau die Poetenpose, mit der Handke sich vom Journalismus abgrenzt und sich zugleich eine politische Narrenfreiheit erschleicht:…“
Kommentar: erschleichen = Täuschung, List, Machenschaft; entlarven = etwas Verborgenes aufdecken; zwei Begriffe, denen deutlich der Geruch des Kriminellen anhängt;
„Poetenposse“ = übertriebenes, derbes Stück eines Poeten
„poetische Narrenfreiheit erschleichen“ = eine Sonderstellung durch Täuschung erhalten.
„mit bestechender Detailschärfe“ – hier bekommt die Leserin schon vorab die Wertung des Artikels mit, bevor sie sich eine eigene Meinung bilden könnte.
Teil 4/4
„Selbst Dževad Karahasan, der als bosnischer Autor aus dem belagerten Sarajevo geflohen war und genug Grund für eine moralische Verurteilung gehabt hätte, landet schließlich bei einer ästhetischen Verurteilung dieser pseudopolitischen Texte: Kunst, die keinen Aspekt des objektiven Daseins artikuliert und damit nicht der Erkenntnis dient, ist Kitsch.“
Kommentar: Dieses Argument scheint seit der Buchpreis-Rede von Stanišić DAS Argument zu sein. Betroffene dürfen moralisch Verurteilen. Nochmals: „Verurteilen“! – Urteilen reicht nicht.
Wenn Betroffenheit als neues Merkmal zur Bestimmung von literarischer Qualität wird, dann frage ich mich, wie es Stanišić wagen kann als in Hamburg lebender Autor über einen Brandenburger NVA Soldaten in der Nachwendezeit zu schreiben („Vor dem Fest“). Ich wohne in Brandenburg. Ich wurde in der DDR geboren. Ich bin Betroffene seiner Beschreibungen. Ich könnte in Abwandlung antworten: „Dass ich hier heute schreiben darf, habe ich einer Wirklichkeit zu verdanken, die sich dieser Mensch nicht angeeignet hat…“
Mit diesem Argument wird Literatur historisiert. Das ist der Fehler, den Stanišić begangen hat.
Wenn man nach der Wahrheit in Handkes „Winterreise“ fragt, in der er eine Reise von 1995 beschreibt, dann muss sich auch Stanišić befragen lassen, woher er denn wisse, dass es eine Lüge sei, was Handke beschreibt. Stanišić lebte seit 1992 in Deutschland. (Damit soll ihm nicht die Betroffenheit genommen werden.) Es wird so sein, dass er mehr wusste über das Leben in Ex-Jugoslawien als ein BRD-Bürger. Doch seine Wirklichkeit im Jahre 1995 konnte er sich auch nur aus Deutschland aneignen – oder nicht aneignen.
Es ist unredlich, wenn er sein Leben mit den Beschreibungen in Handkes Texten verbindet. So wie es unredlich wäre, mein Leben mit seinen Roman-Figuren zu verbinden.
Und was sollte die Bemerkung zur Gratulation der Katholischen Kirche in der Buchpreis-Rede? – Komisch: Mit dieser Aussage hat sich noch kein Feuilletonist befasst!
Die Sendung „Kulturzeit“ stellte am Dienstag zwei Organisatoren der Proteste vor, die als Kinder nach Schweden geflüchtet waren. Sie verlangten von Handke eine Entschuldigung. Doch was mich stört ist, dass ich von den Betroffenen keine Aufarbeitung innerhalb ihrer Gruppen und Länder wahrnehme. Wo bleiben die Fragen an die Eltern dieser Betroffenen? Welche Rolle hast du in diesem Konflikt gespielt? Was hast du getan, um es zu verhindern? Ähnliche Fragen, die die 68er ihren Eltern gestellt haben. https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/nobelpreis-politikum-100.html
„Der Sündenfall auf dem Feld des Literarischen besteht in der poetisch verklärten Selbstbezogenheit.“
Kommentar: Dieser Satz strotzt vor Anklage! „Sündenfall“.
„Dass der Erzähler in Versuch über den Pilznarren nicht nur Pilze sucht, sondern in seinem Brotberuf als Anwalt auch Kriegsverbrecher vertritt, und zwar erfolgreich, ist in dieser Feld-, Wald- und Wiesenprosa offenbar nur eine Fußnote. Es geht nicht um die politisch-gesellschaftliche Welt, in der wir alle leben, sondern allein um den Dichter und seine Poesie.“
Kommentar: „Feld-, Wald- und Wiesenprosa“ entspricht der in Juristenkreisen gängigen Behauptung über Anwälte, die alles machen, um sich über Wasser zu halten als „Feld-, Wald- und Wiesenanwälte“;
„Es geht nicht um die politisch-gesellschaftliche Welt, in der wir alle leben, sondern allein um den Dichter und seine Poesie.“ – Dazu ein Zitat:
„Typisch für die ästhetische Einstellung zur Wirklichkeit ist also erstens die Herauslösung des Subjekts aus dem unmittelbaren Eingebunden sein in die alltägliche Lebenswelt mit subjektiven Bedürfnissen und Interessen und äußeren Erwartungshaltungen zugunsten der totalen Hingabe an die ästhetische Praxis um ihrer selbst willen, frei von äußeren Zwecken wie Welterkenntnis oder richtiges Handeln.
Das reflexive Moment der ästhetischen Erfahrung macht zweitens das eigene Verhältnis zur Welt bewusst und eröffnet neue Möglichkeiten der Weltsicht (vgl. Düwell 1999:93). Das ästhetische Wohlgefallen wird drittens nicht wie ein rein sinnlicher Genuss unmittelbar durch angenehme Sinnesreizungen wie etwa beim Verzehr einer leckeren Speise ausgelöst, sondern erfordert eine Auseinandersetzung mit der Form des Wahrgenommenen mittels der Fantasie und des Denkvermögens.“ https://www.kubi-online.de/artikel/ethik-aesthetik
Teil 5/4 ;-)
„Das scheint mir, sowohl ethisch als auch ästhetisch, nun ja, sagen wir mal: fragwürdig.“
Kommentar: Die Frage – „Lassen sich Ästhetik und Ethik überhaupt trennen?“ – „beantwortet“ sie mit einem Zitat von Joseph Brodsky: „Die Ästhetik ist die Mutter der Ethik“
Die gesamte Diskussion in der Philosophie zu dieser Frage(siehe zur Zusammenfassung hier: https://www.kubi-online.de/artikel/ethik-aesthetik)
umgeht sie mit diesem Satz. Am Ende hat sie dann auch keinen Mut, Position zu beziehen: Es bleibt nur „fragwürdig.“
Dieser Text ist nicht in der Überzeugung entstanden, sich aufrichtig mit der Literatur Peter Handkes auseinanderzusetzen. Dies wird vor allem an der Sprache deutlich: moralische Verurteilung, Poetenposse, Stuss, Kitsch, erschleichen, Feld-, Wald- und Wiesenprosa, pseudopolitisch, poetische Narrenfreiheit, ethisch und ästhetisch fragwürdig, Kitsch usw.
Dieser Text ist entstanden, um eine weitere Demontage Peter Handkes vorzunehmen.
Fragwürdig bleibt am Ende des Textes nicht die ethische und ästhetische Haltung von Handke, sondern eher die der Autorin. Der Text von Frau Geisel ist „vorgetäuschter Tiefsinn“.
P.S. Das wäre alles nicht schlimm, wenn sich diese Meinungen weiterhin nur auf „Tell“ tummeln würde. Dort findet sie allenfalls der Perlentaucher, wenn es Anti-Handke-Texte sind. Schlimm ist nur, dass Frau Geisel im öffentlichen-rechtlichen Rundfunk als „Expertin“ befragt wird und diese Rolle mitspielt. Sie hat in diesen zwei Monaten ungefähr die gleiche Karriere gemacht, wie Jagoda Marinić, die nun sogar schon Parteienexpertin ist.
Es mag sich für Redakteure gut anfühlen, mit Gleichgesinnten wie Porombka und Aguigah über Handke zu hetzen. Für eine Hörerin, die sich das anhören und dafür Gebühren zahlen muss, ist das sehr frustrierend.
Ich habe «Die linkshändige Frau» im Oktober wieder gelesen. Es ist bestimmt nicht Peter Handke, der hier «Stuss» erzählt, sondern Marcel Reich-Ranicki. Er hat offensichtlich nicht verstanden, dass das Hohle einigen Dialogen anhaften muss, weil die Sprechenden selbst hohl sind. Reich-Ranicki sitzt seinem antiquierten Kritikerverständnis auf, wonach in der Literatur niemals irgend etwas trivial klingen dürfe, und denkt dabei vielleicht an Musils «Mann ohne Eigenschaften», wo noch die hohlsten Köpfe etwas elaboriert Hohles von sich geben. Im Kontext gelesen wirken die inkriminierten Redeteile gerade nicht hohl, sondern vergnüglich. Was Reich-Ranicki meint verstanden zu haben, ist, dass es sich beim Text von Peter Handke um eine «Emanzipationsgeschichte» handelt. Ich bezweifle, dass er das Geringste von diesem Text verstanden hat. «Die linkshändige Frau» lebt nicht davon, eine Geschichte zu sein, sondern von der Atmosphäre, für die Reich-Ranicki kein Sensorium hatte, keines haben konnte. Wie auch? Er war lange vor dem Krieg geboren. Was wusste er schon über das Lebensgefühl von Menschen, die in sechziger Jahren in der BRD erwachsen wurden wie die Protagonistin des Buchs? Immerhin, er hätte sich ansprechen lassen können, hätte sich durchlässig machen können, aber das hat er nicht getan. Er wollte davon nichts wissen. Er hatte seine Vorstellung von «guter» Literatur; was nicht in die Schablone passte, wurde verworfen. Das Buch mag an eine «Emanzipationsgeschichte» erinnern, äusserlich, aber es ist viel mehr, ein filigranes Porträt einer Frau, die, es bleibe nicht unerwähnt, einige Züge des Autors selbst trägt. Die zentralen Szenen sind auch nicht jene, wo die Frau sich mit ihrem Mann (und den anderen Männern) unterhält, sondern die Zeit, da «nichts» geschieht, da sie mit dem Kind zusammen ist, in der Wohnung oder am Ende auf dem Spaziergang auf den Berg, die aufgrund ihrer Durchsichtigkeit vielleicht schönste Passage im Buch. Dieses Nicht-Geschehen nun wird vom Autor in einer langsamen und genauen Sprache erzählt.
Man macht es sich, da stimme ich Herrn Hartmann völlig zu, zu einfach, wenn man Autoritäten herbeizieht, um die eigene Kritik an einem Autor zu untermauern. Warum Sätze einer Autorität über einen literarischen Text für mich wahrer sein sollen als meine eigene, auf meiner Wahrnehmung beruhende Beurteilung, soll mir mal jemand schlüssig darlegen. Gerade die Zitate von Peter von Matt und Joseph Brodsky scheinen mir wenig aussagekräftig in Bezug auf Handke. Dass Adorno Handke kritisiert, bevor der überhaupt ein Buch geschrieben hat, soll wohl originell wirken; ja ja, das Genie Adorno wusste es schon immer … Aber auch inhaltlich überzeugt die von Peter von Matt herbeibemühte Adorno-Kritik an Handke nicht; Handke nimmt die Erscheinungen zwar hin, möglicherweise demütig, aber er produziert kein Kunsthandwerk und schon gar keinen Kitsch, denn die mir bekannten Texte aus den 80er Jahren sind von einem Schmerz grundiert, der um die Fragilität und Vergänglichkeit der Erscheinungen weiss. Mag sein, dass gewisse Kritiker diesen Schmerz nicht zu fühlen imstande sind, aber dafür können die Texte nichts. Wer nie war, wo der Autor war, wird den Autor nie verstehen. Dies gilt nun auch für Peter von Matt, der eine Literatur von Peter Handke nicht gutheissen kann, weil er persönlich zu weit von Handke entfernt steht. Er hat mit Handke nichts zu tun, deshalb wird er von Handke nicht angesprochen. Muss hier tatsächlich an die banale Tatsache erinnert werden, dass Faktoren wie die Persönlichkeit und damit verbundene Lebenserfahrungen eines Kritikers oder Lesenden immer eine Rolle spielen werden bei der Textrezeption (und man deshalb nur schon aus Selbstschutz gut beraten ist, auf gewisse Lektüren ganz zu verzichten)?
Was nun Joseph Brodsky, eine weitere angeführte Autorität, betrifft: Sein Satz «Die Ästhetik ist die Mutter der Ethik» überzeugt ebenfalls nicht; er soll gut klingen, klingt aber bei näherem Hinhören eigentümlich leer (der Satz lässt sich problemlos umkehren in «Die Ethik ist die Mutter der Ästhetik» und macht so wenig Sinn wie der Satz «Die Sonne ist die Mutter des Meeres»); mir widerstrebt die Hierarchisierung, sie widerspricht der Eigenständigkeit der beiden Disziplinen. Mehr Sinn würde der Satz «Die Ästhetik ist eine Schwester der Ethik» machen.
Vielen Dank, Marc Djizmedjian, für die erhellende Lektüre von „Die linkshändige Frau“. Da haben Sie meine Hausaufgaben für mich gemacht. Allerdings kann ich mir, auch wenn es Hohlköpfe sind, immer noch nicht recht vorstellen, wie eine Figur irgendwie glaubwürdig so reden kann, wie sie es in diesen Zitaten tut. Doch das kann man wohl wirklich nur im Gesamteindruck beurteilen. So oder so gilt aber, dass ich MRR nicht als Autorität zitiere, sondern weil ich ihn ernst nehme. Er ist manchmal tatsächlich ein Schubladenleser, doch kann man von ihm viel lernen (man lese nur den Band „Die Anwälte der Literatur“, das ist von einem enormen Kenntnisreichtum zur Geschichte der Literaturkritik, wer hat das heute noch zur Verfügung?), er ist ein Virtuose der Stilkritik und hat eine authentische Beziehung zur Literatur, was ich nicht von allen Berufskritikern sagen würde.
Überhaupt sehe ich nicht ein, warum ich gerade „Autoritäten“ NICHT zitieren dürfen soll. Die Zitate von Lieschen Müller und Hänschen Obermeier mögen genauso gewichtig sein, aber die schreiben nun mal keine Bücher, die ich zitieren könnte. Für mich gilt die Stichhaltigkeit des Arguments, nicht das Gewicht des Namens, deshalb finde ich ja gerade diesen Austausch hier in den Kommentarspalten so gewinnbringend.
Zu Joseph Brodsky: Ich wollte in meinem Beitrag nur ein paar Beobachtungen und Denkanstöße geben, daher habe ich nicht alles in extenso zitiert, wie wenn ich eine Dissertation hätte schreiben wollen. Hier die vollständige Passage zu Brodskys Beobachtungen über Ästhetik und Ethik:
„Im ganzen gesehen hat jede neue ästhetische Erfahrung das ethische Bewusstsein der Menschen geschärft. Denn die Ästhetik ist die Mutter der Ethik: unsere Kategorien von ‚gut‘ und ‚schlecht‘ sind zuallererst ästhetischer Natur, und etymologisch älter als unsere Begriffe von ‚gut‘ und ‚böse‘. Wenn in der Ethik ‚nicht alles erlaubt‘ ist, dann eben darum, weil auch in der Ästhetik ‚nicht alles erlaubt‘ ist, weil die Zahl der Farben im Spektrum begrenzt ist. Der zarte Säugling der durch sein Weinen den Fremden abweist oder aber die Hand nach ihm ausstreckt, tut die instinktiv und bringt so eine ästhetische, nicht eine moralische Entscheidung zum Ausdruck.“
Zu Ihren Ausführungen über Peter von Matt und Adorno. Auch hier habe ich nur den zentralen Gedanken zitiert, ohne den weiteren Kontext. Daher erscheint jetzt Peter von Matt in Ihren Ausführungen als großer Handke-Kritiker, dabei war das nur ein Nebengedanke, den ich aufgegriffen habe – weil ich ihn fruchtbar finde, als Anregung, nicht als Ziel für Kanonengeschütze.
In der Passage geht es um das Axiom des „Nicht mehr“, hergeleitet von Walter Benjamins „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Ich zitiere die ganze Stelle aus Peter von Matts Aufsatz „Ist die Literatur ein Spiegel der Welt?“ (in: Öffentliche Verehrung der Luftgeister):
„So wie das Kunstwerk einst Bild war, kann es ‚nicht mehr‘ Bild sein. So wie einst erzählt wurde, meint der gleiche Benjamin im ‚Erzähler‘-Aufsatz, kann ‚nicht mehr‘ erzählt werden. Adorno greift das 1954 auf, apodiktisch wie immer: ‚Es läßt sich nicht mehr erzählen.‘ Und neben dieses strenge ‚Nicht mehr‘ tritt bei ihm auch gleich noch das strafende ‚Wer heute noch…‘ So zum Beispiel (und tönt das nicht wie eine Kritik an Handke im voraus?): ‚Wer heute noch, wie Stifter etwa, ins Gegenständliche sich versenkte und Wirkung zöge aus der Fülle und Plastik des demütig hingenommenen Angeschauten, wäre gezwungen zum Gestus kunstgewerblicher Imitation. Er machte der Lüge sich schuldig […]‘ Als Adorno dies schrieb, trat Handke eben als Zwölfjähriger ins Gymnasium ein. Die Meinungen aber, ob Adorno damals schon gegen den späteren Handke recht gehabt habe oder aber von diesem eines Tages wiederlegt worden sei, dürften bis heute geteilt sein.“
Hier ist aber was los!
Freut mich, vor allem angesichts des Niveaus.
Lieber Lars, Du hast mein Argument, glaube ich, nicht verstanden. Natürlich darf man nicht nur beständig hinterfragen, sondern muss dies letztlich auch – sonst verbliebe man, wie Du richtig sagst, im bloßen Meinen, im „Meinungsmulm“ (schönes Wort von Heinrich Böll; ich liebe es und freu mich immer, wenn ich es anbringen kann). Darüber sind wir uns einig. Es fragt sich aber, ob man wirklich immer gleich ins Grundsätzliche gehen muss, wenn man ein konkretes Problem bearbeitet. Oder ob man dann – Stichwort: wohlwollende Interpretation – die Ausgangsprämissen des Spendertextes erst einmal mitmacht und konkret am Spendertext argumentiert. Es geht um Sieglindes These, nicht um MRR. Meinethalben bezieht sie die These von der achtarmigen Göttin Hubba-Bubba aus dem mittleren Bipsli-Bapsli-Land. Speziell zum „Autoritätsargument“: ich machte doch deutlich, dass es nicht darum geht, ATs per se zu verteidigen. Es geht alleine um die völlig anders geartete These, ATs seien nicht per se zu verdammen. Die Forschungsgemeinschaft, die sich beständig aneinander reibt und prüft, wird sich schon etwas dabei gedacht haben, wenn sie sich im Wesentlichen darüber einig ist, dass die Dreiecksungleichung aus der Cauchy-Schwartzschen Ungleichung folgt. Den Beweis selber nachzuvollziehen ist zweifellos immer besser, aber nicht immer und allüberall zu leisten. Bei Sieglinde ging es um eine nicht unumstrittene, aber doch weit verbreitete These – mir ist sie seit meiner Jugend geläufig – stil- und literaturkritischer Art: Nämlich der wider das Geraune, das Ungefähre – wider eine Unklarheit, die sich als Tiefsinn verkauft. Es ist dies übrigens auch meine These.
Jetzt aber zu „Ethik und Ästhetik“. Danke, Frau Fürbötter. Ethik und Ästhetik. Oh je. Habe ich 200 Seiten Platz und ein Jahr Zeit? Ich meine für eine kurze Einführung? Hab ich nicht, weder noch. Haben die Leser/innen auch nicht.
Kronzeuge ist natürlich Friedrich Schiller (für Schnellroda: „Friedrich von Schiller“ googlen). Für Schiller war es die Schönheit, durch welche die Freiheit zur Wirklichkeit wandere. Und zwar – mit viel Mut zur Verkürzung -, weil sich allein per Schönheit (intuitiv als schöne Seele, reflektiert als schöne Kunst) der Konnex zwischen Sinnlichem und Geistigem herstelle, die widerstrebenden Kräfte des Menschen – Sinnlichkeit/Unmittelbarkeit und Intellekt/Projektivität – ausglichen. (Kräfte, die – wenn in Disharmonie – zB zu politischen Katastrophen wie der an sich zu befürwortenden französischen Revolution führen…) Wie wir alle wissen, ist Schiller der Nachweis dieser These final gelungen, der Fall ein für alle Mal geklärt.
Okay, schlechter Witz. Aber Schillers These ist schön (ästhetisches Argument). Oder – ethisches Argument -:Sie ist sozusagen nicht wahr, sollte aber wahr sein.
Schiller hat zumindest das Problem richtig gesehen: Was ist eine Kunst – mag sie formal noch so brillant sein – wert, die der Niedertracht das Wort redet?
Hat Handke das getan? Schwierig. Handkes Impetus – a u c h die serbische Seite zu sehen, gegen das widerwärtige Nato-Narrativ – war in jeder Hinsicht richtig (wenn dies sein Impetus war). Er hat dann, wie man so sagt, das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, nämlich n u r die serbische Seite zu sehen. Und verflüchtigt sich, so meine Beobachtung, in eine nationalromantische Sicht auf das „Serbenvolk“, das es so einfach nicht gibt.