Einer Autorin beim Schreiben zuhören
Lektüretipp von Sieglinde Geisel
Virginia Woolfs Tagebücher sind ein zuverlässiger Reisebegleiter. Man kann sie als eine Art Reality-Roman fortlaufend von 1915 bis 1941 lesen. Wir verfolgen dabei die Konflikte mit den Dienstboten und die intellektuellen Auseinandersetzungen von Bloomsbury, und seitenweise die Selbstgespräche der Autorin, voller Klatsch und Tratsch, gern maliziös.
Oder man blättert in dem Band herum, den man gerade zur Hand hat. Dann ist es, als würde man eine Tür aufmachen und, als unsichtbarer Gast, in ein Zimmer hineinschauen. Mal platzt man mitten in ein Gespräch, mal hört man der Autorin beim Schreiben und Denken zu.
Ich lese diese Diaries gerne auf Englisch.
Am 19. Juni 1923 brütet Virginia Woolf über dem Manuskript von The Hours:
One must write from deep feeling, said Dostoevsky. And do I? Or do I fabricate with words, loving them as I do? No I think not. In this book I have almost too many ideas. I want to give life & death, sanity & insanity; I want to criticise the social system, & to show it at work, at its most intense – But here I may be posing.
Mir gefällt die Unmittelbarkeit der schnell hingeworfenen Formulierungen – nicht leicht zu übersetzen, wie ich bei meinem Versuch merke:
Man muss aus der Tiefe des Gefühls schreiben, sagte Dostojewski. Und tue ich das? Oder fingiere ich, da ich sie nun einmal liebe, etwas mit Wörtern? Nein, ich glaube nicht. In diesem Buch habe ich fast zu viele Ideen. Ich möchte Leben und Tod, Verstand und Irrsinn geben; ich möchte das soziale System kritisieren und zeigen, wie es funktioniert, in seiner intensivsten Form – Aber es kann sein, dass ich hier in Angeberei verfalle.
Wer zu den Tagebüchern auch noch The Hours im Gepäck hat, kann gleich schauen, was dabei am Ende herausgekommen ist.
Geträumte Bücher
Lektüretipp von Agnese Franceschini
Es gibt eine Art von Schönheit, die bisweilen unerträglich ist. Das gilt für Menschen, Landschaften und auch Kunstwerke. Die Erzählungen Winesburg, Ohio von Sherwood Anderson gehören zu dieser Kategorie. Lange Zeit habe ich versucht sie zu lesen, jedes Mal bin ich an der Schönheit des Anfangs gescheitert. Ich konnte nicht weiterlesen, weil die Wörter und Sätze mich nicht loslassen wollten.
Die erste Erzählung trägt den Titel Das Buch „Über das Groteske“, sie ist Programm:
Der Verfasser des Buches, ein alter Mann mit weißem Schnurrbart, hatte einige Schwierigkeiten, in sein Bett zu gelangen. Die Fenster des Hauses, in dem er wohnte, lagen hoch, und morgens, wenn er aufwachte, wollte er gern die Bäume sehen. So ließ er einen Schreiner kommen, der das Bett auf die gleiche Höhe mit dem Fenster bringen sollte. Welch ein Aufheben von diesem Unternehmen gemacht wurde!
Sherwood Anderson nannte sein Buch „eine Reihe von Erzählungen aus dem Kleinstadtleben Ohios“. Doch in Wahrheit handelt es sich um den Roman einer Kleinstadt. Die Figuren gehören zu einem Traum des alten Schriftstellers, der das Buch Über das Groteske verfasst hat. Und doch sind sie real, sie sind die Einwohner der Stadt:
Alle Männer und Frauen, die der Schriftsteller jemals kennengelernt hatte, waren grotesk geworden. Diese grotesken Figuren waren jedoch keineswegs unheimlich.
Überdies wird die Wahrheit in einem Buch geträumt, das wiederum mehrere Bücher enthält, geträumte Bücher, wie das des Doktors Parcival:
Die Idee ist äußerst einfach; so einfach, dass man sie leicht vergisst, wenn man nicht aufpasst. Es handelt sich darum, dass jeder in der Welt Christus ist und dass sie alle gekreuzigt sind. Das ist es, was ich klarmachen möchte. Vergiss es nicht! Was auch geschieht, wage nicht, es zu vergessen.
Reisen und Sterben
Ein Lektüretipp von Lars Hartmann
Diese Seereise über den Ozean wird die letzte Fahrt im Leben des Gregor Lanmeister sein. Er betritt das Kreuzfahrtschiff als normaler Urlauber und ist doch bereits auf dem Weg in jene andere Welt des Todes. Nur weiß er dies anfangs nicht. Erst im Laufe der Schifffahrt geht dem alten Mann auf, was diese Reise für ihn bedeutet. Auf der See, beim Schweifen des Blickes übers Meer in die Ferne, entgleitet nicht nur dem Urlauber die Zeit, sondern ein Leben verlöscht und verlässt den Raum der Zeit.
Wir lesen in diesem Roman vom Sein-lassen-Können, vom „Meercharakter der Zeit“, vom Abschied – doch ohne Schmerz oder Trauer. Es ist ein Lob auf das Leben, ein Preisen der kurzen Zeit, die uns bleibt. Einerseits wird diese Seereise realistisch erzählt, mit echten Passagieren, andererseits ist sie eine Metapher, sie erzählt, so lese ich es, von der Todesbarke des Fährmannes Charon. Das Changieren zwischen den Ebenen, zwischen Reisen und Sterben, betört. Selten wurde vom Tod so unbeschwert geschrieben:
Dass zu sterben vielleicht insgesamt heißt, wieder kollektiv zu werden. Dass genau das der Ausdruck dafür ist. Und dass es vielleicht schön ist, einfach nur schön ist. Doch unsichtbar wie ein Tropfen im Meer.
Hellsichtige Heiterkeit
Ein Lektüretipp von Anselm Bühling
Mein Onkel Henner Rosenbach war erstens ein Psychopath und zweitens der prächtigste Lügner der österreich-ungarischen Doppelmonarchie. Theoretisch war er mein Großonkel, was ich jedoch bezweifle, da er mir unvergleichlich ähnlicher war als sein Bruder Leo, von dem es heißt, er sei mein Großvater gewesen.
André Kaminski erzählt in dem Roman Nächstes Jahr in Jerusalem die Geschichte seiner Familie von der Generation der Großeltern bis zu seiner eigenen Geburt – getreu der Familiendevise: „Wahrheit ist das wertvollste aller Güter und soll gehandhabt werden mit Sparsamkeit und Zurückhaltung.“
Warum auch berichten, wie es gewesen ist, wenn man sich stattdessen ausmalen kann, wie es gewesen sein könnte? Kaminskis Buch ist eine Prosakomödie, beschwingt dahingeflunkert und virtuos erzählt. Sie beginnt um 1890 in den jüdischen Vierteln von Warschau und Stanislau (dem heutigen Iwano-Frankiwsk), erstreckt sich über das russische Zarenreich bis nach New York und endet nach dem Ersten Weltkrieg mit der Geburt des Autors in der Schweiz.
Es wird einem leicht zumute bei der Lektüre. Ja: All das ist nicht wahr, das Buch spielt mit Klischees, und es berührt die Schrecken der Zeit nur, um zum nächsten Sprung ins Ersponnene anzusetzen. Gerade mit seiner hellsichtigen Heiterkeit schärft es den Blick für die wirklich gefährlichen Illusionen.
“Das geht ja nie wieder ab.”
Ein Lektüretipp von Herwig Finkeldey
Walter Kempowskis Romane der (vom Autor selbst übrigens nie so genannten) neunbändigen Deutschen Chronik erzählen die Geschichte einer Rostocker Reeder-Familie, über mehrere Generationen hinweg. In nonchalanter, fast schon mündlich geplauderter Diktion zeigt Kempowski den Irrsinn einer bürgerlichen Fassade vor dem Hintergrund einer wahnsinnigen Welt.
Als im Band Tadellöser & Wolff Rostock im Krieg zerstört wird, sagt der Ich-Erzähler über die Durchhalteparolen der Nazis auf den zerstörten Häuserwänden:
Und alles vollgeschmiert:
VOLK ANS GEWEHR
Das ging ja nie wieder ab. An jeder Mauer:
NIEDER MIT DEN VERRÄTERN
KAMPF BIS ZUM ENDSIEG
Banausenpack. Die ganze Stadt verschandelt.
Die Vernichter der Welt sind also Banausen. Ein ästhetischer Begriff dient als Beschreibung für Schwerverbrecher: Von Banausen wendet sich der Bildungsbürger angewidert ab, ohne freilich dem Banausentum Widerstand entgegenzusetzen.
Wunderbar doppeldeutig dabei: „Das geht ja nie wieder ab“ – so ist es bis heute…
Mit quälender Genauigkeit beschreibt Kempowski das bürgerliche Missverständnis, das darin besteht, eine zu allem entschlossene radikale politische Bewegung nur ästhetisch abzulehnen. Diese quälende Genauigkeit ist mein Lektüretipp für diesen Sommer.
Botschaft aus einer anderen Zeit
Ein Lektüretipp von Tomas Bächli
„Da verliert man direkt die Freude am eigenen Geschlecht“, so hat sich, dem Vernehmen nach, ein berühmter Literaturwissenschaftler in den Achtzigerjahren zu Christa Wolfs Kassandra geäußert.
Vielleicht kommt es darauf an, von wem man einen Lesetipp erhält. Kassandra wurde mir nicht von einer Frau als Pflichtlektüre aufgebrummt, sondern von meinem Bruder zum Geburtstag geschenkt, kurz nach Erscheinen der Erzählung im Jahr 1983. Mein Bruder fand, das sei ein gutes Buch, und ich fand es auch. Ich habe es nicht als feministische Standpauke gelesen, sondern als eine kluge Abhandlung über Macht und Ohnmacht, über Gewalt und menschliche Beschädigung durch Gewalt.
Etwa bei dem unlösbaren Widerspruch Kassandras in der Beziehung zu ihrem Geliebten Aineias. Sie anerkennt die Notwendigkeit seiner Mission, Troja neu zu gründen – und kann ihm dennoch nicht folgen.
Bald, sehr bald wirst Du ein Held sein müssen.
Ja! hast Du gerufen. Und? – An deinen Augen sah ich, du hattest mich begriffen. Einen Helden kann ich nicht lieben. Deine Verwandlung in ein Standbild will ich nicht erleben.
Was bleibt, ist die Erinnerung:
Dies alles, das Troja meiner Kindheit, existiert nur noch in meinem Kopf. Da will ich es, solang ich Zeit hab, wieder aufbaun, will keinen Stein vergessen, keinen Lichteinfall, kein Gelächter, keinen Schrei.
Als die Erzählung erschien, war ich fünfzehn Jahre alt, kein Kind mehr, aber doch noch ein Jugendlicher. Heute wirkt sie wie eine Botschaft aus einer anderen Zeit und ist doch aktuell, denn sie macht auf etwas aufmerksam, was uns heute fehlt: auf den Versuch, aus der Geschichte irgendetwas zu lernen, auch wenn wir dabei scheitern. Beim Wiederlesen erschrecke ich über die abgeklärte Attitüde, die wir uns inzwischen zugelegt haben.
Es öffnet sich der Abgrund und das Herz
Lektüretipp von Sieglinde Geisel
Zeitreise ins Jahr 1944, ins fünfte Kriegsjahr. Wir hören die Epoche sprechen, in erfundenen und gefundenen Stimmen, denn Grundlage des Romans ist ein Konvolut von Briefen, die Arno Geiger auf einem Flohmarkt erstanden hat.
Selten hat mich ein Buch so “hineingenommen”, wie man sagt. Ich höre Veit Kolbe zu, dem Haupt-Erzähler. Er hat fünf Jahre in der Wehrmacht gekämpft und ist nach seinem Lazarett-Aufenthalt in Mondsee gelandet, unter der Drachenwand. Wenn er vom Grauen erzählt, von den Verbrechen, deren Zeuge er wurde, öffnet sich der Abgrund. Und wenn wir die Liebesgeschichte mit Margot im Nebenzimmer seiner Unterkunft miterleben, öffnet sich das Herz. Ohne dass es uns gesagt werden müsste, erleben wir, dass der Krieg beides ist: Alltag und Katastrophe. Lesend erleben wir, was geschieht, wenn der Ausnahmezustand zur neuen Normalität wird.
Wirklich unbeugsam ist in diesem Buch nur „der Brasilianer“, ein deutscher Remigrant. Er züchtet in seinem Gewächshaus Tomaten, er schimpft auf seine Schwester und auf „F.“, den Führer. Meine Lieblingsstelle in dem Roman ist ein rant des Brasilianers – solche Überraschungen gibt es in diesem Roman immer wieder.
Und eins will ich dir sagen, ihr Maschinenmenschen wollt mir unabhängig Gebliebenem das Leben nur schwermachen, weil ich euch daran erinnere, dass ihr vor langer Zeit auch frei gewesen seid. Geh doch zu deinem F., der dem grausigen Europäertum den letzten Ansporn zu Gewalt und Unvernunft gegeben hat, und kriech ihm in den Arsch, bis nur mehr die Stiefel herausschauen. Dann kannst du die Hacken ein letztes Mal knallen lassen, bis der F. sein Tröpflein abspritzt. Und dann soll dir der Teufel das Genick brechen.
Schreiben für die eigenen Augen.
Aus den Tagebüchern 1915-1941 · Hg. von Nicole Seifert · Aus dem Englischen von Maria Bosse-Sporleder und Claudia Wenner
Fischer Taschenbuch 2012 · 368 Seiten · 9,99 Euro
ISBN: 978-3-596-90457-0
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Sherwood Anderson
Winesburg, Ohio
Roman · Aus dem Amerikanischen von Hans Erich Nossack
Suhrkamp 2016 · 195 Seiten · 11,95 Euro
ISBN: 978-3-518-24014-4
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Alban Nikolai Herbst
Traumschiff
Roman
Marebuchverlag 2015 · 320 Seiten · 22 Euro
ISBN: 978-3-866-48215-9
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André Kaminski
Nächstes Jahr in Jerusalem
Roman
Suhrkamp 1988 · 392 Seiten · 10 Euro
ISBN: 978-3-518-38019-2
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Walter Kempowski
Tadellöser & Wolff
Roman
Penguin 2016 · 576 Seiten · 10 Euro
ISBN: 978-3-328-10074-4
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Christa Wolf
Kassandra
Erzählung
Suhrkamp 2008 · 178 Seiten · 8 Euro
ISBN: 978-3-518-46052-8
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Arno Geiger
Unter der Drachenwand
Erzählungen
btb 2015 · 304 Seiten · 10,99 Euro
ISBN: 978-3-442-74943-0
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Nur, weil ich grad drauf gestoßen bin: Botho Strauß hat in Herkunft ein alternatives Bild zu Herbsts, auch mit Flüssigem und dem Kollektiv verbunden. Bei ihm wandeln die Verstorbenen in der Brunnenhalle von Bad Ems, trinken nur von einem einzigen Heilwasser (pares morimur) und ihre Stirnen glänzen zufrieden der Bedeutungslosigkeit.