„Öffnen Sie das Buch auf Seite 99, und die Qualität des Ganzen wird sich Ihnen offenbaren.“ (Ford Madox Ford). Wir lesen mit der Lupe und schauen, was der Text auf dieser Zufalls-Seite leistet.
Warnung: Der Page-99-Test ersetzt keine Rezension.

Da die Seite 99 von Sibylle Bergs neuem Roman GRM keinen Fließtext enthält, nehme ich diesmal die Seite 98 noch dazu, dann haben wir eine Doppelseite. Sie beginnt scheinbar mit einem Titel. Jedenfalls ist die erste Zeile fett gedruckt, und die zweite beginnt mit einem Großbuchstaben.

Don, Karen und Hannah und Peter
Machten seit kurzem nur noch Fotos von sich, auf denen sie nicht zu erkennen waren, der Idee geschuldet, dass sie eventuell später einmal kriminell werden wollten.

Der Satz beginnt offenbar nicht auf der zweiten Zeile mit dem groß geschriebenen „Machten“, sondern bereits mit dem Titel. Im Journalismus wäre das ein No-Go, denn Titel und Zwischentitel werden als unterschiedliche Textebene gelesen. In der Kunst darf man das, allerdings nur mit Absicht, sonst ist es keine Kunst. Gut möglich, dass dieser Regelbruch auf den bisherigen 97 Seiten bereits als Stilprinzip eingeführt ist.

Es kann allerdings auch sein, dass der Satz doch auf der zweiten Zeile beginnt, dann wäre es ein ziemlich kühner unvollständiger Hauptsatz. Und zugleich der Auftakt zu einer ganzen Reihe unvollständiger Hauptsätze.

Seitdem also Hoody-Fotos.
Seit die Armee des Landes in Ausnahmefällen gegen Demonstrationen vorgehen durfte.
Seit darüber diskutiert wurde, die Polizei und die Armee zu privatisieren.
Was egal war. Und zu keiner Entrüstung in der Bevölkerung führte.

Unvollständige Hauptsätze sind ein ausgesprochen schlichtes Stilmittel: Man erhält eine Betonung, ohne dass man sich anstrengen muss. Manchmal hat das Pep: „Dann kommt er nicht mehr in die Wohnung.“ „Soll er auch nicht!“ Doch wenn man nicht aufpasst, kippt der Pep in Pathos: „Eine freie, unregulierte Plattform wollte er einst schaffen, auf der sich das Gute durchsetzt, eine Bühne für die Weltpolitik. Deren Architekt er ist. An der er kräftig verdiente.“ (Republik über Mark Zuckerberg)

Das Problem ist die Dosierung. Die Wiederholung nervt, ich fühle mich als Leserin nicht ganz für voll genommen. Und frage mich, ob die Schreiberin weiß, was sie tut. Was ich im Fall eines Romans doch hoffen möchte. Der Trick ist billig. Weil er die Schreiberin nämlich nichts kostet. Man setzt Punkte statt Kommas, und schon schwellen die Wörter an.

Der Page-99-Test ist eine unfaire Methode. Daher gilt: in dubio pro autorem (nein, im Lateinischen wird nicht gegendert). Ich gehe jetzt einmal davon aus, dass Sibylle Berg für diesen Trick gute Gründe hat. Vielleicht ist es eine Rollenprosa, die durch ihren Stil eine bestimmte Denk- oder Wahrnehmungsweise denunziert?

Zurück zur Seite 98. Nach sechs unvollständigen Hauptsätzen folgt endlich ein normaler Satz.

Der Brite neigte nicht zu öffentlichem, vulgärem Protestverhalten, hatte Peter in einem Artikel gelesen.

So könnte der Satz heißen. Tut er aber nicht.

Der Brite neigte nicht zu öffentlichem, vulgärem Protestverhalten. Hatte Peter in einem Artikel gelesen.

Warum die Autorin auch an dieser Stelle einen Punkt statt des Kommas setzt, erschließt sich mir nicht. Schon nach einer halben Seite wirkt das manieriert.

Dafür sind die nächsten Sätze unauffällig. Es geht um die Generation Internet, die ihr gesamtes Wissen aus dem Netz bezieht.

Sie hielten ADHS nicht für eine Krankheit, die Alten waren einfach unerträglich langsam.

Ganz witzig. Die Kids leben in der ödesten Stadt der Welt, denn seit die Gegend von Algorithmen „nach ihrer Rentabilität“ bewertet wird, ist hier nichts mehr los. Was auch immer die Rentabilität einer Gegend sein mag. Muss mit Immobilien zu tun haben. Hat es auch (Manierismen sind ansteckend).

Die letzten Investoren waren abgesprungen, nachdem sie von einer Investment-App vor der Einwohnerschaft Rochdales gewarnt worden waren.

Nur geht der Satz nicht so. Sondern so:

Die letzten halbherzigen Investoren waren abgesprungen, nachdem sie von einer Investment-App nachdrücklich von der unberechenbaren Einwohnerschaft Rochdales gewarnt worden waren.

Mit Adjektiven kann man jeden Satz verderben.

***

Die gegenüberliegende Seite 99 ist ein Hinweis darauf, dass wir es beim GRM mit einem aus verschiedenen Textsorten collagierten Roman zu tun haben. Hier sind wir nämlich im Internet, wir lesen einen Chat zwischen „M15 Piet“ und „Programmierer“. M15 Piet bittet den Programmierer, einen Versuchsaufbau so zu erklären, „dass es jeder versteht“. Und was antwortet der Programmierer?

Sehr gerne. Aber mit der Verständlichkeit habe ich es ja nicht so. Ich bin Autist.

Das ist ein Klischee und dazu noch ein unglaubwürdiges – welcher Autist würde je einen derart bieder-blöden Satz äußern? Ich jedenfalls habe da meine Zweifel.

Und was antwortet M15 Piet?

Nichts für ungut, dann versuche ich es mal.

Man merkt, dass Sibylle Berg seit über zwanzig Jahren in der Schweiz lebt, und dort lebt offenbar auch ihre Figur, gut getroffen! Trotzdem hoffe ich, angesichts der 640 Seiten von GRM, auf möglichst vielfältige Rollenprosa.

Nüüt für unguet, gälletsi!

P.S. Hier geht’s zum “Page-99-Test: Sibylle Berg (2)” über den 2022 erschienenen GRM-Folgeroman RCE


Angaben zum Buch

Sibylle Berg
GRM
Brainfuck
Roman
Kiepenheuer & Witsch 2019 · 640 Seiten · 25 Euro
ISBN: 978-3462051438
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel


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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

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