Morgens schrieb Péter Nádas stets Prosa. Viele seiner Erzählungen und die umfangreichen Romane Parallelgeschichten und Aufleuchtende Details sind so in Budapest und im Dorf Gombosszeg nahe der slowenischen Grenze entstanden. Der Nachmittag war unter anderem Essays vorbehalten – ein kräftezehrendes Pensum, das sich der 1942 geborene Ungar inzwischen nicht mehr auferlegt. Péter Nádas‘ essayistisches Werk umfasst mehrere tausend Seiten, die selbst die ungarische Werkausgabe nur in einer Auswahl präsentieren wird. Die jetzt auf Deutsch erschienene Sammlung Leni weint ist noch stärker fokussiert: Nádas beschränkt sich auf dreißig Essays aus den Jahren 1989 bis 2014, sechs davon werden in dem Band erstmals auf Deutsch veröffentlicht. Es ist ein klug komponiertes Buch, das einen ungewöhnlich politischen Autor zeigt.

Der Urschleim der eigenen Dumpfheit

Im Zentrum von Nádas‘ früheren Essays standen oft C. G. Jungs Archetypen. Sie bildeten einen festen Kontrapunkt zum Gleiten, dem Weg- und Ineinandergleiten von Empfindungen, Wahrnehmungen und Gedanken, deren Zusammenhang eine höchst bewegliche Sprache auch mit stilistischer Mimikry nachzeichnete. Die neueren Texte haben an begrifflicher Schärfe gewonnen, zielen aber weiterhin auf Grenzüberschreitungen, wie schon die Überschriften „In der Körperwärme der Schriftlichkeit“ oder „Streifzüge in den Quellgebieten des Vertrauens“ ankündigen. Nur die Synthese von Körperwärme und Schriftlichkeit ergebe, so Nádas, eine wahrhaftige Mitteilung, zudem zeuge sie von der täglich aufs Neue notwendigen Erhebung aus dem morgendlichen „Urschleim der eigenen Dumpfheit“. Und mit den poetisch klingenden „Streifzügen“, einem Vortrag, den Nádas am 15. September 2008 in Budapest gehalten hat, warnte er niemand anderen als die Angestellten der ungarischen Nationalbank, wie schlecht es um das Vertrauen in Demokratie und Kapitalismus bestellt sei. Am Tag nach dem Vortrag ging die nordamerikanische Bank Lehman Brothers pleite, was das Vertrauen nicht erhöht haben dürfte.

Der Aufstieg des Rechtspopulisten Viktor Orbán und die Selbstdemontage der ungarischen Oppositionsparteien haben sicher ihren Teil dazu beigetragen, dass sich der Band Leni weint fast ausschließlich auf Fragen der Demokratie in Europa konzentriert. Nádas argumentiert allerdings nie vordergründig politisch, sondern zugleich ethnologisch, soziologisch, mythologisch, anthropologisch – und persönlich. Hinzu kommt eine aufs Ganze zielende unerbittliche Selbsterforschung, die ihren Konterpart in Leni Riefenstahl findet. Hitlers Hofkünstlerin ist, rechtzeitig unterrichtet, keineswegs zufällig im eben von der Wehrmacht überfallenen Polen vor Ort, bricht jedoch angesichts einer Massenexekution von Zivilisten in Tränen aus. „Leni weint“ heißt der Titel des Essays, aber Riefenstahl hält den Überfall auf Europa „für die natürlichste Sache der Welt“.

Regression und Demokratie

Nádas‘ Darstellung des eigenen Dorfes in „Behutsame Ortsbestimmung“ ist ein Paradebeispiel für teilnehmende Beobachtung: Der Zugezogene beschreibt, wie die Dorfbewohner kollektiv handeln, denken und Bescheid wissen. Wie sie miteinander sprechen (nämlich alle gleichzeitig und laut), Verbrechen sanktionieren (drakonisch, gemeinsam und unter sich), wie familiäre und nachbarschaftliche Loyalitäten und Abmachungen Gesetze ersetzen – und dass die Welt hinter dem nächsten Hügel endet.

In diesem magisch-mythischen Universum regiert die „Findigkeit“: Um des Überlebens willen betrügen die Beherrschten die Betriebe der sozialistischen Mangelwirtschaft. Institutionen und Prinzipien, Recht und Besitz gelten nichts, und an dieser immer noch lebendigen Regressionsmentalität, so Nádas, kann die über die Menschen gekommene Demokratie nur scheitern. Sein Lob der westlichen Demokratie mit Institutionen, Regeln sowie Kreativität statt Findigkeit zeichnet allerdings – trotz des Hinweises auf den Zwang zum Lächeln bis zum Tod – ein Ideal nach; es fällt sehr überschwänglich aus. Auch der Essay zur Debatte über Martin Walsers Paulskirchenrede mit der Formulierung einer „Moralkeule“ namens Auschwitz überzeugt nicht – vielleicht, weil Nádas auf nur 11 Seiten zu viel verhandelt: den Hass auf die Deutschen nach 1945 als „legitimen Rassismus“, die problematische Formulierung der nationalen Identität Deutschlands, den Selbsthass seiner Bewohner, die fehlende Konfrontation der Ostdeutschen mit der „Lingua Tertii Imperii“, die Kluft zwischen dem kulturellen und dem politischen Selbstverständnis Deutschlands, die mangelnde Unterscheidung von historischer und persönlicher Verantwortung.

Eine Ordnung existenzieller Dringlichkeit

Die plausible Annahme, alles hänge miteinander zusammen, auch der Körper sei ohne das Gedächtnis der Seele nicht zu verstehen, lässt fast alle Texte kunstvoll und reich werden. Die Leserin der Romane dürfte allerdings manchen Essay zu Fotografie und Wahrnehmung vermissen (etwa den Essay „Aufleuchtende Details“, der zentrale Fragestellungen mit dem gleichnamigen Roman teilt und den Nádas zusammen mit eigenen Fotografien im Band Lichtgeschichten veröffentlicht hat). Sie kann sich aber trösten mit dem Essay „Der Mensch als Schöpfer und Überlebender“ – Nádas betrachtet darin Claude Monets Gemälde „Seerosen“, als wäre es einer seiner Romane. Auch die Miniaturen „Spurensicherung“ über beängstigende Begegnungen mit der ungarischen Stasi fehlen, dafür führt die beklemmend eingestandene Faszination beim wiederholten Betrachten des Filmes über die Hinrichtung von Nicolae und Elena Ceaușescu („Großes weihnachtliches Morden“) direkt ins Zentrum des Bösen. Mit „Der eigene Tod“ schließt der Band. Nádas, der mit knapper Not einen Herzinfarkt überlebt hat, staubsaugt in seiner Wohnung und nimmt die Riffelungen des Staubsaugerschlauchs wahr. Nicht nur den Leser erinnern sie an den „Geburtskanal“, in dem Nádas wenige Seiten davor dem Tod entgegen zu rutschen meinte, Anfang und Ende des Lebens gleichsetzend.

Auf dieselbe Weise schließt sich auf den letzten Seiten des Bandes der Kreis: Der magisch-mythischen Welt des Dorfes, mit deren Beschreibung Leni weint anfängt, sowie den Phänomenen in Alltag und Wirtschaft, Politik und Kunst stellt Nádas der Schriftlichkeit mit der Körperwärme eine Ordnung existenzieller Dringlichkeit entgegen. Dieser täglich und an jedem Gegenstand, nicht zuletzt am eigenen Leben, aufs Neue zu wiederholende Vorgang strukturiert die einzelnen Essays ebenso wie die Sammlung selbst.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Ian Dury: Florfliege (Chrysopa oculata), [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons

Péter Nádas
Leni weint
Essays · Aus dem Ungarischen von Akos Doma, Heinrich Elsterer u.a.
Rowohlt Verlag 2018 · 528 Seiten · 36 Euro
ISBN: 978-3-498-04699-6

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Von Jörg Plath

Jörg Plath ist Kritiker und Literaturredakteur bei Deutschlandfunk Kultur. (Foto: © Fotostudio gezett)

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