„Öffnen Sie das Buch auf Seite 99, und die Qualität des Ganzen wird sich Ihnen offenbaren.“ (Ford Madox Ford)
Wir lesen mit der Lupe und schauen, was der Text auf dieser Zufallsseite leistet.
(Warnung: Der Page-99-Test ersetzt keine Rezension.)

Vor drei Jahren hatte ich bereits Sibylle Bergs Roman GRM – Brainfuck einem Page-99-Test unterzogen. Der Befund dieser Seite war gemischt: Die Autorin strapazierte das Stilmittel des unvollständigen Hauptsatzes, und es fanden sich einige überflüssige Adjektive, ansonsten jedoch war nicht viel zu beanstanden.

Nun nehme ich mir den Folgeroman RCE – #RemoteCodeExecution vor. Die Seite 99 ist eine Übergangsseite mit neuem Kapitelanfang, daher teste ich die Seite 98. Sie beginnt und endet mit einem vollständigen Satz – ich glaube, das hatte ich noch nie, seit ich den Page-99-Test praktiziere.

Um es gleich vorwegzunehmen: Diese Seite ist stilistisch enttäuschend.

Dabei beginnt sie eigentlich verheißungsvoll, d.h. mit eigensinnigen Formulierungen:

– Sitzgruppen mit einem Polsterdesign, auf denen sich Erbrochenes wenig abzeichnete

– der albern blaue See

– Bauernhöfe, in denen jetzt aus steuerlichen Gründen Sparfüchse lebten

Eine Erzählstimme, die beim Polsterdesign an Erbrochenes denkt, rechnet offenbar mit Gästen, die sich übergeben. Dass ein See auf alberne Weise blau sein kann, ist vielleicht nicht der Gipfel der Stilkunst, aber immerhin originell (die Erzählstimme denkt wohl an Postkartenblau). Und das Wort „Sparfüchse“ für die steuerflüchtigen Großverdiener, die sich die Bauernhöfe unter den Nagel gerissen haben, birgt eine verhaltene Ironie, und einen Moment lang sehe ich tatsächlich einen Fuchs durch den Satz streifen (allerdings bin ich mir auch hier nicht sicher, was es wert ist).

Was mich beim Lesen dieser Seite jedoch mehr und mehr ärgert, ist die schlampige Syntax.

Außer Liechtenstein, Montenegro und Nordirland waren die meisten Länder Europas vertreten, die nach ihrer Heimreise Brigaden mit zwei bis sechs Personen aufbauen würden.

Der Relativsatz führt in die Irre. Vertreten sind nicht die meisten Länder Europas, die Brigaden aufbauen, sondern vertreten sind die meisten Länder Europas, und die bauen nun Brigaden auf.

Der nächste Relativsatz ist zumindest unschön:

Maggy stellte gerade das Kommunikationssystem […] vor, das fast einsatzfähig war.

Der Relativsatz ist ein Nachklapp ohne Kraft. Wenn es wichtig ist, dass das Kommunikationssystem fast einsatzfähig war, sollte es einen eigenen Hauptsatz bekommen: „Maggy stellte gerade das Kommunikationssystem […] vor. Es war fast einsatzfähig.“

In dem zitierten Satz gibt es eine Auslassung von elf Wörtern. Vollständig heißt er so:

Maggy stellte gerade das Kommunikationssystem über dem Peer-to-Peer-Chat auf Tex- und Torrent-Basis vor, […]

Der IT-Fachwortwulst macht den Satz fast unlesbar (und den nachklappenden Relativsatz noch mühsamer). Wir haben es auf dieser Seite mit Nerds zu tun, das weiß ich dank dem Satz „Die Nerds hatten kein Bewusstsein für die Schönheiten der Natur“ (hart am Klischee vorbei). Es kann gut sein, dass diese Nerds halt so reden und wir hier ihren Jargon vorgeführt bekommen. Wenn ich in dem Roman allerdings vielen solcher Sätze begegnete, würde ich ihn nicht gerne lesen wollen.

Weiter unten gibt es eine Satzkonstruktion, bei der ich in Erwartung eines Relativsatzes zuerst gestolpert bin:

Die Standorte und Lager für 3-D-Drucker wurden in den Ländern gefunden, die Bezugsquellen für Carfentanyl ausfindig gemacht und die neuesten Erkenntnisse über die Geheimdienste ausgetauscht.

Erst beim zweiten Lesen merke ich, dass es sich um eine Aufzählung handelt. Aufzählungen sind immer riskant, und diese hier ist besonders öde, denn sie beruht auf einer Passivkonstruktion:

wurden
– gefunden
– ausfindig gemacht
– ausgetauscht

Zurück zum Satz mit Maggy. Beim ersten Lesen war es mir nicht aufgefallen, aber: „Maggy stellte gerade das Kommunikationssystem vor“ ist der erste von drei Sätzen, die parallel geschaltet sind. Seltsamerweise durchkreuzen die Absatzumbrüche den Lesefluss, nur der zweite und dritte Satz stehen jeweils auf einer neuen Zeile, Maggys Satz ist in den vorherigen Absatz eingebettet.

[…] Maggy stellte gerade das Kommunikationssystem über dem Peer-to-Peer-Chat auf Tex- und Torrent-Basis vor, das fast einsatzfähig war.

Ben verschickte den Zeitplan mit den genauen Aktionsterminen.

Und Pjotr verschickte seine Social-Media-Grafiken und zeigte die Zielpersonen für Erpressung und Bestechung in wichtigen Schlüsselpositionen in Europa.

Hallo Lektorat?! Ich habe schon bei der Wiederholung von „Ben verschickte“ und „Pjotr verschickte“ gestutzt, aber der Pjotr-Satz geht stilistisch gar nicht. Ich habe fett markiert, was mich stört.

Und Pjotr verschickte seine Social-Media-Grafiken und zeigte die Zielpersonen für Erpressung und Bestechung in wichtigen Schlüsselpositionen in Europa.

Die drei „und“ sind Bequemlichkeitsdeutsch, das doppelte „in“ ebenfalls, dazu kommt die Ballung von Nomina, die aufgereiht werden wie an einer Schnur:

Zielpersonen für Erpressung und Bestechung in wichtigen Schlüsselpositionen in Europa

Es ist nicht ganz klar, wie die Wörter einander zuzuordnen sind. (Ganz abgesehen davon, dass das Vokabular einer bürokratischen Anleitung entnommen sein könnte.)

Die schlimmste Achtlosigkeit jedoch betrifft das Wort „Länderbrigaden“. Oben heißt es:

Hier saßen also die neuen offiziellen Länderbrigaden.

Drei Absätze weiter unten heißt es:

Die Länderbrigaden, wie sie sich nannten, hatten alle Pläne, Informationen, Adressen auf ihren Geräten […]

Das „wie sie sich nannten“ hätte oben besser gepasst.

Diese Länderbrigaden, so heißt es weiter, hatten alle Pläne, Informationen, Adressen auf ihren Geräten

nur die Schweizer Brigade hatte aus Gründen von Pjotr falsche Angaben bekommen.

Offenbar ist das „aus Gründen“ denunziatorisch gemeint. Würde es heißen: „hatte von Pjotr aus Gründen falsche Angaben bekommen“, hätte ich das gleich gemerkt. So jedoch dachte ich beim ersten Lesen, es handle sich um „Gründe von Pjotr“, was aber keinen Sinn ergibt.

Meine Güte. Sibylle Bergs letztes Buch GRM fand ich, trotz des durchwachsenen Page-99-Tests, am Ende richtig gut (wenn auch etwa 400 Seiten zu lang). Dort finden sich sprachliche Zuspitzungen wie:

Wenn der Mensch weiß, wer schuld ist, geht es ihm besser, dann ist eine göttliche Gerechtigkeit wiederhergestellt.

(Der Satz wäre allerdings stärker ohne die zweite Hälfte.)

Ob man auch in RCE mit solchen Trouvaillen für den liederlichen Stil entschädigt wird?


Angaben zum Buch

Sibylle Berg
RCE – #RemoteCodeExecution
Roman
Kiepenheuer & Witsch 2022 · 704 Seiten · 26 Euro
ISBN: 978-3462001648

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

3 Kommentare

  1. Jürgen Kiel 30. Juni 2022 um 13:58

    Danke für die Analyse! In diesem Fall scheint die ausgewählte Seite besonders überzeugend für das Ganze zu stehen. Offenbar wurde der Roman nicht primär aus Liebe zur Sprache verfasst.

    Antworten

  2. Porträt Marianne Wille

    Grandios – vielen herzlichen Dank! SO macht Literaturkritik wirklich Spass (und Sinn)!

    Antworten

    1. Genau! Ich schliesse mich diesem Lob an. (Bin erst heute darauf gestossen).

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