In den Debatten um Peter Handke geht es kaum je um seine Prosa. Wir nehmen seine jüngsten Werke unter die Lupe und suchen nach Kriterien.

Die bisherigen Texte in chronologischer Reihenfolge:

„Der Krieg errichtet eine Ordnung, zu der niemand Abstand wahren kann.
So gibt es nichts Äußeres. Der Krieg zeigt nicht die Exteriorität
und das Andere als anders; er zerstört die Identität des Selben.“

Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit

Die Wogen in der Sache Literaturnobelpreis für Peter Handke kochen seit Wochen hoch. Davon einmal abgesehen, dass dieser Preis für die Prosa und nicht für politische Statements vergeben wird, lohnt dennoch ein Blick in die kritisierten Handke-Aufsätze. Die wenigsten Kritiker, so scheint es, haben Handkes Essays Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien und Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise komplett gelesen – ansonsten sind die teils harschen Reaktionen, die stellenweise ins Ehrabschneidende gehen, nicht erklärbar. Statt Bruchstücke aus Texten herauszusprengen und diese isoliert zu deuten – wie dies prominent Saša Stanišić getan hat –, stünde es den Kritikern gut an, diese beiden Aufsätze einmal gründlich und im Zusammenhang zu lesen. Auch deshalb, damit nicht das Gerücht über einen Text an die Stelle der Lektüre tritt und als stille Post sich immer weiter vervielfältigt.

Peter Handke ist einer der wenigen deutschsprachigen Schriftsteller, die in Jugoslawien mehrfach vor Ort waren, unter anderem auch 1999, als Serbien ohne UN-Mandat von den USA und der NATO bombardiert wurde, und dabei saß er nicht mit Slobodan Milošević im Bunker, sondern war bei den Menschen, auf die die Bomben fielen.

Wenn man in der gründlichen Lektüre dieser beiden Texte einen Schritt zurücktritt, reduziert sich möglicherweise auch jene Wut, die eine sachliche Diskussion verhindert. Diese Wut der Kritiker mag teils, wie bei Saša Stanišić, biografisch motiviert sein. Doch Texte sind komplexe Gebilde, und sie sind mehr als nur einzelne Sätze, die man sich herausseziert. Das klingt trivial, ist es aber nicht, wenn man etwa die Interpretationsartefakte betrachtet, die Handkes Statements in den besagten Aufsätzen als Billigung von Massakern und Mord deuten.

Der Blick des Reisenden

Liest man den Anfang von Handkes zweitem Reisebericht, kommt es einem nicht in den Sinn, die beiden Texte als politische Rechtfertigung für Mord zu deuten. Handke reist als Schriftsteller, als Beobachter, das schreibt er ausdrücklich, sein Blick ist nicht der des Politologen oder des Balkan-Experten:

Wie schon beim ersten Mal kam ich nach Serbien vordringlich als Tourist, ein einzelner aus eigenem, was auch ‚auf eigene Rechnung‘ heißt, hatte noch weniger als beim ersten Mal vor, von unserem Unterwegssein etwas aufzuschreiben, und machte mir dann auch noch weniger Notizen, nämlich keine einzige.

Handke bezieht eine subjektive Position, nämlich die des Reisenden. Und von Anfang an sichtet Handke als Beobachter die Vernichtungen, die ihm in den bosnischen Ortschaften und auch am Wegesrand immer wieder begegnen, wie etwa in Dobrun bei Višegrad, einem Ort kurz hinter der serbischen Grenze, die er in beiden Reisen überquerte. Er reiste in ein Gebiet, in dem einst Bosnier, Muslime und Serben gemeinsam lebten:

Aber von dem Dorf gab es außer dem Namen fast allein noch die dach-, türen- und fensterstocklosen Hausmauern. Geplünderte Häuser? Die Häuser als Häuser, die Häuser als solche wirkten geplündert, und das erschien als etwas Schlimmeres als selbst eine noch so vollkommene Zerstörung; als sei durch eine derartige Weise des Plünderns jeweils nicht bloß ein einzelnes, dieses bestimmte Haus da vernichtet worden, sondern sozusagen das Haus an sich, das Haus ‚Haus‘, das Wesen des Hauses (dieses wurde faßbar gerade in so einer Form der Vernichtung).

In dieser Passage geht es nicht mehr einfach um konkrete Taten, um ein Plündern und Zerstören hier oder dort, vielmehr wird in diesen Sätzen exemplarisch sichtbar, was in solchen Kriegen und Massakern geschieht. Eine Gewalt bricht über die Menschen herein, eine Gewalt, die ihnen ihr unmittelbares Umfeld nimmt, nämlich das Haus und damit die Behausung und auch die Ortschaft, auf die jeder Mensch angewiesen ist. Menschen wohnen. Die Gewalt gegenüber einem einzelnen Objekt „Haus“ macht mehr, als nur ein einzelnes Gebäude oder eben eine Vielzahl von Häusern zu zerstören. Diese Gewalt reicht bei Handke am Ende bis ins Wesenhafte hinein, nämlich das Wesen Mensch in seinem Dasein treffend. Handke bringt solche Gewalt in ein Bild, und hier geschieht das mit literarischen Mitteln.

Die fragende Position als Korrektiv

Kritiker Handkes können anführen, dass er primär die Serben als Opfer sieht und nicht die Vertreibung der Muslime benennt – etwa die aus Dobrun oder die Belagerung von Sarajevo. Dieser Einwand führt aber insofern an der Sache vorbei, weil Handke einerseits auch von Serben als Tätern und von Muslimen als Opfer schreibt (eben jene in der Ortschaft Dobrun sowie beispielsweise das Verschwinden der Minarette aus Višegrad), und er andererseits beim Blick der Öffentlichkeit auf diesen Krieg jene „Gerechtigkeit für Serbien“ sich wünscht, die in den Medien oft nicht zu finden ist. In diesem Sinne sind Handkes Texte als Korrektiv zu lesen. Dennoch nennt er die Täter:

Und nicht bloß einmal, nicht bloß für den Augenblick, angesichts wieder eines in einer der Leichenhallen von Sarajewo wie im leeren Universum alleingelassenen getöteten Kindes – Photographien übrigens, für die spanische Zeitungen wie El País Vergrößerungs- und Veröffentlichungsweltmeister sind, nach ihrem Selbstbewußtsein wohl in der Nachfolge Francisco Goyas? –, fragte ich mich dazu, wieso denn nicht endlich einer von uns hier, oder, besser noch, einer von dort, einer aus dem Serbenvolk persönlich, den für so etwas Verantwortlichen, das heißt den bosnischen Serbenhäuptling Radovan Karadžić, vor dem Krieg angeblich Verfasser von Kinderreimen!, vom Leben zum Tode bringe, ein anderer Stauffenberg oder Georg Elsner [sic] !?

Diese fragende Position Handkes, die in ihren Beobachtungen oft am Anschein und an dem in den Medien Dargestellten zweifelt, findet sich ebenso in der prominenten, von Stanišić genannten, Višegrad-Szene mit den barfüßigen Freischärlern, unter anderem jenem als Kriegsverbrecher verurteilten Milan Lukić. Handke fragte im Juni 1996 nach, was bei diesen Massakern, genau dort vor Ort, geschehen ist. Dabei kritisiert er insbesondere den Journalisten Chris Hedges, der mit seiner Reportage in der New York Times vom März 1996 Suggestionen erzeugt und Geschichten schreibt, die auf Sensation aus sind. Diese Art der Darstellung hinterfragt Handke in dieser Passage in Sommerlicher Nachtrag:

Wenn man schon im ersten Satz eines so genannten Berichts die Tendenz und das Ressentiment spürt – für mich ist das unerträglich.

(Peter Handke, Der Standard, 10.06. 2006, zit nach: Struck, Lothar, Der mit seinem Jugoslawien)

Der Schriftsteller als Medienkritiker

Handke bezweifelt eine bestimmte Form der Berichterstattung über Jugoslawien, insbesondere in der FAZ damals und im Spiegel. Handke zweifelt nicht an den Gräueln an sich, er schreibt explizit, dass diese stattfanden, sondern an der Art und Weise, wie solcher Mord dargestellt wird. Dies geschieht freilich von einem subjektiven Blick her, dem des Reisenden, des Schriftstellers – und das ist Handkes gutes Recht als Privatperson und Autor. Wer Handke vorwirft, dass er Massaker oder gar Genozide leugnet, muss dies an belastbaren Textstellen in diesen Aufsätzen vornehmen. Und es sollte bei solchem Verfahren auch nicht der Kontext solcher Stellen außer Acht gelassen werden: dass es sich nämlich in vielen dieser Passagen explizit um eine Medienkritik handelt.

Gleich im Anschluss an diese Massaker-Stelle, wo er von der „Tötung in der hiesigen Muslimgemeinde vor ziemlich genau vier Jahren“ schreibt, bezieht Handke sich auf jenen Bericht von Hedges. Auch ich habe den Artikel gelesen und finde dort eine suggestive Sicht: Emotionalisierungen und Storytelling – die Brücke von Višegrad im smaragdgrünen Wasser, ein Massenmörder, der auch mal barfuß durchs Dorf läuft:

In Višegrad there is a graceful 400-year-old bridge, hewn of large off-white stones, that spans the emerald-green waters of the Drina River.

The steep wooded hillsides that plunge to the river have for centuries also produced killers of appalling magnitude. Mr. Lukic, along with his group of some 15 well-armed companions, was the latest, according to more than two dozen survivors and witnesses.

Mr. Lukic, who often went barefoot, called the group the Wolves.

Das ist für einen journalistischen Text Sprachkitsch. Hedges schreibt als Journalist fürs Gefühl, und das kritisiert Handke.

Ebenso kritisiert Handke das Verschwinden eines wichtigen Zeugen aus Serbien. Einen solchen Zeugen gibt man hinterher im Gefangenenaustausch weg? Das würde mich als Journalist stutzig machen. Solche Zeitungsberichte und darin besonders der Stil sind es, die Handke ärgern. Hier wird mittels „Schreibe“ ans Gefühl appelliert. Handke hat in Chris Hedges‘ Story ein Problem benannt, das heute noch akut ist.

Die Herstellung politischer Emotionen

Ich verstehe nach der Lektüre und dem Stil solcher Reportage, was Handke mit den „eingeflogenen Manhattan-Journalisten“ meint. Meine Kritik an Handke geht freilich in eine andere Richtung: Er steht vor diesem Text von Hedges hilflos und wie ein gebanntes Kind. Karl Kraus hätte diesen Hinterwäldlersinn aus den „steep wooded hillsides“ und dem „smaragdgrünen Wasser“, mit dem politische Emotionen gebastelt werden, von seiner Sprache her gnadenlos zerlegt. Das sind Dinge, die im Journalismus nichts zu suchen haben. Handkes Text hingegen wird von Melancholie, Trauer und einer stillen Wut getragen, aber leider nicht von Sprachkritik.

Dieser Umstand, dass es sich bei dieser Szene um eine, wenn auch wenig subtile, Medienkritik handelt, wird in der Bewertung ausgeblendet. Manchmal ist Handkes Sprache zwar drastisch, wenn er etwa den „nach Višegrad hinter die bosnischen Berge geheuerten Manhattan-Journalisten“ und damit eben die Variante des Journalismus kritisiert, der anschaulich zuspitzt. Doch bei dieser Art teils suggestiver und einseitiger Darstellung, wie sie etwa in Deutschland prominent beim damaligen FAZ-Herausgeber Johann Georg Reißmüller erfolgte, ist ein gewisser Ton von Polemik verständlich. Handke schreibt als Einzelner, er schreibt keine Medien-Studie zum Stand der Berichterstattung von Zeitungen im Jugoslawien-Krieg, sondern er berichtet subjektiv – als Autor und Reisender.

Die Macht der Bilder

In Eine winterliche Reise schreibt Handke über die Fotografien der Opfer des Krieges:

… doch weshalb habe ich solche gar sorgfältig kadrierten, ausgeklügelten und eben wie gestellten Aufnahmen noch keinmal – jedenfalls nicht hier, im ‘Westen’ – von einem serbischen Kriegsopfer zu Gesicht bekommen? Weshalb wurden solche Serben kaum je in Großaufnahmen gezeigt, und kam je einzeln, sondern fast immer nur als Grüppchen, und fast immer nur im Mittel- oder fern im Hintergrund, eben verschwindend, und auch kaum je, anders als ihre kroatischen oder muselmanischen Mitleidenden, mit dem Blick voll und leidensvoll in die Kamera, vielmehr seit- oder bodenwärts, wie Schuldbewußte? Wie ein fremder Stamm? – Oder wie zu stolz zum Posieren? – Oder wie zu traurig dafür?

Wer sich von der Fotografie her mit der (politischen) Macht der Bilder beschäftigt und Fotografien nicht per se als selbstverständlich und objektiv wahrnimmt, wird sich solchen Fragen und solchen Zweifeln stellen müssen. Handkes Bücher zu Serbien sind in diesem Sinne Medienkritik von der Warte des Schriftstellers.

Lothar Struck, Experte für Handke, nicht nur in Sachen seiner Serbien-Reiseberichte, sichtet in seinem Buch Der mit seinem Jugoslawien. Peter Handke im Spannungsfeld zwischen Literatur, Medien und Politik die Texte Handkes akribisch. Zu jener Višegrad-Passage schreibt er:

Tatsächlich ist der Artikel von Hedges (dem hinter die Berge geheuerten Manhattan-Journalisten) äußerst suggestiv geschrieben. Und eine Statistik aus dem Jahr 1991 zeigte für Višegrad und Umgebung rund zwei Drittel der Bevölkerung als bosnisch und ein Drittel serbisch. Insofern war Handkes Einwand nachvollziehbar. Dabei übersah er jedoch die Kriegssituation. Denn im Mai 1992 zog sich die jugoslawische Volksarmee, die die Stadt aus geostrategischen Gründen erobert hatte, zurück und überließ paramilitärischen Milizen das Feld. Etliche Bosniaken waren bereits geflohen; das Verhältnis in der Bevölkerung hatte sich verändert. Und wer besaß nun die Waffen? Jegliche staatliche Ordnung brach zusammen – der Mob regierte. Lukić war einer der Anführer.

Handke mag im Urteil zuweilen falsch liegen, darin ist den Kritikern zuzustimmen. Aber das heißt im Sinne eines falschen Analogieschlusses nicht, dass er Völkermord billigt oder relativiert, wenn er auf die Art der Berichterstattung schaut. Zudem bedient sich Handke als Erzähler häufig anschaulicher Elemente, er visualisiert, versucht für sich und für seine Leser in Bildern zu begreifen. Diese rhetorische Ebene seiner Reise-Essays ist ebenfalls mitzudenken.

Ein anderer Anfang des Erzählens

Eine weitere vermeintlich inkriminierende Stelle ist jene Passage aus Sommerlicher Nachtrag, in der Handke die Serben mit den Indianern in Western-Filmen vergleicht. Doch auch bei dem Indianer-Zitat muss man sowohl den Kontext wie auch das Ende des Textes mitlesen.

‚Letzte Frage‘: Wie hat man den Kampf der Serben in Bosnien wahrgenommen? – Dazu siehe vielleicht wieder ‚Geographie‘: die Freiheitskämpfer oben – auf den Bergen –, die Zwangsherren in den Tälern, so als Opfer ‚vor-gesehen‘ – aber erscheinen nicht auch in den Western die bösen Indianer oben auf den Felsklippen, die friedlichen Ami-Karawanen überfallend und metzelnd – und kämpfen die Indianer nicht doch um ihre Freiheit? Und ‚allerletzte Frage‘: Wird man einmal, bald, wer?, die Serben von Bosnien auch als solche Indianer entdecken? Und ab jetzt nichts mehr fragen, und wenn, dann jedenfalls grundanders anfangen als mit dem folgenden Satz einer langen aktuellen Bosniengeschichte in der Zeitschrift „The New Yorker“ : „Haris XY wurde ethnisch gereinigt, während er mit seinen Freunden Karten spielte.“

Anfangen wie? Zum Beispiel so: „Am Beginn aller Stege und Wege, am Ursprung des Bildes, das ich mir davon mache, stehen unauslöslich eingeprägt die Pfade, wo ich frei die ersten Schritte tat. Das war in Višegrad, und die Wege waren hart, ungleichmäßig, wie ausgenagt …“
(Ivo Andrić, Pfade)

Es sind dies die letzten Sätze des Buches, ein Abschluss also. Und Handke nutzt das Zitat von Andrić – freilich weit vor den Massakern von Višegrad und in einer anderen Zeit geschrieben – , um auf einen anderen Anfang des Sehens und des Erzählens zu weisen, der nicht einfach im Kreislauf dieser Gewalt verbleibt. Das mag angesichts schrecklicher Massaker hilflos oder ausweichend anmuten, aber Handke schreibt nicht als Historiker oder als Journalist, dessen Pflicht es ist, zu dokumentieren und zu berichten.

Eine Form von Differenzierung

Handke greift hier zudem auf Motive des Westerns zurück, denn die Bilder von Geschichte, die uns Western vermitteln, erzeugen Mythen und Narrative. Für die USA etwa, wie ein Land mit Gewalt besiedelt und wie Landraub begangen wurde. Die Situationen sind historisch kaum vergleichbar. Aber darum geht es Handke nicht. Sein Thema ist die Frage nach der Deutung und den Narrativen. Konsequent in der Methode ist diese Referenz, weil es um jene über die Medien vermittelten Bilder dieses Krieges geht, die Handke kritisiert. Was manche als unerhörte und unverschämte Frage deuten, kann genauso als eine Form von Differenzierung gelesen werden: dass nämlich Serben nicht nur Täter, sondern ebenso Opfer waren, so z. B. beim Angriff auf Kravica 1993. Trotz Sarajevo und trotz der entsetzlichen Massaker in Srebrenica. Ob diese Bilder das historische Geschehen angemessen abzubilden vermögen, bleibt Gegenstand der Debatte. Ich halte es für eine legitime Sicht.

Wohl wahr: in Višegrad fand ein Leben nur noch auf dem Friedhof statt, und in Srebrenica, dem Anschein nach, gar nicht mehr – aber vielleicht gab es da ein anderes zu entdecken, ein unsern Begriffen schwer zugängliches?

[…]

Und einmal dann der Gedanke, wenn überhaupt irgendwo auf Erden die Auferstehung der Toten noch Wunsch, oder akuter Tagtraum, oder wüster Wahn sei, so dort bei zumindest einem der Abgehausten, einem einzigen, von S., Auferstehung auch und vor allem der Vor-Bewohner, oder zumindest eines von denen, eines einzigen.

Diese Spirale der Gewalt aufzulösen, ist schwierig. Prosa kann vielleicht davon träumen, wenn sie jenen „anderen Anfang“ imaginiert, wie Handke das tut. Man kann es als naiv bezeichnen, aber diese vermeintliche Naivität ist das Recht eines Schriftstellers.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Vladimir Mijailović: Mehmed-Paša-Sokolović-Brücke in Višegrad, CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons
Buchcover: Verlage

Peter Handke
Abschied des Träumers / Winterliche Reise / Sommerlicher Nachtrag
Suhrkamp Verlag 1998 · 250 Seiten · 14,00 Euro
ISBN: 978-3518394052

Lothar Struck
Der mit seinem Jugoslawien
Peter Handke im Spannungsfeld zwischen Literatur, Medien und Politik
Verlag Ille & Riemer 2013 · 332 Seiten · 24,80 Euro
ISBN: 978-3-95420-402-1

Bei Amazon (nur als E-Book im Kindle-Format für 11,99 €) oder im lokalen Buchhandel

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Von Lars Hartmann

Bloggt auf Aisthesis, freier Autor beim Freitag

5 Kommentare

  1. Ich frage mich, wann den Handke-Verstehern auffällt, dass sie mit jedem Versuch, ihren Meister reinzuwaschen, in Wirklichkeit das Grab ein bisschen tiefer legen.

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  2. Handke hat mit seinen Texten und Interviews politische Aussagen treffen wollen, also ist es auch gerechtfertigt, sie entsprechend kritisch zu hinterfragen, anstatt sie als Literatur vor Kritik zu immunisieren.

    Auch in Ihrem Text: Viele Worte, mit denen versucht wird, Handkes Methodik zu rechtfertigen, die sich in ähnlicher Form in den letzten Jahren in den russischen Propagandamedien beobachten ließ – was vermeintlich als “Frage” daherkommt, dient in erster Linie dazu, Zweifel zu sähen. Gerne auch, indem die Integrität einer Person in Zweifel gezogen wird. (Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass der von Ihnen zitierte “Handke-Experte” Lothar Struck den Begriff “Manhattan-Journalist” ohne Anführungszeichen verwendet und damit die Distanz zur “Medienkritik” des Dichters aufgibt.)

    Was Handkes politische Einstellungen betrifft, so muss man sich gar nicht seine manierierten Prosatexte antun. Es genügt, ein von ihm autorisiertes NZZ-Interview von 2006 zu lesen. Dort steht in bedrückender Klarheit alles, was man über seine Haltung zu den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien wissen muss – gruselig ist insbesondere, wie stark seine Äußerungen dem Sound ähneln, den wir heute von AfD-Funktionären, Trump-Anhängern, Putin-Propagandisten und Nazis kennen:

    Da ist von “Soros-Demokraten” die Rede (gemeint ist die serbische Opposition gegen Milosevic, angeblich aus dem Ausland gesteuert), da kommt eine Variante des ‘Geburten-Jihads’ ins Spiel (“Es ist tragisch: zwei Millionen Kosovo-Albaner. Da war für die Kosovo-Serben schon demografisch nichts zu machen.”) und eine Form von ‘wenn der Führer das wüsste’ (“Milosevic war nicht einmal Autokrat im strengen Sinn. Er hat alle die Schwindlergruppen um ihn herum einfach nicht in der Hand gehabt.”), und der Krieg gegen Bosnien-Herzegowina wird mit dem Argument, Izetbegovic habe dort einen islamischen Gottesstaat errichten wollen, de facto als Antiterror-Unternehmen legitimiert.

    https://t1p.de/i9k5

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  3. Auf der einen Seite haben wir einen Autor, der sich ausdrücklich nicht vorbereitet, der auf Notizen verzichtet und auf seiner Reise auch keine Fragen stellen will(das sagt Handke in einem der betreffenden Aufsätze). Auf der anderen Seite haben wir einen professionell arbeitenden Journalisten, der sich vorbereitet, recherchiert und mit Zeugen über das spricht, was sie erlebt haben, wobei er transparent macht, unter welchen Umständen wer was gesagt hat. Man hätte es nüchterner schreiben können, also ohne bare Füße oder smaragdgrünes Wasser unter der Brücke. Doch dass diese Beigaben wichtiger sind, als die Verbrechen, um die es in der Reportage von Chris Hedges geht, scheint mir symptomatisch für die ganze Debatte. Der Reporter lässt die Opfer nicht aus Sensationslust von den Verbrechen erzählen, sondern weil diese Verbrechen geschehen sind. Sensationslüstern ist nicht der Journalist, sondern allenfalls der Leser, der bei der Lektüre offenbar einen Kitzel verspürt.
    Und das nennt sich “Medienkritik”? Wenn ein ausdrücklich auf jegliche Recherche verzichtender Autor einem recherchierenden Reporter vorwirft, er erzähle Märchen, dann erinnert mich das sehr an diejenigen, die den seriösen Medien “Lügenpresse” hinterherschreien – und im Gegenzug Medien vertrauen, die nachweislich fake news verbreiten.

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  4. Marc Djizmedjian 7. November 2019 um 21:00

    Danke für diese sorgfältige Textkritik, die Bedenkenswertes enthält und etwas von den textimmanenten Ambivalenzen spürbar werden lässt. Ich nehme sie zum Anlass für einige weiterführende Überlegungen. In der Debatte geht es meiner Ansicht nach längst nicht mehr nur um die Sätze, die Handke formuliert hat, die Frage, wie sie zu verstehen oder nicht zu verstehen seien, sondern auch um folgendes:

    1. Die Person Peter Handke
    2. Die Frage, welche Literatur «man» heute will

    Die Person Peter Handke polarisiert, was daran liegen mag, dass er selber nie zimperlich im Austeilen war, in der Kritik an anderen, und dies lange vor den Serbientexten. Er hat sich verschiedentlich in harscher, herablassender, auch vulgärer und verletzender Weise über andere geäussert, aus einer, wie es scheint, irrationalen, unkontrollierten Reizbarkeit heraus. Diese (Un-)Art steht in einem scharfen Kontrast zu seiner Poetik ab ca. 1980, in der er sein besseres Selbst gestaltet und sich dem Lesepublikum als feinsinnigen, friedliebenden Alleingänger, mit Vorliebe in der Natur, vorstellt, der beobachtet und sich so seine Gedanken zu dies und jenem macht. Aber wie es scheint, wurde mit dem Nobelpreis etwas aktiviert, was lange geschlafen hat und nicht nur Handkes politischen Äusserungen zu Serbien meint, sondern direkt auf seine Persönlichkeit abzielt, auf diese unberechenbare und destruktive Seite, die im Übrigen seine Annäherung an die serbische Autokratie ein Stück weit erklären könnte. Jetzt wird versucht, zurecht oder nicht, den alten, janusgesichtigen König endlich zu stürzen.

    An Handke entzündet sich ausserdem die Debatte um die Frage, welche Literatur «man» heute eigentlich (noch) will. «Innerlichkeit» steht, so mein Eindruck, beim überwiegenden Teil der Kritik eher tief im Kurs, der Begriff wird zum Teil als Schimpfwort benutzt. Man will Handlung, man will Eindeutigkeit, man will vor allem das “Richtige”, und deshalb soll Dichtung (oder was sich dafür ausgibt) mindestens implizit eine politische Dimension besitzen. Der diesjährige Büchnerpreisträger steht idealtypisch für diese Position eines expliziten politischen, also richtigen Schreibens, bei dem man die Frage nach der dichterischen Qualität, also der Sprache, getrost vernachlässigen darf. Handke steht in vielen seiner Bücher für die genaue Gegenposition dieses Schreibverständnisses, steht für das Betrachten und Verweilen bei den Dingen, die Dinge selbst sollen erzählen, sie sollen Sprache sein, jenseits von Politik, und auch deshalb eignet sich seine Literatur so gut für die Schmähung. Womit Marcel Reich-Ranicki einst begonnen hat, der Handke so wohlfeil wie langweilig als «langweilig» taxierte, damit will man nun endgültig zu einem Ende kommen.

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  5. Wolfgang Stauch 11. November 2019 um 16:43

    Wer Handke nicht will soll ihn nicht lesen. Basta!

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