Genosse im Strudel der Zeit – Teil 1 bis 4
1 – Ein Buch macht Karriere
2 – Lektüre für den Führer
3 – Für fremd erklärt
4 – Neue Gewänder
Ein Buch macht Karriere
Im Januar 1940 erscheint bei Rowohlt ein kleines rotes Buch, einer von nur neun Titeln, die der Verlag in diesem Jahr herausbringt. Bücher sind damals schwer zu produzieren, werden aber stark nachgefragt. Gut vier Monate zuvor hat NS-Deutschland mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg entfesselt. Lebensmittel und Bedarfsgüter gibt es nur noch auf Bezugsschein. Juden erhalten reduzierte Lebensmittelrationen, ab Februar 1940 streicht man ihnen die Kleiderkarten. Sie müssen ihre Wohnungen aufgeben und in „Judenhäuser“ ziehen, aus denen sie später in die Vernichtungslager deportiert werden.
Titel und Inhalt des Buchs sind für die Zeit ungewöhnlich. Es heißt: Schlaf schneller Genosse – Sowjetrussische Satiren. Der Klappentext wirbt:
Die in diesem Sammelband vereinigten Kabinettstücke satirischer kleiner Prosa sind von der russischen Presse in alle Schichten des Volkes getragen worden und haben die Namen Sostschenko, Schischkow, Romanow und Katajew bekannt und berühmt gemacht. Der deutsche Leser nimmt durch sie zum erstenmal wieder am geistigen Leben und am ungezwungenen Lachen des neuen Rußland teil.
Die kurzen Geschichten, die zwischen den frühen 1920er Jahren und 1938 entstanden sind, handeln von Bürokratismus, Misswirtschaft, Wohnungsnot, Armut, Korruption und anderen Missständen des sowjetischen Alltags. Sie sind für ein Publikum geschrieben, das mit diesem Alltag vertraut ist und arbeiten mit unterschiedlichen literarischen Registern – von der Groteske bis zur Tragik, von der Zuspitzung bis zur Verdichtung.
Die meisten Texte, mehr als zwei Drittel, stammen von Michail Soschtschenko (so die heute übliche Transkription). Der 1894 geborene Autor erfreut sich damals einer ungeheuren Popularität. Überall in der Sowjetunion strömt das Publikum zu seinen Lesungen. Es kennt seine Texte aus den Zeitungen und der einzigen noch verbliebenen Satirezeitschrift „Krokodil“. Seine Bücher erscheinen in großer Auflage und finden auch im Ausland Anklang. Soschtschenko hat einen ganz eigenen Ton entwickelt. Er schließt an die Tradition des skaz an, der Wiedergabe der gesprochenen Sprache bei Autoren wie Gogol und Nikolai Leskow. Aber bei ihm ist es die Umgangssprache der neuen, sowjetischen Gesellschaft, die Eingang in die Literatur findet.
Das Nachwort der Rowohlt-Ausgabe zitiert Soschtschenko mit den Worten:
Ich parodiere nur. Ich parodiere einen von mir erdachten Proletarierschriftsteller, der in gegenwärtiger Zeit bei den herrschenden Lebensbedingungen existieren könnte.
Die Satiren sind oft aus der Ich-Perspektive geschrieben und skizzieren ihre Charaktere mit mindestens ebenso viel Liebe wie Spott. Auf den ersten Blick scheinen die Unterschiede zwischen Autor, Erzähler, Figuren und Publikum hier zu verschwimmen. Alle sitzen im gleichen Boot, alle sind Teil eines umfassenden „Wir“. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass Soschtschenko kunstvoll mit Distanz und Nähe spielt. Er montiert die Phrasen der neuen Zeit in seine Texte und lässt dabei sprachliche Versatzstücke absichtlich unbeholfen aufeinanderprallen.
„Schlaf schneller, Genosse“, die Titelgeschichte des Rowohlt-Bands, handelt von einem Reisenden, der mit Mühe ein Hotelbett ergattern kann, aber nicht zur Ruhe kommt wegen des schlechten Betts, der Wanzen, der dünnen Wände und des Lärms im Hof. Über dem Bett hängt ein Schild mit der Parole: „Schlaf schneller, Genosse, Dein Kissen benötigt schon ein anderer!“
In einer anderen Geschichte sehen die Bewohner bestürzt, in welch elenden Verhältnissen sie leben, als in ihrem Haus eine elektrische Beleuchtung installiert wird. Der Erzähler kratzt das letzte Geld zusammen, um sein Zimmer zu renovieren, doch seine Wirtin schneidet die Stromleitung durch, weil sie ihre dürftigen Räume nicht so grell beleuchtet sehen möchte – sie kann sich ihrerseits eine Renovierung nicht leisten.
Ins Deutsche übertragen wurden die Texte von Grete Willinsky. Sie ist 1906 in der Hafenstadt Libau (heute Liepāja in Lettland) geboren, die damals als Teil des Gouvernements Kurland zum Russischen Reich gehörte. Willinskys deutsche Fassungen wirken deutlich gröber als die russischen Vorlagen. Sie sind teils nicht durchgearbeitet, teils zielen sie auf den schnellen Effekt, und manchmal fehlen ganze Passagen. Trotzdem geht Soschtschenkos Komik nicht ganz verloren. Aber das, was von dieser Komik bleibt, findet sich hier in einem völlig anderen Umfeld wieder.
* * *
Anfang 1940, als das Buch bei Rowohlt erscheint, sind NS-Deutschland und die UdSSR faktisch Verbündete. Die Unterzeichnung des „deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts“ – bekannt als „Hitler-Stalin-Pakt“ – am 23. August 1939 hat die Voraussetzungen für den deutschen Überfall auf Polen geschaffen, mit dem der Krieg beginnt. Seit Oktober 1939 haben Deutschland und die Sowjetunion das Staatsgebiet der Zweiten Polnischen Republik unter sich aufgeteilt. In dieser politisch-militärischen Großwetterlage passt der Titel gut ins Programm.
Dass der Rowohlt-Verlag nach der Unterzeichnung des Pakts und dem Kriegsbeginn nur vier Monate braucht, um das Buch auf den Markt zu bringen, hängt wohl auch damit zusammen, dass die meisten Texte schon fertig auf Deutsch vorliegen. Die Übersetzerin Grete Willinsky hat 1938 bereits den Band Sowjet-Rußland in der Satire herausgegeben – bei „Dr. Hermann Eschenhagen / Ohlau“. Dieser Kleinverlag publiziert sonst unter anderem Bücher zur „Welteislehre“, einer pseudowissenschaftlichen Theorie, zu deren Anhängern Heinrich Himmler und andere führende Nazis zählen. Die sowjetischen Satiren werden hier unmissverständlich in den Dienst der NS-Propaganda gestellt. Auf der Impressumsseite des Buchs findet sich der Hinweis:
Im Vorwort dieser Ausgabe stimmt Willinsky die Leserschaft entsprechend ein:
An der Spitze des Rätereiches aber stand eine volksfremde Gewalthaberkaste, die mit der programmmäßigen Vernichtung des Individuums und des Eigentums auch das echte Gemeinschaftsgefühl aus dem russischen Volk ausrottete. Aus den Mietshäusern der Städte, aus den Kommunalwohnungen, in denen auch heute noch ganze Familien in einem Zimmer zusammengepfercht leben, stieg wie übler Geruch Zwietracht empor. Und kein Dichter kann dieses lichtlose Leben des Hasses, der Enge und der Zerstörung zu einem „Hohen Lied“ bolschewistischer Gemeinschaft erklären.
Nachdem die NS-Führung kurz vor Kriegsbeginn ein taktisches Bündnis mit der „volksfremden Gewalthaberkaste“ geschlossen hat, ist die Zeit nun offenbar günstig, die Texte bei einem großen Publikumsverlag unterzubringen. Erweitert um neue Übersetzungen, erscheinen sie in professionellerer Aufmachung bei Rowohlt, abgestimmt auf die veränderte Lage und das verlegerische Umfeld.
In ihrem Nachwort findet Grete Willinsky den dazu passenden Tonfall. Jetzt heißt es geradezu verständnisvoll:
Registrierung der Gegenwart in ihren Erscheinungsformen ist der hervorstechendste Zug der neuen russischen Dichtung überhaupt. […] Und weil in den neuen Verhältnissen und werdenden Formen oft noch nicht erreicht ist, was erreicht werden soll, geschieht die Registrierung bei Sostschenko, Katajew und anderen eben in satirischem, ironischem Ton.
Das Buch wird ein Erfolg, die erste Auflage von 3000 Exemplaren ist innerhalb weniger Tage ausverkauft. Zu den begeisterten Lesern gehört der Berliner Korrespondent der US-Nachrichtenagentur United Press, Howard K. Smith, der einen ausführlichen Beitrag darüber schreibt. In seinem 1942 erschienenen Bericht Last train from Berlin gibt er den Kommentar einer deutschen Bekannten wieder, der er sein Exemplar ausleiht: „Unglaublich. Kein deutscher Schriftsteller könnte so etwas über Deutschland schreiben. Er würde einen Kopf kürzer gemacht.“ Smith meint, das Buch habe eher dazu beigetragen, das Ansehen der Sowjetunion in Deutschland zu heben. Das mag für einen Teil des Lesepublikums zutreffen. Andere hingegen lesen es mehr oder weniger als realistische Beschreibung sowjetischer Zustände und sonnen sich im Gefühl der eigenen Überlegenheit. Solche Leser finden sich nicht zuletzt in der NS-Führung.
Bildnachweis:
Beitragsbild, Buchcover und Buchausschnitt: Anselm Bühling.
Porträtfoto Michail Soschtschenko: Gemeinfrei, via Wikimedia Commons.
Genosse im Strudel der Zeit – Teil 1 bis 4
1 – Ein Buch macht Karriere
2 – Lektüre für den Führer
3 – Für fremd erklärt
4 – Neue Gewänder
Ein Hinweis für die Redaktion: Wäre es nicht im Sinne des Lesepublikums (und sicher auch im Interesse der Redaktion), den jeweils folgenden Teil dieser Serie auch am Fuß der jeweiligen Lieferung zu verlinken? Dieses “wieder nach oben scrollen”-Müssen, um die Fortsetzung des Textes lesen zu können, ist doch sehr langwierig und wenig intuitiv.
Vielen Dank für den Hinweis! Sie haben völlig recht, und wir haben das gleich umgesetzt.