„Öffnen Sie das Buch auf Seite 99, und die Qualität des Ganzen wird sich Ihnen offenbaren.“ (Zitat zugeschrieben Ford Madox Ford)
Wir lesen mit der Lupe und schauen, was der Text auf dieser Zufallsseite leistet.
Warnung: Der Page-99-Test ersetzt keine Rezension.

Seit sechs Jahren mache ich nun schon den Page-99-Test, und wenn mich jemand auf einer Literaturveranstaltung erkennt, ist der Running Gag fast unausweichlich: Ob sich jetzt die Verlage mit der Seite 99 besonders Mühe geben würden? Ich könnte jetzt sagen, dass ich solchen Absichten bei Uwe Tellkamps neuem Roman Der Schlaf in den Uhren zuvorkommen wollte, indem ich diesmal nicht die Seite 99, sondern die Seite 97 unter die Lupe lege.

In Wahrheit war es ein Zufall: Ich hatte für den Test das PDF als Grundlage genommen, und in der PDF-Zählung erscheint die gedruckte Seite 97 als Seite 99. Den Irrtum habe ich erst bemerkt, als ich meinen Test bereits geschrieben hatte. Doch da die Seite 99 eine Zufallsseite ist, kann ich genauso gut die Seite 97 nehmen.

Dies umso mehr, als ich auf der Seite 97 in eine Art stilistisches Wespennest gestochen habe. Diese Seite besteht nämlich ausschließlich aus „Wenn“-Sätzen. Begonnen haben sie vermutlich bereits auf der Seite davor, wir springen oben auf der Seite 97 mitten in das Satzgefüge hinein.

Die drei „Wenn“-Sätze auf dieser Seite haben etwas Ausuferndes. Sie erstrecken sich jeweils über 6 oder 8 sowie 17 Zeilen. Wenn ich die drei Sätze auf ihr syntaktisches Gerüst zurückstutze, erhalte ich folgende drei Satzteile:

  • wenn die Initiative „Rote Zora“ entdeckt, dass ihr Kampf noch mehr Unterstützung braucht als gedacht
  • wenn der Bürgermeister auf die Unverzichtbarkeit eines Projekts hinweist
  • wenn draußen Kulturschaffende demonstrieren

Der ganze Rest der Sätze besteht aus Anhängseln dieser Grundaussagen.

***

Fangen wir mit dem ersten Wenn-Satz an, es ist mit 8 Zeilen der zweitlängste.

wenn, sagt mir der Operative Vorgang „Marschallin“, die mit öffentlichen Mitteln geförderte Initiative „Rote Zora“ entdeckt, dass ihr liebens- und lobenswerter Kampf gegen die Feinde unserer Gesellschaft noch mehr Unterstützung braucht als gedacht

Offenbar hat der Ich-Erzähler die Informationen vom Operativen Vorgang „Marschallin“ erhalten – eine wohl sarkastisch gemeinte DDR-Anspielung, „die Feinde unserer Gesellschaft“ würde dazu passen. Auch der „liebens- und lobenswerte Kampf“ dürfte ironisch gemeint sein.

Doch das ist nur die erste Hälfte des Satzes. Bei der zweiten Hälfte handelt es sich sozusagen um einen Wenn-Satz zweiter Ordnung. Die Stadträtin springt der Initiative „Rote Zora“ mit finanzieller Unterstützung bei:

[wenn] die Stadträtin in feudaler Herrlichkeit eine Verdopplung fordert und auf den Einwand einer anderen Stadträtin, dies seien immerhin Steuergelder, nur erwidert, das Geld sei doch da und brauche nur abgerufen zu werden.

Ein glasklar geschilderter Fall von Selbstbedienungsmentalität.

***

Der zweite Wenn-Satz ist mit 17 Zeilen der längste auf der Seite. Er wuchert derart unübersichtlich, dass man beim ersten Lesen kaum folgen kann, daher zerlege ich den Satz in seine Einzelteile:

wenn der Bürgermeister auf die Unverzichtbarkeit, Krise hin oder her, eines städtischen Projekts hinweist

eines neuen Rathauses nämlich, das der Bürgermeister sich in den Kopf gesetzt hat,

weil ein Politiker nicht mit Streichungen, sondern nur mit Bauwerken bleibt,

einem neuen Rathaus zum Beispiel,

und das also gebaut werden muß, koste es, was es wolle,

die Stadt nun aber Schulden hat und Haushaltssperre, man also keine Schulden als Stadt aufnehmen darf

und in dieser Zwickmühle auf einen Kniff verfallen ist,

nämlich eine städtische Gesellschaft zu gründen, unter deren Fittichen das Rathaus gebaut werden kann

eine sogenannte hundertprozentige und also ganz natürliche Tochter

deren Verhältnisse undurchsichtig, aber mit der Eigenschaft versehen sind, Schulden aufnehmen zu dürfen

praktischerweise sitzt man auch gleich selber im Aufsichtsrat und bekommt dafür noch eine kleine Aufwandsentschädigung

Das ist eine Steigerung der Selbstbedienungsmentalität, die uns im vorhergehenden Satz vorgeführt wurde, das grenzt an die Veruntreuung öffentlicher Gelder.

Das Problem dieses Satzes besteht in seiner Form. Die ganze Rhapsodie der Unverschämtheit, die dieser Bürgermeister sich leistet, baumelt an dem Wörtchen „wenn“. Am Ende wird noch ein Hauptsatz drangehängt: „praktischerweise sitzt man auch gleich selber im Aufsichtsrat“. Das ist sozusagen das Tüpfelchen auf dem i der ganzen Überdehnungsstrategie. Sehr anstrengend zu lesen.

***

Der letzte Wenn-Satz auf dieser Seite ist der kürzeste. Er beginnt geradezu brav:

wenn draußen Kulturschaffende demonstrieren, da einer zum Leiter des Kulturamts gewählt wurde, der ihnen nicht gefällt

In der zweiten Satzhälfte schickt uns der Autor dann auf eine Achterbahn:

und die mit dem Rückgrat diesen den Anfängen wehrenden Widerspruch zur Demokratiefindung berücksichtigen müssen und die Wahl annullieren

Eigentlich steht da nur:

  • die [Kulturschaffenden] müssen den Widerspruch zur Demokratiefindung berücksichtigen und die Wahl annullieren.

Über den „Widerspruch zur Demokratiefindung“ stolpere ich auch in der reduzierten Version. Dass etwas im Widerspruch zur Demokratie stehen kann, ist klar, doch im Widerspruch zu ihrer Findung? (Kann eine Demokratie gefunden werden?) Damit nicht genug, wir haben es auch noch mit einem „den Anfängen wehrenden Widerspruch“ zu tun, und die Kulturschaffenden, die diesen Widerspruch berücksichtigen müssen, sind „die mit dem Rückgrat“. Aua.

Die Seite endet mit den Worten:

wenn all das

Ich traue dem Autor zu, dass er jetzt noch ein paar Seiten weitermacht mit seinen „Wenns“, und wer weiß, wie lange diese Wenniade vor der Seite 97 schon andauert… Das Entscheidende ist der Ton: Diese „Wenn“-Kaskade (die uns das erlösende „dann“ übrigens mit genüsslicher Absicht vorenthält) ist konsequent im Empörungsmodus geschrieben. Was hier zelebriert wird, ist der Brustton des: „so weit ist es also gekommen…“

Auch wenn es sich hier um Figurenrede handelt: Wenn es in diesem Duktus weitergeht, würde ich nicht weiterlesen wollen.


P.S.

Da ich mit der Seite 97 schon am Regeln Brechen bin, habe ich mir erlaubt, überdies vor- und zurückzublättern.

Zuerst die gute Nachricht:

[wenn all das] im Grunde nur um eines kreist: Pfründe – willkommen im Sandkasten, dort, wo der Gemeinsinn beginnt.

Mit diesem Satz oben auf der Seite 98 hat das alles tatsächlich ein Ende.

Nun die schlechte Nachricht: Die Wenniade beginnt bereits auf Seite 95. Am schlimmsten ist die Seite 96: Dort gibt es einen Wenn-Satz von sage und schreibe dreißig Zeilen, und ich bin froh, dass mich der Zufall vor der Analyse dieses Monsters bewahrt hat. (Übrigens endet auch dieser überlange Wenn-Satz mit Hauptsätzen, die den syntaktischen Rahmen sprengen.)

Bei den Seiten 95-98 handelt es sich um ein kompaktes Kapitel mit dem Titel:

Der Machtkomplex im Umriß des Moments.
Der Sandkasten

Damit ist der Rahmen gesetzt: Es geht um die Analyse von Macht, und zwar in der westlichen Demokratie.

Das gesamte Kapitel ist redundant. Sechs Mal setzt der Ich-Erzähler auf den drei Seiten zu einem „Wenn“ an, dabei hat man spätestens beim zweiten Mal kapiert, wie der Hase läuft. Uwe Tellkamp lässt seinen Ich-Erzähler die penetrantest mögliche Wasserfallprosa liefern: Hier spricht ein besorgter Bürger im Empörungsmodus.

Erwartet der Autor, dass ich beim Lesen von seiner Figur genervt bin (was der Fall ist), oder soll es Identifikationslektüre sein? Das bringt mich zur entscheidenden Frage, die sich anhand dieser Textprobe allerdings nicht beantworten lässt: Führt uns Uwe Tellkamp seinen Ich-Erzähler als ein Exemplar der Spezies Wutbürger vor, oder spricht ihm dieser aus dem Herzen?


Angaben zum Buch

Uwe Tellkamp
Der Schlaf in den Uhren
Roman
Suhrkamp 2022 · 904 Seiten · 32 Euro
ISBN: 978-3518431009

Bei yourbook shop oder im lokalen Buchhandel

Unterstützen Sie uns auf Steady

Teilen über:

Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

Ein Kommentar

  1. Für mich ist der Seite-99-Test gegenüber den AutorInnen fair und ein Spaß zu lesen. Der Text, um den es hier geht, scheint ja unter anderem ermüden zu wollen. Wenn ich Texte lese, die ermüden wollen, frage ich mich, ob über diesen Effekt dargestellt werden soll, dass am Anfang des Schreibens eine Belastung gestanden hat. Und ich frage mich, ob die AutorInnen im Text einen Spaß oder eine Qual anbieten wollen.

    Antworten

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert