Gabriele Tergit (1894-1982) emigrierte 1938 nach London, wo sie bis zu ihrem Tod lebte. Sie hat drei Romane geschrieben: Käsebier erobert den Kurfürstendamm erschien 1931 und wurde sogleich ein Erfolg, Effingers fand 1951 wenig Beachtung, wurde jedoch 2019 mit großem Erfolg neu aufgelegt. Ihr dritter und letzter Roman So war´s eben erschien erstmals 2021, über ein halbes Jahrhundert nach seiner Vollendung.

Die Publikationsgeschichte dieses dritten Romans ist abenteuerlich, und über sein Grundthema, nämlich die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland ab dem Kaiserreich, verrät diese Geschichte fast genauso viel wie der Roman selbst. Ein Verlag nach dem anderen lehnte Tergits Roman in den 1960er Jahren ab. Fritz J. Raddatz, damals Lektor bei Rowohlt, begründete seine Ablehnung ästhetisch wegen eines vermeintlich altbackenen Stils. Im Ablehnungsbrief des Verlags Kiepenheuer und Witsch steht gar, Gabriele Tergit errichte mit ihrem Roman „eine Mauer gegen das deutsche Volk“. Diese Dinge erfährt man in Nicole Hennebergs vorzüglichem Nachwort.

Wie sieht sie nun aus, diese „Mauer gegen das deutsche Volk“, stilistisch und thematisch?

Journalistische Epik

Stilistisch bleibt Raddatz‘ Urteil rätselhaft. Gabriele Tergit war bis zu ihrer Emigration aus Deutschland im Jahr 1933 Gerichtsreporterin. Ihren im Journalismus geschulten sachlichen Schreibstil verwendet sie in dem Roman, um ein episches Thema zu bewältigen. Wie schon bei Effingers handelt es sich bei So war’s eben in großen Teilen um einen Dialogroman: Auch vor Gericht spielt sich ja das Drama in mündlicher Rede ab. Es ist ein Roman mit vielen gleichberechtigt agierenden und sprechenden Personen, Handlung wird über die direkte Rede geschildert und kommentiert, das beigefügte Personenverzeichnis, wie man es auch von Dostojewskis Romanen kennt, ist notwendig. Man kann das Verfahren zusammenfassend als journalistische Epik beschreiben. Das macht den Roman ungemein lesbar, zugleich wird das Thema vergegenwärtigt, wird die Vergangenheit in die Gegenwart geholt.

Was ist im Jahr 1933 mit den Deutschen passiert? Und vor allem: Wann hatte es angefangen? Das ist Gabriele Tergits Lebensthema seit 1933. Für das deutsche Selbstverständnis, in dem die Jahre 1933 bis 1945 mit dem übrigen Deutschland nichts zu tun haben sollen, ist ihre Antwort ernüchternd: Die Ausgrenzung der deutschen Juden begann im Kaiserreich, auf der Höhe der Macht Deutschlands. Darüber lässt Tergit ihre Figuren in diesem Roman schärfer und genauer reflektieren als in Effingers.

Der jüdische Standpunkt

Exemplarisch dafür ist ein Gespräch beim Familientreffen der Fabrikantenfamilie Markus über eine Neuerscheinung des Jahres 1901:

Siegmund bog ab, sprach von einem neuen Roman, ‘Buddenbrooks’: „Bisschen viel Krankheitsbeschreibung, und bisher haben wir die Kunst für höher als Kaufmannstum gehalten, aber der neue Schriftsteller Thomas Mann findet Beschäftigung mit Kunst ein Verfallszeichen.“

Manfred Markus wirft ein:

„Der einzige Jude, der darin vorkommt, isst Gänseleberpastete auf seiner Schulsemmel und verdrängt die edlen Patrizier durch seine Geschäftstüchtigkeit.“

Ausgerechnet der Jude Siegmund Jacoby verteidigt Thomas Mann:

„Doch ein guter Roman“, sagte Siegmund, „man muß nicht alles vom jüdischen Standpunkt aus sehen.“

Völkisches Gift

Das wird für die jüdischen Figuren dieses Romans, die sich als deutsche Patrioten fühlen, nicht so bleiben. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft wird sie zu diesem Standpunkt zwingen. Spätestens im Ersten Weltkrieg trifft diese Illusion auf die Wirklichkeit. Gabriele Tergit zeigt das Zerschellen der Illusionen so knapp, wie es nur geht:

Schlacht um Verdun. Stern war stolz, es zum Vize gebracht zu haben, Jacoby wurde bitter, nicht befördert, dachte „als Jude“.

Gabriele Tergit beschreibt nicht nur deutsche Juden und ihre patriotischen Illusionen, sondern auch das völkisch-geopolitische Gift, das sich seit dem Kaiserreich in der deutschen Mehrheitsgesellschaft ausbreitete. Am trefflichsten gelingt ihr dies in der Person des völkischen Intellektuellen Friedrich Wilhelm von Runke, eine Figur, die man sich gut im Dunstkreis der sogenannten Konservativen Revolution vorstellen kann. Ohne große Zusätze, fast eins zu eins, könnte man sich ihn heute als Schriftsteller des rechtsextremen Antaios-Verlages von Götz Kubitschek denken.

Gabriele Tergit lässt von Runke schwadronieren:

Wir stehen nicht nur vor der Neuordnung Europas, sondern […] vor der Neuverteilung des Erdballs. Fest steht, daß Deutschland die tragende Stellung im eurasischen Raum inne hat, so bedrängt diese heute auch noch erscheinen mag. Neue Weltwende wirft ihre Schatten voraus.

Verfolgung und Flucht

Das ist die Stimmung, die zum 30. Januar 1933 führt. Eindringlich schildert Gabriele Tergit die Zeit der Verfolgung und der Flucht, ihr journalistisches Verfahren ist dem Stoff gewachsen. Die engen Wohnungen der Emigranten, die prekären Lebensverhältnisse, die ständig wechselnden Umgebungssprachen, die den schulpflichtigen Kindern zu schaffen machen – all das hat sie selbst erlebt.

Auch die Kluft zwischen der deutschen und der jüdischen Emigration wird sichtbar, etwa im Gespräch zwischen dem Kommunisten Schwarz und dem Juden Otto Jacoby.

„Australien ist ganz gut“, sagte Otto.
„Ich weiß“, sagte Schwarz.
„Vor Ihnen sollte ich es gar nicht sagen, aber die katholische Kirche rettet Tausende unter der Bedingung der katholischen Taufe. Die Pfarrer, die Juden taufen, tun es unter Lebensgefahr. Helden. Aber man kann Menschen nicht unter Bedingungen retten.“
„Damit muß man sich abfinden“, sagte Schwarz lächelnd, fand Otto kindisch.
„Muß man? Ein Mensch fällt ins Wasser. Treffen Sie ein Abkommen, bevor Sie ihn herausziehen?“
„Jedes Land nimmt nur die Leute, die ihm nützen.“
„Genau. Nur ein Schritt zu Hitler. Unter dem Gesichtspunkt des Nutzens muß man Alte und Kranke umbringen.“

Es liegt nahe, dass die Autorin einst selbst Zeugin eines solchen Gespräches war.

Fatales Nützlichkeitsdenken

Es gehört zu den moralischen Stärken des Romans, dass Gabriele Tergit die Morde Stalins nicht verschweigt, so ist ihr das Ende des Kommunisten Schwarz in Stalins Gulag ein Kapitel wert.

Stalins Morde führt sie, ebenso wie die Morde des Nationalsozialismus, auf das zurück, was aus ihrer Sicht jedem politischen Mord zugrunde liegt: Zu der ideologischen Ablehnung ganzer Menschengruppen kommt das Bewerten von Menschen nach reinen Nützlichkeitskriterien.

Grete Jacoby – im Roman das alter ego Gabriele Tergits – resümiert:

„Wenn man die Menschen nach ihrer Nützlichkeit wertet, werden die meisten umgebracht.“

Auch nach dem Krieg verschwindet dieses Denken nicht. Über die Rolle der Juden in Deutschland muss Grete Jacoby sich Sätze wie diese anhören:

Frau Jacoby, Sie sind immer ein gerechter Mensch gewesen, die Juden haben doch eine zu große Rolle im deutschen Kulturleben gespielt. Kein Volk kann sich überfremden lassen.

Grete Jacoby denkt dann nur:

[…} sie saß in der Wohnung, in der sich ihre Mutter vor der Deportierung das Leben genommen hat. Sie kam in die Stadt, aus der sie und ihre Freunde vertrieben worden waren, und sie wurde angegriffen.

Aktualität des Romans

Am Ende des Romans treffen sich die Überlebenden in New York wieder, der Stadt, die im und nach dem Krieg gewissermaßen, neben Los Angeles, das Erbe Berlins angetreten hat als Heimat für die heimatlos Gewordenen. Auch hier überwiegt die Trauer: Randelhofer – ein Zeitungskollege aus Berlin – ist verhungert. Martin Zuckermann bemalt während des Gesprächs Porzellanuhren: Heimarbeit, um zu überleben. Die „Logenplätze des Exils“, von denen die Mitglieder einer selbsternannten „inneren Emigration“ hin und wieder sprachen, waren für die meisten ein Sperrsitz im Parkett ganz außen. Das wird in Gabriele Tergits Roman immer wieder deutlich. Nach dem Krieg gibt es kein Zurück. Nichts wird auf Anfang gestellt. Das jüdische Berlin, das jüdische Deutschland war tot.

Man hat das zwanzigste Jahrhundert als das Jahrhundert der Flüchtlinge beschrieben. Das war zumindest voreilig. Wie sich nun zeigt, knüpft das einundzwanzigste Jahrhundert da an, wo das zwanzigste aufhörte.

Und das macht Gabriele Tergits Aktualität aus.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Herwig Finkeldey, Bahnübergang

Angaben zum Buch



Gabriele Tergit
So war’s eben
Roman
Schöffling 2021 · 624 Seiten · 28 Euro
ISBN: 978-3895614743

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Von Herwig Finkeldey

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