Walter Benjamin spricht in seinen Thesen zum Begriff der Geschichte vom Trümmerfeld der Vergangenheit. Der Engel der Geschichte könne die einzelnen Trümmer deshalb nicht wieder zusammenfügen, da ihn ein Sturm fortträgt, der aus dem Paradies herüber weht und den man den Fortschritt nennt.
Das gegenwärtige Trümmerfeld der bombardierten ukrainischen Städte wächst, nicht nur durch den Beschuss aus der Luft, sondern auch von unten her, heraus aus einem weiteren Feld, das manche als Traumafeld bezeichnen, welches sich über die Jahrhunderte in der gesamten Region zwischen Riga, Lwiw und Wladiwostok ausgebildet hat. Darüber wird in diesen Tagen kaum gesprochen, und doch wäre gerade dies so dringlich, wenn wir der Spirale von Gewalt und Hass entkommen wollen.
Zurück zum Eisernen Vorhang
Die ersten zwei Wochen des Krieges haben in mir schieres Entsetzen, Angst und Trauer ausgelöst. Die Trauer trat zunehmend in den Vordergrund: Trauer um das Leid der Menschen und die im Krieg Getöteten und zugleich um den Verlust der Welt, wie wir sie kannten. Trauer darüber, dass die Logik des Militärischen uns übertölpelt und jene Welt pulverisiert, die seit den 1970er Jahren unter Namen wie Entspannung, friedliche Koexistenz, Wandel durch Handel die Hoffnung auf Verständigung und sogar Partnerschaft zwischen Ost und West genährt hatte. Trauer darüber, innerhalb von wenigen Stunden sich zurück katapultiert zu finden in die Welt des Eisernen Vorhangs und der atomaren Bedrohung. Plötzlich in eine scheinbare Alternativlosigkeit von Waffenlieferungen und Aufrüstung gestoßen zu sein.
Dann gab es einen ersten Lichtblick: ein Interview mit Alexander Kluge in der ZEIT eine Woche nach Kriegsausbruch. Krieg, so Kluge, sei unberechenbar, unbeherrschbar und nebelhaft. Man könne Krieg nicht durch Krieg besiegen. Und dann: „Man kann den Krieg nur beenden, wenn man den Möglichkeitsraum findet, in dem Frieden möglich wäre.“ Wo öffnen sich also Möglichkeitsräume? Oder – ein beliebter Topos bei Kluge – die Notausgänge?
Verstrickung durch Ignoranz
Schauen wir einmal auf das unterirdische Traumafeld, das sich rhizomartig von Ost nach West erstreckt, auch über die Elbe hinaus. Auch wir sind darin verstrickt, ob wir es wahrnehmen möchten oder nicht. Im Jahre 1941 haben ukrainische und litauische Parteien und Militärverbände die Nazis als Befreier begrüßt, mit deren Hilfe sie die Herrschaft der Sowjets abzuschütteln hofften. Wieder einmal wurde der Ritter, der auszog, den Drachen zu bekämpfen, im Zuge des Kampfes selbst zum Drachen.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ging unsere Verstrickung durch Ignoranz weiter. Die politischen Eliten des Westens wollten nichts hören von den Traumata des Ostens, sie setzten auf Fortschritt und wollten siegen und vergessen. Die Integration des westlichen mit dem östlichen Europa ist misslungen, weil auf beiden Seiten der Sturm vom Paradies stärker war als die Mühsal, Scherben aufzulesen und hier und da zusammenzufügen. Ich selbst kenne gut die polnischen Befindlichkeiten, die russischen dagegen weit weniger. Über die Ukraine wusste ich bisher nicht allzu viel außer den Klischees einer scharfen kulturellen Trennlinie zwischen dem westlichen und dem östlichen Teil des Landes.
Kosmische Katastrophen
Vor ein paar Tagen nun habe ich auf Empfehlung eines Freundes den Essayband der ukrainischen Schriftstellerin Oksana Sabuschko gelesen, der vor zehn Jahren unter dem Titel Planet Wermut erschienen ist. Die Essays sind von einer beschwörenden und mitreißenden Poesie getragen, wie man es selten antrifft, und die Lektüre wirkte wie das Entzünden einer ganzen Batterie von Leuchtstrahlern. Plötzlich schien ich zu verstehen, worum es in diesem Krieg geht: Die Ukraine ist die schwelende Wunde im kollektiven Gedächtnis Russlands.
In Sabuschkos Essays tut sich ein schockierend klarer und tiefer Blick in die Seelenlandschaft der Ukraine auf. Im Mittelpunkt stehen zwei „kosmische“ Katastrophen: Der als Holodomor bezeichnete Hungermord der Jahre 1932/33 und die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl des Jahres 1986. Der Holodomor existierte in der offiziellen Propaganda der Sowjetunion genauso wenig, wie es heute in den russischen Staatsmedien einen Krieg gibt. Die Ermordung von 4 Millionen Menschen (oder 6 oder 8 oder 10 Millionen?) durch die Liquidierung der Bauern und die Beschlagnahme der letzten Lebensmittel hat in der russischen Geschichtsschreibung bis heute so gut wie nicht stattgefunden.
Der Gott im Kreml
Weshalb nun bezeichnet Sabuschko den Holodomor als kosmische Katastrophe, vergleichbar mit einer atomaren Auslöschung? Seit Jahrhunderten, so sagt sie, habe es im Bewusstsein der Ukrainer so etwas wie ein Grundvertrauen in die Natur und die göttliche Schöpfung gegeben: Was immer auch an Krieg und menschengemachter Gewalt über das Land hereinbrechen würde – die Menschen auf diesem Flecken Erde würden es überleben. Denn das Land sei durch die Natur in einzigartiger Weise begünstigt, hier befindet sich ein Viertel der weltweiten Ressourcen jener ungewöhnlich fruchtbaren Schwarzerde. Sabuschko schreibt, dass es Stalin, neben den polit-ökonomischen Zielen der Kollektivierung, vor allem darum gegangen sei, bei den Menschen der Ukraine dieses Grundvertrauen in die Natur und in Gott zu zerstören. Er selbst, Stalin, sei schließlich Gott, der den Menschen die Nahrung gibt – und sie ihnen eben auch nehmen kann.
Den nationalen Widerstand der Ukrainer im Allgemeinen und den sozialen der Bauern im Besonderen zu brechen, war fraglos das Ziel des Holodomor, doch damit jeglicher Widerstand tatsächlich auf Dauer ausgerottet sei, bedurfte es eines besonders grausamen Zeichens an die Menschen. Etwa in dieser Weise: Natur und Gott werden euch nicht mehr helfen, ihr habt buchstäblich keinen Boden mehr unter den Füßen. Entweder ihr anerkennt den neuen Gott im Kreml, oder des Grauens ist kein Ende.
Ein therapeutischer Schock
Was darauf folgte, so Sabuschko, sei nur noch lähmende Angst gewesen – und zwar für eine Zeitspanne von fünfzig Jahren. Menschen hätten die Sprache verloren. Wen wundert es, denn es durfte über das Geschehene nicht gesprochen werden. Okasana Sabuschko berichtet von einer Frau, die zu jenen gehörte, denen es 1933 die Sprache verschlagen hatte und die plötzlich im Jahre 1986 wieder anfing zu sprechen, im Angesicht der neuen Katastrophe, die der Reaktorunfall von Tschernobyl darstellte. Dieser Unfall wirkte wie „ein therapeutischer Schock“, so Sabuschko. Dieser Ausdruck bezieht sich zum einen auf die Reaktivierung eines alten Traumas, das nun plötzlich in der Erinnerung so präsent wird, dass es benannt werden kann. Es gab aber noch andere Elemente dieses – letztlich einen Ausweg weisenden – Schocks: Die Angst war gewichen, sie wurde überblendet von der Wut auf jene zur Lächerlichkeit geschrumpften Politbüro-Kader, die im Gegensatz zu 1933 nichts mehr verheimlichen konnten und nun stotternd und unbeholfen aus ihren Büros vor die Kameras stolperten.
Das Wort Tschernobyl bedeutet Wermut, darauf bezieht sich auch der Titel Planet Wermut. „Und der dritte Engel blies seine Posaune“, heißt es im Johannes-Evangelium, „und es fiel ein großer Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel und fiel auf den dritten Teil der Wasserströme und auf die Wasserquellen. Und der Name des Sterns hieß Wermut.“ Innerhalb von Stunden, so Oksana Sabuschko, sei dieser Bibeltext in Kiew von Mund zu Mund getragen worden. Keiner habe gewusst, wer ihn zuerst ausgesprochen hatte, aber er wurde zum Menetekel für das kommunistische System, eine biblische Prophezeiung hatte auf einmal mehr Gewicht als jedes Wort aus den Zentren der sowjetischen Macht.
Die russische Wunde
Dieser Text führt mich nun noch einmal zu Alexander Kluge und seiner Grundannahme: Krieg könne nicht durch Krieg besiegt werden, sehr wohl aber gebe es in jeder Situation Möglichkeitsräume jenseits einer Spirale von Gewalt und Hass, wie sie durch politische und militärische Aktionen am Laufen gehalten wird. Kluge spricht dabei oft von der „Lücke, die der Teufel lässt“ oder dem „Notausgang“. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl könnte man als eine solche „Lücke des Teufels“ verstehen, so könnte man Oksana Sabuschko interpretieren. Mit dem therapeutischen Schock von 1986 war ein Bann gebrochen. Die Angst wich, die Sprache kehrte zurück, und plötzlich kam etwas ganz und gar Unerwartetes in Bewegung – bis hin zum Kollaps des sowjetischen Systems.
Was könnte dies für die Gegenwart bedeuten? Die weitere Aufrüstung der Ukraine mag irgendwann zu einem Waffenstillstand führen – um welchen Preis auch immer. Damit wären jedoch die Wunden des Traumafeldes nicht nur nicht geheilt, sondern vertieft.
Die Frage stünde weiter im Raum, wodurch eigentlich die russische Führung sich von Seiten der Ukraine bedroht sieht. Wäre die Ukraine eine Person, der Putin in die Augen blickte: Was sähe er? Ist es ähnlich wie beim Blick des Bären in die Augen eines Menschen, in dem das Tier einen anderen Teil seiner selbst erkennt, der ihn so erschreckt, dass er den Menschen angreift? Beim Blick in die Augen der Ukraine lodert dem Betrachter das große Verbrechen entgegen, die nie geheilte Wunde des Holodomor, die an die eigene, die russische Wunde rührt, an schwere Schuld und Scham, seit fast einem Jahrhundert schwärend und beschwiegen. Liegt in dem Entsetzen im Angesicht der Wunde, die Russland sich durch das begangene Verbrechen selbst zugefügt hat, vielleicht die verborgene Wurzel jener Obsession, das Geschaute zu vernichten?
Die Arbeit am Trauma
Wäre es so, dann werden die politischen und militärischen Lösungsansätze dieses Konflikts versanden. Dann bedarf es tatsächlich einer anderen Sprache, die es der russischen kollektiven Seele erlaubt, sich den Verbrechen der Stalin-Ära zu stellen und diese Zeit nicht weiter zu glorifizieren. Kunst und Spiritualität hätten ihre therapeutische Wirkung zu bezeugen. Ich zitiere noch einmal Alexander Kluge. Es sei absurd, so sagte er kürzlich, wenn Anna Netrebko nicht mehr auftreten dürfe – sie solle gerade jetzt umso mehr auf die Bühne und Tschaikowskys Oper „Mazeppa“ singen, um die Menschen zum Weinen zu bringen. Dann hätte man einen Moment der Trauer: „Wir können trauern, können Versteinertes verflüssigen. Das Auge fängt an zu laufen und verflüssigt den Blick. Ist das Teleskop oder die Träne der bessere Verstärker des Auges? Die Kunst würde antworten: die Träne. Die Wissenschaft würde Ihnen sagen, selbstverständlich das Mikroskop, das Fernrohr und die Brille. Beide Antworten sind wahr. Aber um Emotion mit Einsicht zu verbinden, dazu ist Trauer nötig.“
Die Arbeit am Trauma wird nur durch den Schmerz hindurch gelingen. Auch wenn dieser Weg sich lang erstrecken mag, auf lange Sicht ist er derjenige, der den Frieden verheißen kann.
Bildnachweis:
Beitragsbild: Ein bewaffneter Komsomolze bewacht ein Lagerhaus mit Saatgut und Versicherungsgeldern bei Charkiw (1934). Gemeinfrei, via [Wikimedia Commons]
Oksana Sabuschko
Planet Wermut
Essays
Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochwil
Droschl 2012 · 168 Seiten · 19 Euro
ISBN: 978-3854207955