Fast unmerklich hat sich das Wort Faschismus wieder in den politischen Alltagswortschatz eingeschlichen. Der Begriff ist zugleich aufgeladen und unscharf. Lässt er sich für die Debatten der Gegenwart fruchtbar machen oder soll man die Finger von ihm lassen? Und was bedeutet er überhaupt? Wir erkunden diese und weitere Fragen zum Phänomen des Faschismus in einer Reihe von Essays und Rezensionen.

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LTI steht für Lingua Tertii Imperii, die Sprache des Dritten Reichs. Das gleichnamige Buch von Victor Klemperer ist erstmals 1947 erschienen, gut zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Es ist lebendig geblieben, und leider auch aktuell. Schlagwörter wie „Flüchtlingsinvasion“ und „Bevölkerungsaustausch“ funktionieren nach einem ganz ähnlichen Muster, wie Klemperer es beschreibt: Sie sind agitatorisch – sie stellen eine Gruppe von Menschen als fremd, feindlich und potenzielle Angreifer dar. Und sie sind eingängig: Sie werden leicht übernommen, und wer sie gebraucht, muss sich nicht darum kümmern, was sie transportieren. Manchmal greift die extreme Rechte direkt auf die Sprache der Nationalsozialisten zurück – etwa, wenn der Begriff „völkisch“ wiederbelebt werden soll, wenn von „Altparteien“ und „Systemmedien“ die Rede ist oder wenn der AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen eine „Festung Europa“ fordert – ein Ausdruck, den Klemperer als „lexikalisch und begrifflich entscheidend für die LTI“ bezeichnet:

So oft der Name Europa während der letzten Jahre in der Presse oder in Reden auftaucht – und je schlechter es um Deutschland steht, um so öfter und beschwörender geschieht das – immer ist dies sein alleiniger Inhalt: Deutschland, die „Ordnungsmacht“, verteidigt die „Festung Europa“.

Victor Klemperer ist nicht der Einzige, der sich nach dem Krieg mit der Sprache des Nationalsozialismus befasst. Von 1945 an erscheinen in der Monatszeitschrift Die Wandlung Artikel zu einzelnen Ausdrücken aus der Zeit des Dritten Reichs. Die Autoren Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind stammen aus dem Umfeld der Frankfurter Zeitung, die sich bis zu ihrem Verbot 1943 eine gewisse Distanz zum NS-Regime hatte bewahren können. Einige der Wörter, über die sie schreiben – wie „fanatisch“, „charakterlich“ oder „organisieren“ – kommen auch in Klemperers LTI vor. Sternberger, Storz und Süskind veröffentlichten ihre Texte 1957 in überarbeiteter und ergänzter Fassung unter dem Titel Aus dem Wörterbuch des Unmenschen.

Anders als diese Autoren bleibt Klemperer nicht bei der Untersuchung einzelner Begriffe stehen. Er beschreibt Wirkungsmechanismen, die heute unter dem Schlagwort „Framing“ gehandelt werden, und einige seiner Beobachtungen berühren Fragestellungen der Totalitarismusanalyse oder der pragmatischen Linguistik – Forschungsansätze, die erst im Entstehen sind, als er das Buch schreibt.

Das Tagebuch als Balancierstange

Zugleich ist LTI ein sehr persönliches Buch und nicht von der Biografie des Autors zu trennen. Der 1881 geborene Victor Klemperer ist Professor für Romanische Philologie. Als Wissenschaftler jüdischer Herkunft verliert er unter den Nazis zuerst seinen Lehrstuhl an der TU Dresden, dann sein Haus und seinen Besitz und schließlich die elementarsten Rechte. Selbst die private wissenschaftliche Betätigung wird ihm unmöglich gemacht: Erst darf er den Lesesaal der Universitätsbibliothek nicht mehr benutzen, später auch keine anderen Bibliotheken mehr. Während des Krieges wird er mit seiner Frau Eva in einem „Judenhaus“ interniert. Hier leben die beiden in einem einzigen Zimmer; der Deportation entgeht Klemperer nur, weil seine Frau, die als „Arierin“ gilt, an seiner Seite bleibt. Nun ist es ihm sogar verboten, Bücher nichtjüdischer Autoren zu besitzen oder bei sich aufzubewahren. 

In dieser Situation existenzieller Bedrohung wird die langjährige Gewohnheit des Tagebuchschreibens zur „Balancierstange“, die ihm Halt gibt – auch wenn er damit sich selbst und andere einem hohen Risiko aussetzt. Das Kürzel LTI taucht zuerst im Tagebuch auf. Es kennzeichnet die Beobachtungen zur „Sprache des Dritten Reichs“ und parodiert zugleich die Abkürzungen der Nazis – von BdM und HJ über SA und SS bis zu KdF und KZ.

Abgründige Leichtigkeit

Indem Klemperer die Verhältnisse beschreibt, wird er vom Opfer zum Zeugen und Chronisten; indem er sich mit der Sprache des Dritten Reichs befasst, unterläuft er das Berufsverbot: Er macht die Mittel, mit denen er und unzählige andere unterdrückt werden, zum Gegenstand seiner Forschung. Seine Aufzeichnungen zur LTI betrachtet er ursprünglich als Materialsammlung für eine wissenschaftliche Arbeit. Aber nach dem Krieg wird ihm rasch klar, dass er angesichts zerstörter Bibliotheken und Forschungseinrichtungen sowie seiner begrenzten Kräfte nicht in der Lage sein würde, ein Grundsatzwerk zu diesem Thema zu schreiben. Stattdessen beginnt er schon im Sommer 1945 in Dresden, kurz nach der Rückkehr in sein Haus, mit der Arbeit an einem Buch. Zwei Jahre später erscheint LTI – Notizbuch eines Philologen beim neu gegründeten Berliner Aufbau Verlag.

Es besteht aus 36 kurzen Kapiteln – jedes davon ein kleiner, in sich abgeschlossener Essay, der persönlich Erlebtes mit Gelesenem und Berichtetem verbindet. Die Erinnerung ist noch frisch, und die Tagebuchaufzeichnungen fließen direkt in den Text ein. Vor seiner Universitätslaufbahn war Klemperer Publizist und Kulturjournalist. Sein Stil ist elegant und von einer Leichtigkeit, die abgründig wirkt, wenn man sich vergegenwärtigt, was der Autor durchgemacht hat und in welcher Situation er das Buch schreibt: Er ist erst wenige Wochen zuvor erschöpft und ausgehungert nach Dresden zurückgekehrt, die Stadt ist zerstört, die Versorgungslage katastrophal. Das ganze Grauen der Vernichtungslager wird nach und nach bekannt, und die ehemaligen Nazis und Mitläufer beginnen sich in der Nachkriegssituation einzurichten – einige fliehen in den Westen, andere arrangieren sich mit der sowjetischen Besatzungsmacht. Tag für Tag wird Klemperer von früheren NSDAP-Mitgliedern aufgesucht, die ihn um ein Entlastungsschreiben bitten. Die Mörder sind unter uns – so fasst es der Titel des Films von Wolfgang Staudte zusammen, der 1946 in die Kinos kommt.

Herrschaft durch Einförmigkeit

Victor Klemperer hat als Romanist zu den französischen Aufklärern des 18. Jahrhunderts gearbeitet, und das zeigt sich auch in LTI. Sein Interesse an der Sprache der Nazis ist geradezu enzyklopädisch. Er unterzieht die Sprache des Nationalsozialismus einer Stilkritik, die nichts Doktrinäres und nichts Oberflächliches hat. Erst der genaue Blick auf die sprachliche Ausdrucksform legt den Inhalt frei:

Was jemand willentlich verbergen will, sei es nur vor andern, sei es vor sich selber, auch was er unbewußt in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag. Das ist wohl auch der Sinn der Sentenz: Le style c’est l’homme; die Aussagen eines Menschen mögen verlogen sein – im Stil seiner Sprache liegt sein Wesen hüllenlos offen.

Als einen Grundzug der LTI bezeichnet Klemperer ihre „Armut“: Sie verzichtet auf jegliche Nuancierung oder Variation und kommt mit einem kleinen Bestand an Schlagwörtern und Phrasen aus. Sie kennt ausschließlich den Modus der Agitation: „alles in ihr war Rede, musste Anrede, Aufruf, Aufpeitschung sein. “ Die Einförmigkeit ist für die Sprache des Dritten Reichs kein Mangel, erkennt Klemperer: Erst sie macht die Sprache tauglich zum Herrschaftsinstrument. Durch ständige Wiederholung werden den Menschen die immergleichen Ausdrucksschablonen ins Gedächtnis gestanzt. Irgendwann sind sie so alltäglich, dass selbst Gegner und Opfer der Nazis sie ganz unreflektiert verwenden:

Worte können sein wie winzige Arsendosen; sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da. Wenn einer lange genug für heldisch und tugendhaft: fanatisch sagt, glaubt er schließlich wirklich, ein Fanatiker sei ein tugendhafter Held, und ohne Fanatismus könne man kein Held sein.

Auch nach dem Ende des Dritten Reichs beobachtet Klemperer, wie junge Leute aus der Kriegsgeneration, auf die er in Diskussionen oder bei seiner Unterrichtstätigkeit am Abendgymnasium der Dresdner Volkshochschule trifft, immer wieder gedankenlos von „Heldentum“ oder „heroischem Widerstand“ sprechen. Sein Buch ist nicht zuletzt die bewusste Intervention eines politisch wachen Zeitgenossen. Klemperer will zeigen, wie sich der Geist des Nationalsozialismus auch in kleinen, unauffälligen Wendungen am Leben erhält, und er will dazu beitragen, diesen Geist den Nachkriegsdeutschen gründlich auszutreiben.

Die Sprache des Vierten Reichs

Die weitere Geschichte des Buches und seines Autors entfaltet sich im Spannungsfeld der Nachkriegssituation. Klemperer ist noch 1945 in die KPD eingetreten, weil er in ihr die einzige konsequent antifaschistische Kraft sieht. Zugleich ist unübersehbar, dass es zwischen der Sprache des Nationalsozialismus und der Sprache des Stalinismus Berührungspunkte gibt. Klemperer macht sich im Tagebuch schon bald Notizen  zu LQI – der „Sprache des Vierten Reichs“. Im Oktober 1945 notiert er:

Man erzählt, wie sehr wir alle Antifaschisten u. Demokraten geworden sind, wie sehr „gesäubert“, umgekehrt, besser gemacht wird. Man predigt gegen jeden Militarismus – u. man schlägt mit alledem genau, ganz haargenau so kraß aller Wahrheit u. Realität ins Gesicht, wie es, andersherum, aber mit gleichen, ganz gleichen Worten LTI=LQI!! ausrichten, kämpferisch, wahre Demokratie etc. etc. wie das die Nazis taten.

In LTI versucht Klemperer hingegen, einer Gleichsetzung vorzubeugen: In einem Kapitel mit der Überschrift „Wenn zwei dasselbe tun…“ grenzt er den metaphorischen Gebrauch technischer Wendungen durch die Nationalsozialisten von dem in der Sowjetunion ab: „die deutsche Metapher weist in die Sklaverei, und die russische weist in die Freiheit. “ Trotzdem bemängelt der Rezensent der im sowjetischen Sektor erscheinenden Berliner Zeitung vom 14. Februar 1948, der Autor hätte den „funktionellen Gegensatz zwischen gewissen äußerlich ähnlichen Sprachformen in Deutschland und in der Sowjetunion […] im ganzen klarer herausarbeiten sollen“.

Die LTI in der DDR

Gut vier Jahre später hält Klemperer im Berliner Klub der Kulturschaffenden den Vortrag Zur gegenwärtigen Sprachsituation in Deutschland. Inzwischen gibt es zwei deutsche Staaten und der Kalte Krieg ist in vollem Gang. Der Vortragende, jetzt Professor für Romanistik an der Humboldt-Universität und Abgeordneter der Volkskammer der DDR, lobt Stalins Auffassung der Sprache. Das Fortbestehen von Elementen der LTI stellt er als rein westdeutsches Phänomen dar: 

Die nazistische Sprachpest, von der wir uns zu befreien bestrebt sind, und halbwegs befreit haben, blüht drüben wieder auf. Ihre von hier vertriebenen Verbreiter dürfen dort ihr Idiom weiterpflegen, da es der faschistischen Gesinnung und Absicht der Vereinigten Staaten entspricht.

Im Juli 1956, als er sich mit seiner zweiten Frau Hadwig zu Studienzwecken in Paris aufhält, veröffentlicht die französische Presse Chruschtschows Geheimbericht zum XX. Parteitag der KPdSU, der einige Verbrechen Stalins benennt. „Hadwig liest ihn genau, ich werfe mit Abscheu Blicke hinein. Es ist ganz gräßlich und desillusioniert mich vollkommen“, notiert er im Tagebuch.

Offiziell bekennt Klemperer sich bis zu seinem Tod 1960 zur DDR. Gerade das macht es möglich, dass LTI dort immer wieder neu aufgelegt wird – erst im Aufbau Verlag, dann im Leipziger Reclam Verlag. Mehrere Generationen von Lesern entdecken ein Buch, in dem die Auseinandersetzung mit dem Faschismus sich nicht in Parolen und ideologischen Formeln erschöpft – im Gegenteil, es regt dazu an, über diese Art des Sprachgebrauchs nachzudenken. Und damit setzt es einen Maßstab, der die Kluft zwischen dem antifaschistischen Anspruch der DDR und ihrer politischen Wirklichkeit nur zu deutlich werden lässt.

Das Kürzel LTI verführt dazu, es beiläufig in Diskussionen fallen zu lassen, als sei damit alles gesagt. Dabei will das Buch gar nicht das letzte Wort haben. Es regt dazu an, über das Verhältnis von Sprache und Gewalt nachzudenken. Es hilft zu erkennen, wo sprachliche Klischees bewusst als Machttechnik eingesetzt werden, wie sie sich ausbreiten und welche Ideologien sie transportieren.

Victor Klemperer
LTI – Notizbuch eines Philologen
Hg. von Elke Fröhlich
Reclam 2010 · 416 Seiten · 24,95 Euro
ISBN: 978-3-15-010743-0

Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel

Auch als Taschenbuch und E-Book ( Kindle, E-Pub) erhältlich

Victor Klemperer: LTI Reclam 2010 Buchcover
Bildnachweis:
Beitragsbild: Plakatwand mit Durchhalteparolen im II. Weltkrieg
Bundesarchiv, Bild 101I-244-2316-34A / Waidelich / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de], via Wikimedia Commons

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Von Anselm Bühling

Übersetzer und Redakteur von tell, lebt in Berlin.

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