Hinweis: Am 14. Juni 2019 wird “Zazie in der Metro” im Literarischen Quartett besprochen: ZDF, 23 Uhr.
Wenn Romanautoren ihren Figuren eine naturalistisch anmutende Redeweise in den Mund schreiben, sind die Übersetzerinnen dieser Romane gefordert. Was heißt schon naturalistisch? Dialoge, die natürlich anmuten, die wie „aus dem prallen Leben“ gegriffen und daher glaubwürdig wirken, gehen oft mit zeittypischen Elementen einher. Und doch hört jeder und jede die Dialoge etwas anders, es wird also auch jede Übersetzung eines solchen Textes etwas anders klingen. Kommt allerdings noch ein historischer Abstand hinzu, droht eine wirkungsäquivalente Übersetzung zu einer „mission impossible“ zu werden.
Patinieren, modernisieren, neutralisieren?
Zunächst sind übersetzerische Grundsatzüberlegungen fällig: Will ich versuchen, den Sprachstand der damaligen Zeit in meiner Übersetzung abzubilden? Will ich radikal modernisieren, die Figuren also einfach in die Jetztzeit versetzen? Oder „entsafte“ ich die Dialoge so weit, dass sich die Frage nach dem Zeitbezug der Mündlichkeit gar nicht mehr stellt?
Jeder dieser Wege bringt unerwünschte Risiken und Nebenwirkungen mit sich. Der erste Weg erfordert eine künstliche Patinierung der Sprache und ist bestenfalls so lebensecht wie ein Kostümfilm; außerdem ist die Frage oft unlösbar, welcher Sprachstand der Zielsprache überhaupt dem Sprachstand der Originalsprache des Buches äquivalent ist. (Das US-Amerikanische von 1939 und das Deutsche von 1939 wären es jedenfalls nicht.)
Aber was dann? Im Blick auf welche Vorlage soll ich die Mündlichkeit patinieren? Der zweite Weg, die radikale Modernisierung, führt fast immer zu einem Bruch mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Originals; dass etwa ein Mädchen aus dem Neapel der 50er Jahre „cool“ und „krass“ sagt, wäre irritierend. Wenn ich nun, so das dritte Verfahren, die möglicherweise gerade wegen ihrer Kernigkeit geschätzte Redeweise des Originals verwische, riskiere ich, dass meine Übersetzung blass bleibt.
Glaubwürdige Figurensprache
Bei der Neuübersetzung von Raymond Queneaus Zazie in der Metro, dem sprachlich sprühenden Klassiker von 1959, stellte sich mir genau dieses Problem. Die Mündlichkeit taucht nicht nur in den Dialogen auf, sondern auch im Erzählertext, was 1959 aufregend innovativ wirkte. Gegen den ersten Weg sprach unter anderem die Tatsache, dass Eugen Helmlés erste Übersetzung von 1961 den deutschen Mündlichkeitssound der damaligen Zeit nutzen konnte, er hatte ja keinen zeitlichen Abstand. Der zweite Weg wäre für mich ein eklatanter Glaubwürdigkeitsbruch gewesen: Zazie kann im Kontext der Konventionen ihrer Zeit, an denen sie sich ja reibt, nicht „Megageil!“ schreien. Und die Dialoge neutralisieren? Keinesfalls beim „saftigen“ Queneau!
Die Frage stellte sich also noch einmal anders: Was bewirkt, dass eine mündliche Sprechweise glaubwürdig, frisch und direkt klingt? Natürlich sind es zunächst die Kraftausdrücke, die für die Saftigkeit sorgen, also das Vokabular. „Schwächling“, „Würstchen“, „fettes Schwein“, „Drecksack“ oder „Quatsch“ funktionieren ziemlich zeitlos. „Rotznase“, „Göre“, „Range“ oder „Saftarsch“ wirken älter oder kurioser, erfüllen aber (nach meinem Sprachgefühl) noch nicht den Sprachtatbestand der Ranzigkeit. Ein Element von Originalität kommt hinzu mit Wendungen wie „meine Gutste“ („ptite mère“) oder „Trumm“ („l’armoire à glace“ – das naheliegende Wort „Kleiderschrank“, das Helmlé wählt, hätte den auffallenden Genuswechsel nicht erlaubt). Mir geht es bei solchen Entscheidungen darum, nicht nur das Repertoire der Sprachklischees anzuzapfen, denn Queneau handhabt es auch so. Mit Formulierungen wie „sowas von (gut)“ (Helmlé: „gar nicht übel“), „Läuft“ (Helmlé: „Es wird schon gehen“) oder „Bist du irgendwo gegengelaufen“ (Helmlé: „Du bist ja auf den Kopf gefallen“) lassen sich frischere umgangssprachliche Elemente verwenden, die noch keinen Glaubwürdigkeitsbruch riskieren.
Aber es geht ja nicht nur um die Vokabeln. Wie Dialogrepliken und auch Gedanken genau formuliert werden, hat großen Einfluss darauf, ob eine Passage mündlich oder eben tendenziell schriftlicher klingt, wie lebendig oder papieren sie wirkt.
An fünf Beispielsätzen zeige ich, was ich damit meine.
Beispiel 1
Zazie hat gerade Onkel Gabriel begrüßt, da kommt ihre Mutter hinzu und kommentiert trocken an seine Adresse.
Original
Tu vois l’objet. (…) T’as bien voulu t’en charger, eh bien, le voilà.
Schnoddrige Ironie (die Tochter wird als Objekt bezeichnet und damit zum unpersönlichen Neutrum gemacht) und Umgangssprachlichkeit (Ausspracheverschleifung, kommentierende Interjektion) machen klar, dass die Mutter von Zazie genervt ist.
Helmlé:
Da siehst du den Gegenstand. (…) Du hast dich ja um ihn bekümmern wollen, hier ist er.
Die Signale des Mündlichen („Da siehst du“ und „ja“) sind kombiniert mit eher schriftlich oder schlicht unbeholfen wirkenden Elementen („den Gegenstand“, „um ihn bekümmern“). Der erste Satz ist unnatürlich, anders als im Französischen, weil er das Original zu wörtlich abbildet.
Heibert (meine Version):
Du siehst, womit du es zu tun hast. (…) Du wolltest ja drauf aufpassen, bitte, da hast dus.
Beispiel 2
Als Zazie erfährt, dass die Metro streikt, ist sie wütend, und sie lässt sich auch nicht dadurch beruhigen, dass ganz Paris darunter leidet.
Helmlé:
Das ist mir wurscht. Deshalb bin ich doch die Gelackmeierte.
Darüber, ob „gelackmeiert“ zu ältlich wirkt, wäre gesondert zu reden, aber die Art der Formulierung wirkt seltsam unnatürlich. Den ersten Satz könnte man so hören, klar, aber den zweiten? Vor allem entwickeln beide Sätze kein Tempo. Das habe ich durch Verknappung versucht:
Heibert
Mir doch egal. Passiert ja trotzdem mir.
Beispiel 3
Onkel Gabriels Angebot, gemeinsam Napoleons Grab zu besichtigen, lehnt Zazie ziemlich ungehobelt ab.
Original:
Napoléon mon cul. (…) Il m’intéresse pas du tout, cet enflé, avec son chapeau à la con.
Helmlé:
Napoleon am Arsch. (…) Dieser Blödmann mit seinem saudummen Hut interessiert mich überhaupt nicht.
Zazies leitmotivische Unflätigkeit („mon cul“) entspricht dem schroffen Sprechakt der gleichgültigen Ablehnung. „Am Arsch“ verweist im Deutschen aber eher auf eine Eigenschaft, nämlich defekt, verloren, ruiniert zu sein; wenn einem etwas „am Arsch vorbei“ geht, passt zwar der Sprechakt, aber er benötigt das Verb „gehen“. Insofern funktioniert Helmlés Lösung nur halb, und man kann vermuten, dass es wiederum die wörtliche Nähe zum Original war, die ihn zu dieser Entscheidung führte.
Der zweite Satz ist vom Vokabular her äquivalent derb, aber semantisch etwas ärmer („enflé“ heißt „aufgeblasen“, in der wörtlichen wie der übertragenen Bedeutung) und syntaktisch neutral, im Original erkennbar mündlich: verknappte Verneinung, typisch mündlicher Satzbau mit nachfolgendem Subjekt und Objekt. Wäre es ein geschriebener Satz, hieße es: „Cet enflé avec son chapeau ne m’intéresse pas du tout.“ In meiner Übersetzung versuche ich, den Sprechakt und die Semantik genauer zu treffen und das Vokabular aufzufrischen („Typ“, „null“).
Heibert:
Napoleon? Leck mich. Dieser aufgeblasene Typ mit seinem Idiotenhut interessiert mich null.
Die syntaktisch näher am Original bleibende Variante „Interessiert mich null, dieser aufgeblasene Typ mit seinem Idiotenhut“ würde auch im Deutschen natürlich klingen, doch sie funktionierte nur, wenn die Betonungsstruktur anders gemeint wäre. Da die Aussage darauf hinausläuft, dass Zazie nicht an Napoleon interessiert ist, gehört diese Information in der Inszenierung des Gedankens an den Schluss.
Beispiel 4
Ein weiteres Leitmotiv des Romans besteht in dem Satz, den der sprechende Papagei Laverdure ständig im Schnabel führt.
Original:
Tu causes, tu causes, c’est tout ce que tu sais faire.
Damit dieser Spruch auch in der Übersetzung gut sitzt, sind Rhythmus und Tempo wichtig.
Helmlé:
Du quasselst, du quasselst, das ist alles, was du kannst.
Die Struktur des Satzes wird exakt imitiert, doch das Verb mit den zwei Silben ist verlangsamend, der Rhythmus holpert (teils daktylisch, teils jambisch).
Heibert:
Du quatscht und quatscht, sonst hast du nichts zu bieten.
Das „und“ im ersten Satzteil ist im Deutschen natürlicher als die bloße Wiederholung, das einsilbige Verb behält den Rhythmus bei (jambisch, fast identisch mit dem Original), der bewusste Verzicht auf das „s“ ist ein Mündlichkeitssignal, denn „quatschst“ würde, selbst beim leisen Lesen, zu einer präzisen Artikulation auffordern, die nicht gesprochen wirkt, schon gar nicht bei einem sprechenden Papagei. Der Rest wird durch den Verzicht auf den Nebensatz ebenfalls schneller.
“Mischen possible!”
Wenn es um eine natürliche, glaubwürdige Redeweise geht, lautet meine Devise beim Vokabular, also der exponiertesten Problemzone von Mündlichkeit: „Mischen possible!“ Damit die Wirkungsfrische der Übersetzung nicht allein davon abhängt, welchem Jahrzehnt sich dieser oder jener Ausdruck zuordnen lässt, gilt es, die Mündlichkeit durch weitere Optionen direkter zu gestalten. Neben der Stimmigkeit der Haltung (vor allem der Sprechakte) kommt es hier auf den Satzbau an, denn dieser hat Einfluss auf Tempo, Rhythmus und Inszenierung des Gedankens.
Es wird immer Werke geben, deren Mündlichkeit man mit einer neuen Übersetzung auffrischen muss und kann. Wir haben dafür genug Instrumente im Werkzeugkasten.
Raymond QueneauZazie in der Metro
Roman · Aus dem Französischen von Frank Heibert
Suhrkamp Verlag 2019 · 240 Seiten · 22 Euro
ISBN: 978-3518428610
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel
Das neigt sich ein bißchen nach der Auto-Reklame und ist gegenüber Helmlé unfair, wie ich finde. Der macht das doch gut! Ihre Idee, Herr Heibert, ein altes Buch solle zeitgemäss wirken, ist zudem ahistorisch. Alte Bücher sind alt; iss so. Iss ok so – befördert deren “Alterität”, mit Jauss & Isern zu feixen, hehe.
Liest die “Zazie” überhaupt noch wer?
Wenn man als Sprach-Arbeiter sein Tun und seine Methode öffentlich reflektiert, ist es nicht verwunderlich, dass da auch die Überzeugung mitschwingt, man sei nicht ganz auf dem falschen Dampfer, meinen Sie nicht, Herr Kief? Aber gut, dass Sie Ihre andere Meinung äußern, denn darum geht es ja, um eine Einladung, gemeinsam nachzudenken und zu debattieren.
Meine methodische Reihenfolge war allerdings andersherum. Nicht „Ich mach’s jetzt modern und muss dazu Helmlé dissen“, sondern: 1. Was macht Queneau? – Er lässt die Figuren unmittelbar werden, mit dem Anschein realistischer Glaubwürdigkeit, ob sie nun derb-direkt oder ironisch-umständlich reden. 2. Wie setze ich das um? – Es ist eine Entscheidung, ob ich versuche, die Sprache der Zeit nachzubilden oder die Mündlichkeit so frisch wie möglich zu gestalten, ohne dabei erkennbar heutig zu werden, was krampfhaft wäre und in der Tat leugnen würde, dass das Buch an einen historischen Zeitpunkt gehört. (Die Mündlichkeit aufzufrischen heißt nicht, das ganze Buch in ahistorischer Weise anzugehen, da haben Sie mich missverstanden.)
Wie bekannt, habe ich mich gegen den Versuch entschieden, ein realistisch-glaubwürdiges Deutsch von 1960 nachzubilden. Der Punkt (und die Kritik an Helmlé, das war dann Schritt 3.) ist, dass er das sehr oft auch nicht versucht, d.h. seine Übersetzung war in mancher Hinsicht schon damals problematisch (auch wenn es viele m. E. gelungene Lösungen gibt). Es bleibt Ihnen unbenommen, z.B. den oben zitierten Begrüßungssatz von Zazies Mutter in Helmlés Übersetzung „gut gemacht“ zu finden; ich finde, so hat vermutlich auch damals niemand geredet, und das wird Queneau und dem Original nicht gerecht – ein Ergebnis meiner vergleichenden Analyse NACH Fertigstellung meiner Übersetzung.
Und zu Ihrer letzten Frage: Die Neuübersetzung ist nach wenigen Wochen in die zweite Auflage gegangen.