Aufmerksamkeit erzeugt man nicht mit Lesen, sondern mit Streiten. Und wenn sich lange genug nichts findet, worüber zu streiten sich lohnt, bricht man sich seine Debatten halt vom Zaun, respektive von der Hauswand.

Als es noch Autoren gab, die alt genug waren für eine geheim gehaltene nationalsozialistische Vergangenheit, wurden Werke auf Spuren faschistischer Gesinnung abgeklopft. Heute erschnüffeln wir im Wettstreit Sexismus und Rechtssein. Unter dieser Prämisse werden seit Monaten zwei Texte zum literarischen Ereignis hochdiskutiert: ein Gedicht und ein literarisches Jungmänner-Experiment.

Das Gedicht ciudad (avenidas) von Eugen Gomringer beschränkt sich, wie es sich für konkrete Lyrik gehört, aufs Benennen, und zwar auf Spanisch. Es benennt Straßen, Blumen, Frauen und den Stein des Anstoßes: einen Bewunderer.
* Wer am raffiniertesten beweist, auf welch raffinierte Weise dieses Mini-Gedicht es schafft, Frauen herabzusetzen, hat gewonnen! *

In Sieben Nächte hat Simon Strauß in sieben Nächten sieben Texte über sieben Todsünden verfasst – ein Selbstversuch spontanen Schreibens.
* Wer die Lunte entdeckt, die über wohlverborgene Irrungen und Wirrungen zum Sprengsatz rechten Gedankenguts führt, hat gewonnen! *

Mit dieser Spiegelfechterei imitiert der Literaturbetrieb, was die Politik uns seit längerem vorturnt: Wir verausgaben uns auf Nebenschauplätzen, während in unserem Rücken klammheimlich die Weltgeschichte weitergeht, während die Erde wärmer wird und das soziale Klima kälter, während private Konzerne dem digitalen Raubrittertum frönen und ringsum rechte Autokraten ihre Macht zementieren.

Was wären echte Literatur-Debatten? Sie müssten sich an den Aufgaben der Literatur messen lassen. Mit der Frage nach der Aufgabe der Literatur macht man sich im Westen lächerlich. In anderen Weltgegenden ist sie selbstverständlich. Alle Literatur, die den Namen verdiene, sei politisch, sagte der Inder Neel Mukherjee am Berliner Literaturfestival, leicht irritiert über die dumme Frage. Ein Schriftsteller müsse sein Volk bei allem begleiten, was es durchmache, so wurde auf der Frankfurter Messe ein arabischer Autor zitiert.

Was wir gerade durchmachen, wissen wir selbst nicht recht zu sagen. Es ist in mehrfacher Hinsicht paradox: Nach allen statistischen Erhebungen geht es Deutschland besser denn je, und doch fühlen sich alle als Opfer, die Linken wie die Rechten, die Armen wie die Reichen, die im Osten wie die im Westen. Es gibt unter uns Menschen, die tatsächlich Opfer von Gewalt, Armut und Repressionen geworden sind, nur machen wir ausgerechnet sie zum Sündenbock. Schuld sind die Ausländer! Am Pflegenotstand, am Sterben der Dörfer, an den prekären Arbeitsverhältnissen und dem fehlenden Zusammenhalt der Gesellschaft, you name it.

Es ist nicht leicht, diese Widersprüche in Literatur zu verwandeln. Wir befinden uns an einer Epochenschwelle. Niemand weiß, was kommt, und vielleicht ist es das, was uns so zusetzt. In den Debatten, die der Betrieb mit sich selbst führt, geht es in erster Linie darum, die Kollegen zu beeindrucken. Intellektuelle Pirouetten jedoch sind nur in einer ideologisch sauber abgezirkelten Manege möglich. Dort können wir uns festhalten am Geländer der richtigen Gesinnung: Kampf dem Sexismus! Nie wieder Faschismus!, etc. Zu dem jedoch, was wir noch nicht kennen, müssen wir die richtige Haltung erst finden. Das bedeutet Glatteis, Risiko, Unsicherheit.

Da verteidigen wir doch lieber die Freiheit der Kunst! Die Akademie der Künste will die Arbeit von Eugen Gomringer „ehren“, indem sie an ihrer Fassade das Gedicht schweigen anbringt. Damit ist die nächste Eskalationsstufe erreicht. Und wieder bleibt die Literatur auf der Strecke. Wie es sich für ein konkretes Gedicht gehört, zeigt schweigen, wie man mit Worten schweigt, nämlich indem man das Wort „schweigen“ durch Weglassen verschweigt. Diese perfekte Übereinstimmung von Form und Inhalt hat Witz, und es ist schön, dass dieser Witz im öffentlichen Raum präsentiert wird.

Nur stellt, wer dieses Gedicht zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort an die Wand malt, leider nicht den poetischen Einfall des Dichters zur Schau, sondern eine politische Anklage. Auf einmal schreit das Gedicht „Zensur!“

Womit die nächste Runde der Debatte eingeläutet wäre.

Beitragsbild:
Spiegelnde Bäume
Lizenz: CC0

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

5 Kommentare

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    Hartmut Finkeldey 7. Februar 2018 um 15:58

    Nein, liebe Sieglinde. Es gibt in Deutschland in der Tat Menschen, denen es „besser denn je“ geht (Problem: wird Sarah traumatisiert, wenn Mami und Papi einen spontanen Vierturlaub einlegen und mal kurz für eine Woche nach Mombasa jetten, während das arme Zuckerpüppchen bei Oma zurückbleiben muss? Die Klavierstunden für Sarah aber nicht vergessen, liebe Omi, ganz wichtig! Und ja, im Hotel in Mombasa ist alles bio!). Aber inzwischen kommen nicht einmal die think tanks des Neoliberalismus umhin, zuzugeben, was alle Welt weiß: Für das untere Viertel hat es im letzten Jahrhundert Reallohnverluste gegeben; vom Verlust sozialer Sicherheit reden wir da noch gar nicht.

    Das Augenschließen vor dem Grauen (5,6 Millionen Kleinkinder verrecken Jahr für Jahr in einer Welt, die im Prinzip seit Jahrzehnten alle ernähren könnte), verbunden mit Ersatzdebatten (gaaaanz wichtig: darf ein Weißer Dreadlocks tragen oder ist das etwa Rassismus?) ist unser, ist mein Problem seit Jahrzehnten. Hart gesagt: Seit dem cultural turn! Unsere Generation ist eine Ansammlung bigotter, karrieregeiler Heuchler seit eh.

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    Hartmut Finkeldey 7. Februar 2018 um 16:01

    Errata: „im letzten Jahrhundert“ lies: „im letzten Vierteljahrhundert“

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    Hartmut Finkeldey 7. Februar 2018 um 16:21

    Errata 2: Vor „Das Augenschließen…“ fehlt ein „Im Kern siehst Du es aber richtig“

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  4. Wegen dem unteren Viertel: Ich spreche ja kurz vom Kälterwerden des sozialen Klimas… Aber danke für den Hinweis, man vergisst das untere Viertel, weil es an diesen Debatten nicht teilnimmt, nicht vorkommt – was natürlich wiederum Teil des Problems ist.
    Das Rätselhafte: Warum jener (debattierende) Teil der Gesellschaft diese frei flottierenden Ängste pflegt, der eben von dem Auseinanderklaffen der Schere gerade weniger bis gar nicht betroffen ist. Die Protest- und Angstwähler kommen ja nicht nur aus dem unteren Viertel.

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  5. Valentinstag
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