Marguerite Yourcenars Roman Ich zähmte die Wölfin besteht aus einem einzigen langen Brief. Der sechzigjährige Kaiser Hadrian fühlt, dass er bald sterben wird. In seiner Villa in Tivoli schreibt er an seinen Adoptivenkel, den späteren Herrscher Marc Aurel. Der Brief entwickelt sich zu einer poetischen Reflexion:
Mein Leben kann ich nicht … [so leicht] in feste Formen gießen. Wie das oft geht, lässt es sich besser durch das, was ich nicht war, umschreiben, als umgekehrt; ein guter Soldat, aber kein großer Feldherr, ein Kunstliebhaber, aber kein Künstler, für den sich der sterbende Nero gehalten hat, manchen Verbrechens fähig, doch mit keinem belastet.
Hadrian, der hier als antiker Mann ohne Eigenschaften erscheint, ließ die Worte „Humanitas, Felicitas, Libertas“ auf Münzen prägen: Menschlichkeit, Glückseligkeit, Freiheit. Ein Motto, das uns heute ebenso erreicht wie damals die Römer.
Anhand eines Zitats aus Flauberts Briefen erklärt Marguerite Yourcenar in den Notizen, die dem Roman beigefügt sind, warum sie ein Buch über den Kaiser Hadrian geschrieben hat: „Als es die Götter nicht mehr gab und Christus noch nicht, war zwischen Cicero und Marc Aurel ein einmaliger Augenblick entstanden, in dem der Mensch für sich existierte.“
Sie habe einen großen Teil ihres Lebens damit zugebracht, schreibt Yourcenar, in der Gestalt des Kaisers Hadrian
diesen alleingelassenen und doch allem verbundenen Menschen zu bestimmen und ihm dann Farbe zu verleihen.
Die Form des Briefes, in der Ich zähmte die Wölfin gehalten ist, war in der Antike weit verbreitet. Aber es geht in diesem Roman nicht in erster Linie um die historische Authentizität. Es handelt sich um ein fiktives Selbstporträt von Hadrian: Wichtig sind die Gefühle des Menschen, der die Geschichte erlebt und – als Kaiser – mitgestaltet hat. Durch das Ausdrucksmittel des Briefes verschmilzt das Objektive mit dem Subjektiven, das Wesentliche wird in eine poetische Sprache übersetzt.
Noch wusste ich nicht, dass der Schmerz seine Irrgärten hat, die ich noch nicht bis ans Ende durchwandert hatte.
So beschreibt Hadrian seine Trauer um den Tod seines jungen Geliebten Antinous, für den er 300 Kilometer südlich von Kairo die Stadt Antinoupolis errichten ließ – er ließ Antinous verehren wie ein Gottheit.
Der Protagonist von Yourcenars Roman ist mit seiner historischen Zeit verbunden, doch berührt er zugleich eine universelle Dimension: Auch wir leben heute in einer Zeit, in der der Mensch „für sich“ existiert, in einer Zeit nach den Ideologien. Am Ende seines Lebens lässt Yourcenar den Kaiser als Menschen sprechen, der keine Angst vor dem Alleinsein hat – auch nicht vor dem Alleinsein im Tod.
Verweile noch einen Augenblick, betrachten wir noch einmal die vertrauten Ufer und die Dinge, die wir wohl nie wiedersehen werden…
Wir wollen versuchen, sehenden Auges in den Tod einzugehen.
Ich zähmte die Wölfin
Die Erinnerungen des Kaisers Hadrian
Roman · Aus dem Französischen von Fritz Jaffé
dtv 1998 · 336 Seiten · 10,90 Euro
ISBN: 978-3423124768
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