Ich war so voll wie lange nicht mehr.
So kurz ist der erste Satz auf dieser Seite 99, wenn man alle überflüssigen Wörter weglässt. Im Original besteht der Satz nicht aus 8, sondern aus 18 Wörtern:
Ich weiß es nicht, aber ich war so voll wie schon ganz lange nicht mehr in meinem Leben.
Das „Ich weiß es nicht“ ist bloße Floskel, das „aber“ hat keine Funktion im Satz (es ist sogar widersinnig), „schon“, „ganz“, „in meinem Leben“ kann man weglassen, ohne dass etwas fehlt. Was wir hier lesen, ist eine schriftlich nachgebildete mündliche Rede.
Die Redundanzen auf dieser Seite 99 sind ein Stilmittel, deshalb erlaube ich mir spaßeshalber, sie in den folgenden Zitaten zu streichen.
Die Darsteller dürfen sich grundsätzlich nicht haltlos betrinken, weil sie sonst am nächsten Tag einfach nicht mehr zu gebrauchen sind. (…) Also haben wir mit ihnen ein paar Innenaufnahmen gedreht und ein paar Szenen auf dem riesigen Balkon mit der Glasbrüstung, der einen unfassbar schönen Meerblick hatte.
„… mit der Glasbrüstung, der einen Meerblick hatte“ – obwohl das Relativpronomen sich grammatikalisch klar auf den Balkon bezieht, stoße ich mir daran den Zeh. Doch das ist nur ein Detail. Was diesen Sätzen die Kraft raubt, sind die leeren Worte. Mit „Darstellern“ werden „Innenaufnahmen“ gedreht und „ein paar Szenen“ auf dem Balkon.
Ich glaube, mir sind
daganz ansehnliche Einstellungen gelungen, obwohl ich mir teilweise ein Auge zuhalten musste, um richtig scharf zu sehen.
Zu den leeren Worten („ganz ansehnliche Einstellungen“) kommt eine unschöne Assonanz („Einstellungen gelungen“) sowie eine schlampige Formulierung (sich „teilweise“ ein Auge zuhalten).
Verräterisch für die (wohl bewusste) stilistische Nachlässigkeit sind die Adjektive. Der Balkon ist „riesig“, der Meerblick „unfassbar schön“. Ein paar Sätze später ist der Ich-Erzähler „unbeschreiblich traurig“. Das Wort „unbeschreiblich“ trifft den Nagel auf den Kopf: Diese Adjektive zeichnen sich dadurch aus, dass sie nichts beschreiben, sie bezeugen vielmehr, dass hier einer keine Worte hat für das, was er erlebt, sieht, denkt.
Roman Ehrlich hat also einen Ich-Erzähler geschaffen, der vor sich hinlabert, ohne viel nachzudenken. Die Seite 99 bietet eine Art ungefilterter stream of consciousness, zu dessen stilistischen Eigenheiten auch die Zeitformen gehören. In der mündlichen Rede ist das Perfekt die normale Vergangenheitsform, wenn wir es jedoch in einem gedruckten Text lesen, verändert sich seine Wirkung.
Am Abend sind wir wieder in den Club am Hafen gegangen.
Das Perfekt verleiht dem Satz etwas anrührend Naives, als hörten wir ein Kind sprechen, das das Imperfekt noch nicht gelernt hat.
Der Barmann hat uns sofort erkannt und begrüßt, und nach ein paar Stunden waren wir wieder voll bis an den Rand und sind mit einem finster dreinschauenden Taxifahrer zurück zur Villa gefahren.
Ein paar Zeilen später geht es vom (umgangssprachlichen) Perfekt zum (literarischen) Imperfekt und wieder zurück.
Ich habe mich anschließend verabschiedet, habe noch eine kalte Dusche genommen und stand eine Weile nackt vor dem Badezimmerspiegel, schaute auf meinen fleischigen Leib und versuchte, mir einen runterzuholen, was überhaupt nicht funktioniert hat.
Das Perfekt im letzten Satz hat etwas Trotziges, verstärkt durch das „überhaupt“. Dass eine bloße Zeitform einen anklagenden Ton, ja einen Vorwurf transportieren kann, ist ein interessanter Effekt. In dieser Passage findet sich, endlich, ein überraschendes Adjektiv: „meinen fleischigen Leib“. Mich gruselt ein wenig vor diesem Fleisch, und genau das soll es wohl auch.
Unbeschreiblich traurig macht den Ich-Erzähler,
dass ich meinen Körper nicht mehr animieren konnte.
Das Wort „animieren“ ist ein Stilbruch. Haben wir es mit einem Intellektuellen zu tun, der sich in die Gosse begibt? Je länger ich dieses Wort anschaue, desto fremder wird es mir und desto weniger kann ich mir vorstellen, dass irgendjemand so redet.
Im letzten Satz auf dieser Seite 99 erleben wir noch einmal einen effektvollen Wechsel der Vergangenheitsformen:
Ein paar Minuten stand ich noch vor dem Spiegel …
Ein geradezu elegisches Imperfekt nach der Kapitulation vor dem eigenen Körper, ein Abgesang. Und schon werden wir durch das Perfekt brüsk aus dieser Mikrostimmung herausgerissen.
… bis mir mein Anblick richtig widerlich geworden ist, und dann bin ich ins Bett gegangen, wo ich ungefähr zwei Stunden lang geweint habe, ohne wirklich etwas zu spüren.“
Ins Literarische geglättet, hieße der Satz:
… bis mir mein Anblick widerlich wurde und ich ins Bett ging, wo ich zwei Stunden lang weinte, ohne etwas zu spüren.
Die Frage ist nun: Möchte ich diesem vor sich hinfaselnden Ich-Erzähler geschlagene 640 Seiten lang zuhören? Ob er wohl noch andere Register zur Verfügung hat?
Gut möglich, dass Roman Ehrlich in seinem Roman genau dieses Gefasel abbilden will, dass er uns damit heimleuchtet. Der Roman heißt Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens, ein unsäglicher Titel, der mit böser Lust die Redundanz des Adjektivs zelebriert. Das könnte die These bestätigen.
Weitere Beiträge zu Roman Ehrlichs Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens:
- Page-99-Test: PS zu Roman Ehrlich (Sieglinde Geisel)
- Debatte: Der weiße Elefant der Literaturkritik (Jürgen Kiel und Louisa Chandra Esser)
- Rezension: Angst erzählen (Samuel Hamen)
Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens
Roman
Verlag S. Fischer 2017 · 640 Seiten · 24.- Euro
ISBN: 978-3100025319
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel
Kritiker Paul Jandl schreibt von einem „großartig klugen Roman“, der einem „romanhaften Großessay“ gleicht und von der „Einsamkeit eines seltsamen Romanhelden, der keinen Anschluss findet“. Offenbar reflektiert der Roman auf originelle und konsequente Weise das Verhältnis von Realität und (Horror-)Film. Die Prosagestaltung scheint bei dem Werk nicht das Entscheidende zu sein, eher die Konzeption. Was sagt mir das als Leser? Bei derartigen Konzeptromanen bin ich eher skeptisch, zumal bei 640 Seiten. Möchte ich weiterlesen, auch wenn ich das Konzept begriffen habe? Hat das „Konzept“ hier nicht eine ähnliche Stellung wie der Plot beim Krimi? Diese Überlegungen führten bei mir zu der Entscheidung, dieses Buch nicht zu kaufen.
Was wir einen seltsamen Romanhelden nennen, ist vielleicht ja doch ein ziemlich durchschnittlicher Vertreter seiner Generation. Moritz hat Eltern in einem gutbürgerlichen Vorstadthäuschen. Sie arbeiten beide und kommunizieren kaum mit ihm. Dass er ein Studium absolviert hat, jetzt aber nichts aus sich macht, ärgert sie bloß, veranlasst sie aber nie zu irgendeiner weiterführenden Aktion. Die Freundin Josi arbeitet eifrig an ihrer Dissertation, hat also noch ein Ziel. Dass es inhaltsleer ist, genauso wie der Job, den Moritz in einer Agentur macht, kann ein Leser (auch wenn er einer anderen Generation angehört) ganz gut erkennen. Also schließt der Junge sich einem despotischen Studienkollegen an, der vielleicht vordergründig einen Horrorfilm drehen will, aber doch eigentlich ein Sektenführer ist. Die Filmcrew erinnert (mit etwas Phantasie) an marodierende Banden aus dem Mittelalter, die gleichzeitig Flagellanten sind. Natürlich ist das Buch viel zu lang geworden. Roman Ehrlich bräuchte einen besseren Lektor, aber was er zu sagen hat, ist alles andere als Gelaber!
@Ulrike Sárkány: Danke für den Kommentar, zumal Sie offenbar das ganze Werk kennen, was bei den ganzen Page-99-Geschichten sehr willkommen ist!
Was Sie ausführen, bringt mich zum Nachdenken über die Frage, ob „Gelaber“ eine inhaltliche oder eine stilistische Kategorie ist. Kann man labern (= stilistisch liederlich daher reden, indem man nicht auf seine Worte achtet) und trotzdem inhaltlich etwas von Bedeutung transportieren?
Was Sie aus dem Roman erzählen, überzeugt mich noch nicht davon, dass es sich dabei um etwas Anderes als Gelaber handelt. Was wäre denn die Essenz des Ganzen? Gibt es Zitate, die meinen Verdacht entkräften würden?
Interessante Reihe, aber ihr könntet doch ein bisschen auf Geschlechtergleichheit achten. Ein paar mehr AutorINNEN könnten ruhig besprochen werden.
es grenzt doch tatsächlich schon fast an Dummheit, anhand einer Seite über einen Roman (!) zu sprechen, das Werk zu beurteilen, eine sog. Stilanalyse (!) zu tätigen, und das auch noch mit oberlehrerhaften Satzanalysen, die nichts, aber auch gar nichts aussagen, diese sog. Kritikerin scheint nichts, aber auch gar nichts von Literatur zu verstehen. Und was Stil ist, sein kann, wagen kann, sollte sie nicht auf so eine fast schon unverschämte Art und Weise beurteilen. Selten so den Kopf geschüttelt.
Das ist ein schöner rant, lieber C.Meyer!
Leider steht darin nichts, aber auch gar nichts, was einem Argument nahe käme.