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In seiner Schrift Arbeit am Mythos (1979) weist der Philosoph Hans Blumenberg dem Erzählen zwei Aufgaben zu. „Geschichten werden erzählt, um etwas zu vertreiben. Im harmlosesten, aber nicht unwichtigsten Fall: die Zeit. Sonst und schwerwiegender: die Furcht.“

Bei dem Diskursgeschnatter unserer angstbesessenen Zeit verwundert es nicht, dass sich auch die jüngste Literatur mit der Angst auseinandersetzt. In seinem Roman Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens wagt sich der Autor Roman Ehrlich an die große Frage unserer Zeit: Wie sollen wir mit der Angst leben? Und wie kann man davon erzählen?

Die produktive Kraft der Angst

Auf Einladung seines ehemaligen Studienfreundes Christoph beteiligt sich die Hauptfigur Moritz an dessen Filmprojekt „Das schreckliche Grauen“. Gleich zu Beginn verkündet Christoph, welches Anliegen er damit verfolgt:

Ich erwarte nichts weniger, als dass wir dadurch gemeinsam die produktive Kraft der Angst für uns nutzbar machen und sie als das begreifen, was sie im besten Fall eben auch ist: die Schwelle zum Anderen als dem wirklich Neuen.

Solche messianischen Reden wird Christoph immer wieder halten, um die Gruppe auf sich und das Horrorfilmprojekt einzuschwören. Er erinnert darin an den so begeisterungsfähigen wie gnadenlosen Christoph Schlingensief, dem man durchaus ein ähnliches Projekt hätte zutrauen können.

Für „Das schreckliche Grauen“ sind zwei Projektphasen vorgesehen: Zuerst werden im Café Porsche in Ulm sogenannte Angstsitzungen abgehalten, bei denen die Teilnehmer von ihren Krisen und Traumata erzählen. Auf der Bühne des Cafés ist die Rede von erzwungenen Blutsbruderschaften, überforderten Jungvätern und grässlichen Urlauben in der schwedischen Pampa. Von diesen Schreckenszeugnissen und von den zahlreichen Filmen, die sich die Gruppe zur weiteren Vorbereitung anschaut, fertigt Moritz ausufernde Protokolle an. Aufgrund eines frustrierenden Jobs bei einer Medienagentur und einer zerrütteten Liebesbeziehung ist er nur zu gern bereit, sich dem lebensreformerischen Kunstprojekt hinzugeben. Sein größter Wunsch?

Einen aufwendig animierten, grausamen Tod zu sterben.

Das vierte Prosawerk des 1983 geborenen Ehrlich ist weniger ein Roman über die Angst als ein Romantraktat darüber, wie wir Angst durch Erzählungen beschwören und bannen. Dem Autor schwant Großes: In mosaikartig arrangierten Mini- und Metaerzählungen will er sich der Angst als einem Wahrnehmungsfilter annähern, der unser gegenwärtiges Zusammenleben bestimmt. Die Angst erlegt uns auf, was wir wem wie erzählen – und ist dementsprechend auch für literarische Schreibverfahren von Bedeutung. Dabei liegt einem Stephen Kings Warnung in den Ohren: „Die Ursache schlecht geschriebener Texte ist meistens Angst, davon bin ich überzeugt.“

Inszenierung und Wirklichkeit

In der Kunstprojektgruppe, die sich um Christoph schart, finden sich lauter labile und manipulative Personen, die ihr Leben, ganz wie Moritz, von einer rettenden Veränderung erfasst sehen wollen. In der zweiten Phase sollen sie von Ulm nach Berlin wandern. Während der folgenden Wochen werden einzelne Szenen gedreht, ein Drehbuch zeichnet sich jedoch nicht ab. Scheunen werden niedergebrannt, Eingeweide in Briefkästen gestopft und Kübel voller Blut von Autobahnbrücken geschüttet, ohne dass Moritz sich dafür interessiert, ob es sich um künstliches, tierisches oder menschliches handelt. Als drei Crew-Mitglieder eine Frau, die sich tretend und schreiend wehrt, in einen Keller zerren, geht er nicht dazwischen. Wer weiß, er könnte ja durch sein Eingreifen eine Szene vermasseln. So verwischen sich mit der Zeit für den zunehmend verwirrten Moritz die Grenzen zwischen Inszenierung und Wirklichkeit:

Ich stieg in einen Trog, der voll fauligem Wasser war, auf dem kleine Insekten lebten, und saß dort wie ein Irrer, der ein Bad nahm. Oder als ein Irrer, der ein Bad nahm.

Roman Ehrlich hätte in Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens im erzählenden Dauervollzug Sitzung an Sitzung, Wandertag an Wandertag und Angststory an Angststory reihen können, bis ans Ende aller Seiten. Schließlich betreibt der Ich-Erzähler den ganzen Aufwand nur aus einem einzigen Grund: um jene wuchernde und gefährliche Stille zu verhindern, die nach dem Ende der Parabeln Einzug halten würde in seinen von Angst und Ahnung blankgescheuerten Kopf.

Der überraschende Schluss zeigt denn auch, was passiert, wenn unser erzählerisches Stabilitätsprogramm nicht mehr greift. Doch bis dahin gilt die Regel: lieber zu viele und zu brutale Worte wechseln als zu wenige. Eine Mikro-Erzählung über ein Massaker in einer Pornovilla auf Ibiza kann da nie ungelegen kommen. Wohl oder übel kleben wir also an den Lippen des lethargischen Ich-Erzählers, der noch auf Seite 557, als das Filmprojekt mehr und mehr aus dem Ruder läuft, die enervierende Muße hat, Belangloses festzustellen, etwa dass

der Himmel ganz hell blau war und alle Menschen Sonnenbrillen trugen.

Verängstigte Sprache

Aber das ist nun mal der Wortschaum, die Sprachsprühmasse, mit der der Protagonist sich und seine Umwelt (also auch seine Leserschaft) bedeckt, um weicher zu sehen, zu denken, zu fallen. Roman Ehrlich weiß durchaus, was er uns zumutet, er lässt Katja – eine schillernde Figur, in die sich Moritz verliebt – nach mehr als sechshundert Seiten sagen:

Ich habe einfach keine Lust mehr auf die epischen Ängste.

So leidet der Roman stolz an dem, was er zugleich als Leistung hervorbringt: Er stellt eine Erzähltheorie der Furcht auf, die nicht nur ein ängstliches Personal und angstbesetzte Szenerien entwirft, sondern darüber hinaus die Sprache selbst verängstigt. Sie wird plapperig:

Ich war zu dieser Zeit auch deshalb sehr offen für jede Art Angebot von außen, was ich mit mir, meiner Zeit und meinem Leben anstellen könnte, weil ich erstens sehr unzufrieden war mit meiner Arbeit in einer noch jungen Agentur in Schwabing, die Postproduktion, Marketing, Coaching- und Managementaufgaben für die deutschen Dependancen multinationaler Musik und Filmlabels wie Universal, Sony oder Warner übernahm, und zweitens gerade erst aus einer Trennung hervorgegangen war, mit der unverbrüchlichen Gewissheit, ein unbrauchbarer Loser zu sein, dem vor einiger Zeit noch einiges Potential hätte bescheinigt werden können, von dem mittlerweile aber gesagt werden musste, dass es ihm vorne und hinten an allem fehlte, was ein Mensch brauchte, um sich selbst in der Welt zu verwirklichen.

In einem Reigen an Zitaten und Paraphrasen listet Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens zugleich auf, wie andere Künstler in ihren Kunstwerken dasselbe Thema bearbeiten, etwa David Lynch in Mulholland Drive oder Wim Wenders in Der Stand der Dinge. Als konzeptueller Ansatz ist das kühn und zeitkritisch, in (über)langer Romanform aber nicht lesenswert.

Insbesondere im zweiten Kapitel wünschte ich mir, dass Moritz in eins der kaffigen Einfamilienhäuser eingekehrt wäre, die die Crew im Laufe ihrer Dreh- und Wandertage passiert. Nahtlos hätte ich dann diese ausufernden Tage des fürchterlichen Grauens einem Ende entgegengehen lassen können, um Das kalte Jahr erneut einzuläuten. Roman Ehrlichs Debüt von 2013 beschreibt verwegen, wie ein junger Mann sein Leben in der Stadt hinter sich lässt, um ins allegorisch eingeschneite Elternhaus zurückzukehren. Für die eisklare Sprache wurde Das kalte Jahr zu Recht gefeiert. Seinem neuen Roman hat der Autor diese Sprache verwehrt, zugunsten eines erzähltheoretischen Projekts, das an seinen Ambitionen scheitert.

Angaben zum Buch
Roman Ehrlich
Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens
Roman
Verlag S. Fischer 2017 · 640 Seiten · 24 Euro
ISBN: 978-3100025319
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel

 

Bildnachweis:
Beitragsbild: Reuschp aus der deutschsprachigen Wikipedia [GFDL oder CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons (bearbeitet)
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Von Samuel Hamen

Promovend an der Universität Heidelberg. Samuel Hamen ist externer Mitarbeiter des Centre national de littérature (CNL) in Luxemburg, betreut den Literaturblog www.ltrtr.de und ist zudem für die Tageszeitung „Lëtzebuerger Journal“ als Literaturkolumnist tätig.

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