Weitere Beiträge zu Roman Ehrlichs Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens:
- Page-99-Test: Roman Ehrlich (Sieglinde Geisel)
- Debatte: Der weiße Elefant der Literaturkritik (Jürgen Kiel und Louisa Chandra Esser)
- Rezension: Angst erzählen (Samuel Hamen)
Kann man anhand einer einzigen Seite entscheiden, ob ein Buch sich zu lesen lohnt? Bisher hat die Lektüre des Ganzen den Befund der Seite 99 jedes Mal bestätigt, sowohl im Positiven (z. B. Paul McVeigh und Elena Ferrante) als auch im Negativen (Sibylle Lewitscharoff).
Nach dem Page-99-Test von Roman Ehrlichs Roman Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens wollte ich wissen, was es mit dem schwadronierenden Ich-Erzähler auf sich hat, erst recht nach dem Kommentar von Jürgen Kiel. Nach den ersten hundert Seiten weiß ich nun: Bei der Seite 99 handelt es sich tatsächlich um eine mündliche Rede, allerdings nicht um die des Ich-Erzählers. Es ist der Kameramann Markus, und er erzählt von seiner Angst. Auf der Seite 99 berichtet er von einem Porno-Dreh auf Ibiza, auf der nächsten Seite wird er alle Beteiligten abschlachten, mit einem Messer und sehr blutig. Natürlich ist das nur ein Traum (die unvermeidliche Aufwachszene kommt reichlich spät), aber seither kann Markus keine Filme mehr drehen. Er hat Angst vor den Dingen, die er vielleicht tun wird, wenn er schläft.
Nacherzählen statt erzählen
Der Ich-Erzähler des Romans heißt Moritz. Doch der Page-99-Test wäre kaum anders ausgefallen, wenn wir auf der Seite 99 bei Moritz gelandet wären. Der Sound bleibt sich gleich, egal wer spricht, und sprechen tun in diesem Roman viele. Der Regisseur Christoph Raub (nomen ist wahrscheinlich omen), ein ehemaliger Kommilitone von Moritz, will einen Horrorfilm drehen, und um Stoff dafür zu sammeln, hat er Leute um sich geschart, die in wöchentlichen „Angstsitzungen“ von ihren Ängsten erzählen. Moritz (im Job frustriert, von der Freundin getrennt usw.) ist auf etwas umständlichen Wegen zur Crew gestoßen – und er schreibt mit. Diese Anlage ist eine fast unheimliche Parallele zu Sibylle Lewitscharoffs Das Pfingstwunder: In beiden Romanen wird nicht erzählt, sondern nacherzählt, über weite Strecken hinweg. Bei Lewitscharoff sind es im Rückblick wiedergegebene Referate über Dantes Göttliche Komödie, gehalten von Literaturprofessorinnen und -professoren, die (aus nie geklärten Gründen) nach der Konferenz in den Himmel aufgefahren sind. Bei Ehrlich haben wir es mit vor sich hinfaselnden Menschen zu tun, blassen, langweiligen Figuren im Hinterzimmer einer Bar (das gilt zumindest für jene drei oder vier, die auf den ersten hundert Seiten drankommen).
Christoph, der das schreckliche Grauen filmen will, ist Apokalyptiker.
Seit ich denken kann, erzählte uns Christoph einmal als Teil seiner einleitenden Worte, bin ich mir sicher, dass die Welt, in der ich lebe, zusammenbrechen wird.
Wie die anderen Figuren besteht auch Christoph nur aus einem Wortschwall:
[…] Meine Vorstellung von den kollabierenden Verhältnissen ist keine Angst. Es ist eine Sehnsucht. Ich weiß, dass sie gegen die Zivilisation und gegen die Kultur gerichtet ist, aber ich kann nichts dagegen tun, dass ich sie habe. Sie war immer da, wie ich schon gesagt habe, seit ich denken kann. Ich glaube daran, dass es einen Moment geben wird, kurz vor der Panik.
Usw.
Auf seinen Vortrag folgt die detaillierte Nacherzählung eines Splatter-Movies, drei Seiten später gibt uns der Ich-Erzähler die Zusammenfassung der Dissertation seiner Ex-Freundin Josi, und weil Moritz mit der Bahn zu den Sitzungen nach Ulm fährt, hat er Zeit zu lesen, was wiederum Gelegenheit bietet für die stückweise Nacherzählung der Lektüre des fiktiven Romans Die Soldatin.
Vor der Zugfahrt war ich in mehreren Anläufen etwa dreißig Seiten weit gekommen. Die Handlung hielt sich noch in der Grundausbildung auf und beschränkte sich auf extrem viele sehr detaillierte Beschreibungen der anderen Soldatinnen und Soldaten. Gegenstände und das Wetter spielten auch eine große Rolle, waren aber auf sehr nüchterne Art beschrieben, also sollte man aus dem Stil schon herauslesen können, dass da jemand spricht, der gelernt hat, jedes Phänomen im Kontext der nächsten Kampfhandlung als günstig oder ungünstig zu deuten.
Usw.
Im ICE nach Ulm
Wenn einem Autor nichts einfällt, redet er über das, worüber wir alle reden, wenn uns nichts einfällt: übers Wetter.
Es war unleugbar endgültig Herbst geworden, als ich mich das erste Mal in den ICE nach Ulm setzte, der in Pasing und Augsburg hielt und insgesamt eine Stunde und vierzehn Minuten für die Strecke brauchte. Als wir aus dem Hauptbahnhof ausfuhren, spritzte Regen gegen die Scheiben, und über den Neubauten, die in den letzten paar Jahren entlang der Gleisstränge entstanden sind, waren graue Wolken zu sehen. Über diesem Grau leuchtete aber noch ein abendliches Licht, eine tiefstehende Sonne, die sich in den Glasfassaden spiegelte,
usw. (wir sind etwa in der Hälfte der Wetterbeschreibung)
Ich lief, wie es mir beschrieben worden war: Über den Bahnhofplatz und die Friedrich-Ebert-Straße in die Bahnhofstraße, dann links in die Ulmergasse, vorbei am Roten Löwen, dann rechts in die Walfischgasse. Ich ging durch den verkehrsberuhigten Einkaufsbereich der Innenstadt, in Richtung Münster, das über den Dächern aufragte, wieder verschwand, wenn ich abbog, und dann wieder auftauchte. Ich ging über feucht schimmerndes Kopfsteinpflaster und an den üblichen, immergleichen Franchisegeschäften vorbei, an Orsay, Pimkie, Wöhrl, H&M, Burger King,
usw. (die Aufzählung ist noch nicht zu Ende)
Ich erreichte die Adresse, die mir Christoph am Handy durchgegeben hatte. Es handelte sich um eine Bar-Café-Restaurant-Cocktaillounge mit bodentiefen Fenstern, die im Sommer wahrscheinlich komplett geöffnet wurden. Vor den Fenstern standen zusammengeschobene und mit Ketten verschlossene Freisitzmöbel und zusammengeklappte Ramazzotti-Sonnenschirme auf einem ein Stück weit in den Bürgersteigen hineingebauten Podest aus Holz.
Usw. (es folgt die ebenso umständliche Beschreibung der Bar, des Flurs und des hinteren Teils des Lokals)
Konjunktiv als Rahmen
Man muss diesen Text schon sehr schnell lesen, um ihn auszuhalten, da helfen auch die ominösen Vorausahnungen nichts, die klischeehaft Spannung simulieren sollen.
Im Nachhinein denke ich mir, dass das der Punkt war, an dem ich mich noch dagegen hätte entscheiden können.
Der Prolog gibt einen Rahmen für das, was kommen wird: Dieser Rahmen besteht in einem Konjunktiv, der uns sicherheitshalber gleich zwei Mal eingebläut wird.
Ich hatte mir vorher oft gedacht, dass ich gerne einmal in einem Horrorfilm mitgespielt hätte. Das war der Wortlaut meiner Gedanken: Ich hätte gerne einmal in einem Horrorfilm mitgespielt.
Furchtbar uninteressant ist das alles, und ebenso uninteressant und trivial ist es geschrieben. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich daran nach den ersten hundert Seiten grundlegend etwas ändern wird, geht gegen Null. Abgesehen davon bin ich einverstanden mit Jürgen Kiel: Die Lektüre würde sich selbst dann nicht lohnen, wenn es nicht um den Stil ginge, sondern um ein Konzept, irgendetwas Raffiniertes im Hinblick auf die Angst, den Horror oder die Realitätsverschiebung im Medium Film. Denn am Stil kommt man beim Lesen nicht vorbei. Und mir raubt dieser Stil des Daherlaberns jede Energie. (Sie glauben mir nicht? Dann lesen Sie die Zitate einmal laut!)
Kritikerstimmen
Fritz Göttler (Süddeutsche Zeitung , auf www.buecher.de bitte nach unten scrollen)
„Lakonisch kühn schraubt dieses Buch sich gleich zu Beginn in die Windungen des Hypothetischen“, so setzt Fritz Göttlers Rezension ein. Die Rede ist von „unnahbaren, beinah außerirdischen Figuren“, der Ich-Erzähler Moritz verwandle die Erzählungen der Teammitglieder in „einen extrem ziselierten, intellektuellen Monosound“. Und doch ist diese Rezension keine Hymne, allerdings auch kein Verriss. Der Kritiker zieht sich mit interpretierenden Inhaltsangaben aus der Affäre: „Die Dialektik von Fremdheit, Schmerz und Angst, die Christoph entwickelt, hat großes Verführungspotenzial.“ Was Fritz Göttler von dem Buch hält, ist der Rezension nicht zu entnehmen. Sie endet mit den Worten: “Was als kleine bürgerliche Erzählung begann, entwickelt sich langsam aber unausweichlich zur Revolution. Ein schmerzhafter Prozess. Von der Kontemplation des Kinos zur Action.“
Paul Jandl (Neue Zürcher Zeitung)
In Ehrlichs Roman erkennt Paul Jandl eine „umfassende Phänomenologie der Angst“. Es sei ein Buch, „das man mit Respektabstand zu den eigenen Lektüregewohnheiten lesen sollte“, es sei „auf enervierende Weise großartig“. Jandl bescheinigt dem Autor „eine hochintelligente Naivität“, klug unterlaufe er „die gewohnten literarischen Wirklichkeitserfahrungen“. Roman Ehrlich lote „die Fallhöhen zwischen Kunst und Wirklichkeit” aus, “und weil es dabei um Nuancen geht, hat er alle Zeit der Welt“. Sogar Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser sei “hineingewürfelt in die Symptome des neuen Jahrtausends”. Seltsamerweise bezeichnet auch Paul Jandl Roman Ehrlich als Lakoniker, immerhin mit einem einschränkenden „vielleicht“.
Julika Bickel (die tageszeitung)
Trotz seines Titels sei dieses Buch kein wohlig gruselndes Schauermärchen, schreibt Julika Bickel, „sondern ein Roman, der an die Substanz geht und einen depressiv stimmt“. Roman Ehrlichs Beschreibungen seien „elegant und klar“: „Nüchtern schildert er selbst brutale Szenen. Diese radikale Unaufgeregtheit, die Gewalt als selbstverständlich hinnimmt, löst tiefes Unbehagen beim Lesen aus.“
Langeweile hat viele Namen, wenn man sie nicht beim Namen nennen will.
Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens
Roman
Verlag S. Fischer 2017 · 640 Seiten · 24.- Euro
ISBN: 978-3100025319
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel
Der Kommentar von Jürgen Kiel ist als Debattenbeitrag “Der weiße Elefant der Literaturkritik” erschienen.
Ich habe den Roman in Gänze gelesen. Die Zitate sind sinnentfremdet verkürzt, das Wesentliche darin einfach nicht erkannt und auf “Gelaber” runtergebrochen. Tut mir leid, aber ich halte diesen Artikel für absolut unprofessionell. Da wollte jemand Reich-Ranicki spielen, ohne sich wirklich mit dem Buch zu beschäftigen. Daumen runter für diese Art von Literaturkritik!
Was wäre “das Wesentliche”, das ich nicht erfasst habe?
Die von Ihnen auf “Wetterbeschreibung” runtergebrochene Passage beispielsweise mündet in einen Moment von pathetisch empfundener Gegenwärtigkeit, die aber durch die Erzählhaltung ironisch gebrochen wird. Dieses Konstituieren und Relativieren von Pathos, das Sich-Einfühlen in eine Romanheldenrolle, sich dabei aber auch nicht ganz ernst nehmen können, der Einzug der Fiktion in die Wirklichkeit (im weiteren Verlauf des Buchs antworten Personen mit Szenen aus Filmen auf persönliche Fragen etc.), die Frage nach der Authentizität in einer von romanesken Strukturen überlagerten Welt…jetzt komme ich wiederum ein wenig ins schwafeln, aber für mich war Roman Ehrlichs Buch mit Abstand die Beste Veröffentlichung junger Literatur im diesjährigen Frühjahrsprogramm.
Vielen Dank für die Konkretisierung! Ich wüsste gern genauer, was es mit der von romanesken Strukturen überlagerten Welt auf sich hat (was ich übrigens nicht für Geschwafel halte…).
Kurz ein Wort zu dieser Art von Literaturkritik: Der Page-99-Test und die davon abgeleiteten Texte drehen den Spieß der herkömmlichen Literaturkritik sozusagen um und verzichten auf die Inhaltsangabe zugunsten der reinen Stilkritik – was fragwürdig ist, jedoch unter der Lupe Dinge sichtbar macht, die man sonst nicht sieht. In diesem Sinn sind Wortmeldungen von Leserinnen, die das ganze Buch kennen, ein willkommenes Gegengewicht.
Nun zur Passage, auf die Sie verweisen. Das Wetter-Zitat (auf S. 24) endet mit:
“… und auf dem offenen Land zwischen München und Augsburg riss der Himmel dann richtig auf, und ein Wind ging durch die Felder, es wurde geerntet, was reif war, bunte Blätter überall, mir wurde richtig großartig ums Herz, ich dachte: Das ist jetzt.”
Einverstanden: Das ist Pathos und Ironie. Ein paar Zeilen weiter heißt es: “… ein phantastischer Moment, fand ich, und hielt es kaum aus”. Das geht in die gleiche Richtung der Selbstbeobachtung. Das ist ein interessanter Ansatz, gerade als Figurenrede.
Trotzdem tue ich mich mit der Sprache schwer. Der Ich-Erzähler erlebt die Zugfahrt (bzw. den Blick aus dem Fenster) als Überblendung von Realität und einer Filmsequenz, und der nächste Satz heißt dann: “Ich musste immer wieder hinsehen und mich wieder abwenden, um sicherzugehen, dass ich nicht aus der sozialen Situation, ein Mensch unter anderen in diesem Zug zu sein, völlig verlorenging.” Später heißt es: “… der Kleber, der mich und die Welt dieser öffentlichen Interaktion zusammenhält, schien mir ohnehin schon reichlich ausgetrocknet.” Er überlegt sich, ob er lesen soll, weil das “gut geeignet war, um sich hier in die Fahrgastgesellschaft zu integrieren”.
Sind das literarisch gelungene Sätze? “soziale Situation”, “öffentliche Interaktion” “sich integrieren” – das sind Formeln, an denen ich beim Lesen abrutsche.
Danke wiederum für Ihre Antwort und die Erklärung Ihrer Vorgehensweise! Ein interessanter Ansatz, nur würde ich gerne noch genauer wissen, nach welchen Maßstäben und Kriterien Sie sich Stilfragen widmen. An dem obigen Beispiel kann ich Ihre Irritation bei Schlagwörtern wie „soziale Situation“, „öffentliche Interaktion“ „sich integrieren“ verstehen, mir persönlich kommt es aber wie die authentische Figurenrede eines einfältigen, mit Halbwissen vollgestopftem Anfang Dreißigjährigen vor, der seine Umgebung auf eine naive und seltsam verkopfte Weise wahrnimmt. Diese Wahrnehmungsweise wird jedoch als solche ausgestellt, erscheint mir symptomatisch für diese Generation, weshalb ich den Erzählton in seiner Konzeption durchaus relevant finde, obwohl das natürlich keine wohlklingenden Sätze à la Flaubert sind. Deswegen die ehrliche Frage, was Ihre Maßstäbe für die Stilkritik sind.
Was ich mit der “von romanesken Strukturen überlagerten Welt” meine ich, was sich hier schon andeutet: Der Ich-Erzähler befindet sich im Zug und inszeniert den Moment und sich selbst auf eine Art und Weise, wie er sie unmöglich selbst aus dem Moment heraus erfunden hat, sondern nach einer Ästhetik, die er aus Büchern und Filmen kennt. Er sieht die herbstliche Landschaft und weiß sofort, welchen symbolischen Gehalt er ihr zuzuordnen hat, der Blick aus dem Fenster und die gesehene Überblendung von Realität und einer Filmsequenz ist hier fast wortwörtlich zu verstehen.
Max Frisch hat in Montauk einige Überlegungen dahingehend angestellt, dass der Autor sich vor Gefühlen und Gegebenheiten scheut, die sich nicht literarisch verwerten lassen, dass er ununterbrochen dabei ist, seine Wahrnehmung nach romanesken Strukturen zu ordnen.
Roman Ehrlich führt diesen Gedanken fort, indem er diese ständig literarisierende Verarbeitung der Realität nicht nur beim Schriftsteller, sondern bei allen in irgendeiner Art und Weise Fiktion konsumierenden Menschen diagnostiziert. Dass wir zu ständigem Erzählen über uns selbst und unser Leben neigen, darüber schrieb auch Max Frisch schon, Roman Ehrlich bezieht dieses Erzählen nun noch auf die konkreten Geschichten unserer Zeit, indem er real existierende Filme nacherzählt, Bücher erfindet, die es geben könnte und damit eine fiktionale Ebene innerhalb des Roman konstituiert, die die Lebensrealität des Ich-Erzählers im Kontrast vermeintlich realer erscheinen lässt. Im Laufe des Romans nimmt die fiktionale Ebene und die literarisch verarbeitende Sichtweise des Ich-Erzählers überhand, wie gesagt fangen die Mitwirkenden im „Schrecklichen Grauen“ an, Geschichten aus Filmen und Büchern als eigene zu erzählen. Sie spinnen sich – wie der Ich-Erzähler – selbst in die Fiktion hinein.
Natürlich sind die Passagen, in denen Regisseur Christoph zu Wort kommt, wahnsinnig abgedroschen – aber meines Erachtens dient das nur der Charakterisierung Christophs als “wandelnde Fiktion”.
Sicher hat der Roman einige Schwächen, aber konzeptuell finde ich ihn genial und auch thematisch hochaktuell.
Deswegen kann ich nicht ganz nachvollziehen, was Sie an dem Stil bemängeln, der ja lediglich einen bestimmten Personentypus auf eine – wie ich finde – gelungene Art und Weise – ausstellt.
Sie stellen spannende Fragen. Nach welchen Kriterien beurteile ich den Stil eines Texts/Textausschnitts? Genau darüber möchte ich auf tell nachdenken (und andere zum Nachdenken anregen). Ich tue es einerseits in der Reihe “Satz für Satz”, andererseits implizit im Page-99-Test. Es gibt kein Kriterium, das immer gilt, und die subjektive Wahrnehmung lässt sich nie ausschalten, im Gegenteil: Mit ihr beginnt jedes Urteil. Ein Vergleich: Man trinkt einen Schluck Wein und weiß sofort, ob der gut ist… je mehr Erfahrung im Wein-Trinken man hat, desto besser kann man es erkennen. Dann stellt sich natürlich sofort die Frage: Ist das zufällig ein Wein, der MIR schmeckt, oder hat er Eigenschaften, die ihn aus der Masse der Weine herausheben? Das ist dann der zweite Schritt: “begreifen, was mich ergreift” (Emil Staiger)
Ich bin so vermessen zu sagen, dass es Gründe dafür gibt, wenn ein Text mich entflammt oder kalt lässt. Ich erwarte von guter Literatur, dass sie mich in einen anderen (sprich: wacheren, gesteigerten, d.h. irgendwie intensivierten) Bewusstseinszustand versetzt. Ist das ein taugliches Kriterium? Virginia Woolf schreibt irgendwo (ich kann die Stelle nicht mehr finden), dass ein Text ihr entweder Energie entzieht oder zufügt, es geht um Aufladung. Das ist natürlich subjektiv, doch dann kommt eben der zweite Schritt (jedenfalls in der Literaturkritik): herausfinden, mit welchen objektiv nachweisbaren Eigenschaften der Text diese subjektive Wirkung auslöst.
Um bei diesen Begriffen zu bleiben (man könnte es auch anders beschreiben): Die Lektüre der ersten 100 Seiten von Roman Ehrlichs Roman habe ich als Energie-Abfall erlebt – was genau mit dem zu tun hat, was Sie so genau beschreiben: Die Figurenrede “eines einfältigen, mit Halbwissen vollgestopftem Anfang Dreißigjährigen”, nachher geht es mit dem Regisseur Christoph offenbar in ähnlichem Stil weiter. Das kann man machen – es ist dann jedoch eine denunzierende Art des Schreibens, von der ich mir nicht sicher bin, ob sie literarisch viel wert ist (heikle Frage!). Ich anerkenne, dass hier möglicherweise ein Typus vorgeführt wird, doch das mag ich nicht 600 Seiten lang lesen, d.h. die Figurenrede ist für mich uninteressant, ich habe es nach ein paar Seiten kapiert, und so einem würde ich auch im “realen” Leben nicht stundenlang zuhören wollen. Vielleicht ist Roman Ehrlichs Roman ein ähnliches Projekt wie Flauberts “Bouvard et Pécuchet”. Auch diesen Roman übrigens habe ich nicht zu Ende gelesen, denn das Denunzieren menschlicher Dummheit langweilt mich (sprich: entzieht mir Energie).
Ehrlichs Konzept, wie Sie es beschreiben, mag genial sein. Aber ist der Roman nicht insgesamt etwas Ausgedachtes, Konstruiertes (ein weiteres Kriterium…)? Das hat ja bereits Jürgen Kiel in seinem Beitrag “Der weiße Elefant der Literaturkritik” konstatiert. Selbst wenn damit ein geniales Konzept durchexerziert wird: Ich mag mir keine Filme nacherzählen lassen (außer sie würden auf geniale Weise nacherzählt, so dass damit wieder ein eigener, energiegeladener Text entsteht). Kann es sein, dass dieser Roman mit sehr viel Absicht geschrieben wurde? Dabei leidet meistens die Kunst (noch ein Kriterium, über das man länger nachdenken könnte/sollte).
Was mich interessieren würde: Wie ging es Ihnen beim Lesen?
Wir haben auf tell auch schon verschiedentlich über Sinn und Zweck des Page-99-Test diskutiert: “Wo stößt der Page-99-Test an seine Grenzen?” und “Das Kerngeschäft der Literaturkritik” (dies als Replik auf eine kritische Glosse in der FAZ).
Tatsächlich hinkt die Literatur-bzw Stilkritik im Vergleich mit einem Weißwein-Vergleich. Oder wie es selbst Peyman im Öffentlich-rechtlichen Rundfunk sagte: Es ist eine veraltete Art von Kritik. Das Abhangeln an einzelnen Sätzen, Formulierungen wird nicht mehr den vielschichtigen Ebenen der jungen Literatur gerecht.
Einverstanden: Das Abklopfen einzelner Sätze wird einem Buch noch nicht gerecht, deshalb ersetzt der Page-99-Test ja auch keine Rezension. Doch halte ich Stilkritik keineswegs für veraltet. Wer liest, setzt sich der Sprache des Autors aus. Die unmittelbare Begegnung mit dem Kunstwerk findet nun einmal im Medium der Sprache statt, da gebe ich Jürgen Kiel in seinem Essay recht. Am Stil kommt man nur dann vorbei, wenn man sich beim Lesen taub stellt. Warum sollte man sich und der Literatur das antun? Es wäre der Verzicht auf Ästhetik. Doch das ist vielleicht genau das, was uns beim Lesen belebt, aufweckt, verstört oder verzückt.
Auch ich will es nochmal in diese Richtung wiederholen: Literaturkritik in einem gelungenen Sinne – also nicht bloß eine den Inhalt nacherzählende Besprechung – situiert den Roman im Feld der Literatur, also im Verhältnis zu anderen Büchern, sie zeigt seinen Kontext, weist darauf, was ästhetisch neu ist, wo das Buch etwas macht, was es bisher so nicht gab: in Sprache, in der Erzählperspektive, in der Geschichte, in der ästhetischen Form. Um diese Sezierarbeit zu leisten und im Detail zu unternehmen, ist eine Sache wie der Page 99-Test hilfreich. Aber Sprache ist eben nicht gleich Sprache: Das Sujet Clemens Meyers bedingt eine lakonische Erzählhaltung, erfordert ein ganz anderes poetisches Sprechen als etwa in Peter Handkes schweifendem Spaziergang vom Rande der Stadt in deren Zentrum hinein. Insofern hängt die Sprache eines Textes mit dem Sujet und dem zusammen, was erzählt wird. Das kann eine Sprache sein, die eigentlich nicht typisch für eine Figur ist oder eben eine Sprache, die das Milieu der Figur einfängt. Solche Aspekte gelungenen Stils entscheiden sich im Detail.
Diesen Kontext und den Blick aufs Gesamte des Buches kann ein solcher Page 99-Test freilich nicht leisten. Insofern sehe ich diesen Test als ein heuristisches Mittel für eine umfassende Literaturkritik. Denn Stilanalyse kann man an jeder beliebigen Stelle des Buches vornehmen. Page 99 spielt damit. Eine in die Tiefe gehende Kritik würde sich dann eine Passage heraussuchen, anhand derer etwas zu zeigen und nachzuweisen ist: Gelingende oder mißlingende Sprache.