Elena Ferrante-min

Um es gleich zu sagen: Hier schreibt (und übersetzt!) jemand, der oder die die Klaviatur der Syntax virtuos beherrscht. Es ist von einem Mord die Rede, doch der wahre Krimi findet in der Sprache statt. Zugleich erleben wir ein musikalisches Kunstwerk.

Wie es sich für einen Krimi gehört, fängt es harmlos an. Die Adjektive in den ersten drei Zeilen sind so konventionell, dass ich nichts erwarte: Der Mann ist stämmig, sein Bauch beeindruckend (ein Adjektiv ohne Inhalt), seine Augen blau, die Stirn (richtig geraten) hoch – nein, sie ist sehr hoch (das hätte eine Warnung sein können), der Stock dunkel.

Hoppla! Dieses Adjektiv würde ich bei einem Stock nicht erwarten. Dunkel ist etwas anderes als braun oder schwarz, es reicht ins Moralische. Ein Tremolo also. Und schon geht’s los:

Silvio Solara (…) hatte einen dunklen Stock unter dem Tresen, mit dem er mir nichts, dir nichts
jeden verprügelte, der seine Zeche nicht bezahlte,
jeden, der hatte anschreiben lassen und am Fälligkeitstag seine Rechnung nicht begleichen wollte und
jeden, der Abmachungen traf, sie dann aber nicht einhielt und

Eine kunstvoll gedrechselte Aufzählung, die wir hinunterrasen, als wäre es eine Treppe. Bis zum diesem letzten „und“. Weil es aussieht wie eine Treppenstufe, stolpern wir. Doch dieses „und“ schert aus: Es dient nicht der Aufzählung, sondern verbindet zwei Satzteile. Auf einmal sind wir wieder auf der Ebene des dunklen Stocks,

mit dem er mir nichts, dir nichts jeden verprügelte (…), und häufig halfen ihm seine Söhne Marcello und Michele dabei, halbwüchsige Jungs, die noch härter zuschlugen als ihr Vater.

Der Text spielt mit unserer Erwartung:

mit dem er mir nichts, dir nichts jeden verprügelte (…), und häufig halfen ihm seine Söhne Marcello und Michele dabei, halbwüchsige Jungs <wir winken ab>, die noch härter zuschlugen als ihr Vater <Was?!>.

Die Conclusio:

Man teilte Prügel aus und bekam welche.

Die ganze Kadenz mit all ihren Finten klingt in diesem schlichten Satz nach, der sich in einem perfekten Gleichgewicht befindet, im Stillstand sozusagen. Die Form erzeugt Bedeutung: Sie verleiht der Aussage eine Selbstverständlichkeit, als wäre nichts dabei, dass man Prügel austeilt und welche bekommt.

Danach gingen die Männer nach Hause, noch gereizter
von den Verlusten im Spiel,
vom Alkohol,
von den Schulden,
von den Fälligkeitsterminen und
von den Schlägen, und

Der Trick von vorhin wird wiederholt: wieder eine Aufzählung – und ein „und“ als Falle. Diesmal sind wir immerhin durch das Komma gewarnt, das den Hauptsatz ankündigt. In der Musik darf man nichts zwei Mal auf die gleiche Art sagen: Eine Wiederholung bezieht ihre Wirkung aus der Veränderung, meist in Form einer Steigerung. Genau dies tut die Autorin hier, und sie bedient sich dabei des Trugschlusses, wie man ihn aus der klassisch-romantischen Musik kennt. Dieses „und“ verbindet nicht nur zwei Hauptsätze, es leitet von der Ursache über zur Wirkung:

und beim ersten falschen Wort verprügelten sie Frau und Kinder,
eine Kette von Unrecht, das weiteres Unrecht auslöste.

Nun haben wir den Höhepunkt des Absatzes erreicht. Der ganze Text zielt auf diesen abschließenden Befund hin: von den Prügeln mit Silvio Solaras dunklem Stock über die Halbwüchsigen, die härter zuschlagen als der Vater bis hin zu den von den Prügeln gereizten Männer, die zu Hause wiederum Frau und Kinder verprügeln – ein musikalischer Bogen, zu lesen in perfektem Legato.

Auf dem Höhepunkt tut die Autorin etwas Atemberaubendes: Sie erlaubt sich einen Registerwechsel, unmerklich. Nachdem wir die ganze Zeit konkrete Dinge gesehen haben wie in einem Film, dreht sich der Erzähler unvermittelt um und kommentiert das Geschehen auf der Leinwand: „Was Sie eben gesehen haben, meine Damen und Herren, ist eine Kette von Unrecht, das weiteres Unrecht auslöst.“

Wer sich so etwas leisten kann, ohne dass man sich beim Lesen geschulmeistert fühlt, ist in der Beherrschung seiner Mittel souverän.

Ohne Pause geht es gleich weiter. Und zwar auf der Leinwand, mit einem kühnen Schnitt.

Mitten in dieser langen Ferienzeit geschah etwas, das alle erschütterte, doch auf Lila eine ganz besondere Wirkung hatte <Spannungsaufbau>. Don Achille, der schreckliche Don Achille <also doch nur ein Witz?>, wurde am frühen Nachmittag eines erstaunlich regnerischen Augusttages <zwinkern mit Adjektiven> in seiner Wohnung ermordet <Was?! Wenn auch noch kein Paukenschlag, dazu ist das Wort zu nüchtern>.

Die Katze ist also aus dem Sack (resp. dem Satz). Nachdem wir nun wissen, was passiert ist, erfahren wir, wie es geschah:

Er war in der Küche und hatte gerade das Fenster geöffnet, um etwas frische Regenluft hereinzulassen <alltäglicher geht es nicht>. Dazu hatte er extra seine Mittagsruhe unterbrochen und war aus dem Bett aufgestanden <es geht noch alltäglicher>. Er trug einen stark verschlissenen, hellblauen Schlafanzug und an den Füßen nur gelbliche Socken, die an den Fersen schwarz verfärbt waren <einschläfernd, die vielen Adjektive bremsen den Erzählfluss>. Kaum <Päng!> hatte er das Fenster geöffnet, traf ihn ein Regenschauer <ach so, Fehlalarm> ins Gesicht und rechts am Hals <auch dort trifft ihn der Regenschauer>, genau zwischen Unterkiefer und Schlüsselbein <jaja, so genau wollten wir es gar nicht wissen>, ein Messerstich <Was?!>.

Laut Paul Valéry ist Literatur die Kunst, mit der Seele der anderen Menschen sein Spiel zu treiben. Elena Ferrante betreibt ein syntaktisches Kammerspiel mit unseren Erwartungen. Sie tut es mit Präzision und Witz, wie man am letzten Satz sehen kann, der uns zuerst wieder in die Irre führt.

Das Blut spritzte aus seinem Hals <Kolportage> und traf einen an der Wand hängenden Kupfertopf <die Pointe sitzt in der Genauigkeit>.
Angaben zum Buch
Elena Ferrante
Meine geniale Freundin
Roman
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
Suhrkamp-Verlag 2016 · 422 Seiten · 22,00 Euro
ISBN: 9783518425534
Elena Ferrante
Bei Amazon oder buecher.de

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Von Sieglinde Geisel

Journalistin, Lektorin, Autorin. Gründerin von tell.

7 Kommentare

  1. danke für diesen Beitrag! Ich wollte gerade am liebsten gleich zwei Sternchen als „Gefällt mir“ hinterlassen, so verfasse ich eben einen Kommentar. Beim Lesen der abgebildeten Auszugsseite fiel mir die geschickte Verwendung von Fokus und Abschweifung auf, die Zeitraffung und Zeitdehnung, bei der das Bild von jemandem an der Nähmaschine vor meinen Augen entstand, der oder die Stoff glattzieht oder bauscht, bevor die Nadel sich setzt, danke für die ausführliche Beschreibung und Begründung der bei mir nur kurz aufgekommenen Impression, es ist sehr interessant zu lesen!

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    1. Schöner Hinweis auf die Tempi-Wechsel. Das ist ein weiterer Hinweis darauf, dass es sich hier um einen gestalteten Text handelt und nicht um Trivialliteratur, wie Thomas Steinfeld in der SZ behauptet.

  2. Ja, hoffentlich liest es auch der Herr Steinfeld, der die Frauengeschichte doch so gerne einfach unter Kitsch abgehakt hatte, aber der Haken hat nicht gehalten.

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  3. Thomas Steinfelds Reaktion auf Ferrante ist die gehaltvollste, die ich bisher gelesen habe – vor, während und nach der Ferrante-Lektüre.

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    1. Steinfeld stellt elegante Behauptungen auf, die er aber nicht am Text belegt. Würde mich interessieren, was Du zu meinem Page-99-Test sagst – der Befund hat sich in der Gesamtlektüre bestätigt. Ferrante spielt souverän mit der Erwartung des Lesers.

  4. Raul Regenzwei 13. März 2018 um 14:45

    Man könnte beim Lesen von Steinfeld meinen, es handele sich um einen Erwachsenen, der beschlossen hat, die Süssigkeiten seiner Kindheit nicht mehr anzurühren, weil er von ihnen schon genug verspeist hat, und der dann doch wieder eine gegessen hat und nun, anstatt in sich hineinzuhören und der Frage nachzugehen, wie denn die Süssigkeiten der Kindheit schmecken, wie sie jetzt für ihn schmecken, wie sie früher mal geschmeckt haben, ganz einfach kurzen Prozess mach mit Süssigkeiten, sie in die Tonne haut und als minderwertigen Süsskram allen anderen madig macht, die auch vielleicht gerne Süssigkeiten essen. Ich gebe zu, bei mir regt sich beim Lesen Ferrantes keine spontane Abneigung, auch keine reflektierte, deshalb begegne ich Steinfelds Rezension auch mit Skepsis. Ist er vielleicht neidisch? Es ist die Frage, ob das, was Steinfeld an Ferrante als Mängel beschreibt, nicht vielleicht Eigenschaften sind, die keine Mängel sind.
    Mich fasziniert an Ferrante die scheinbar mühelosen Wechsel der Ebenen und die Introspektion der Erzählerin. Mir scheint, als nerve Steinfeld die dreifache Kombination aus äußerem Erzählen, die eine Handlung hat und jede Menge Prügeleien, Beschimpfungen, Küsse, Herumgerenne, Telefoniererei, dazu kommen vergleichsweise einfache Gefühle wie Verliebtsein, Neid, Aufstiegswünsche, Aufstiegsängste, Konkurrenz, Scham, und als drittes aber Introspektion, Selbstbeobachtung, Auftrennung von einfachen Gefühlen in ein Spektrum von Zeitebenen, Gefühlen.
    Steinfeld scheint mir zu sagen, dass Ferrante, weil sie sich mit einfachen Handlungen überhaupt abgibt und diese anschaulich werden lässt, schon zu billig ins Feld von Kino begibt, und dass er dann andere Ebenen nicht mehr sehen oder anerkennen oder gut finden will.
    Ich finde es gut, dass Steinfeld wenigstens einen Versuch macht, sich gegen die Überrumpelung durch Kunst zu wehren. Mein Ansatz bei Ferrante war bei den Bänden 1-3 eher, mich überrumpeln zu lassen, bei Band 4 bin ich jetzt so weit, dass ich das, was mich da überrumpelt, auch ganz gerne anschauen und verstehen wollen würde.

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