Um es gleich zu sagen: Hier schreibt (und übersetzt!) jemand, der oder die die Klaviatur der Syntax virtuos beherrscht. Es ist von einem Mord die Rede, doch der wahre Krimi findet in der Sprache statt. Zugleich erleben wir ein musikalisches Kunstwerk.
Wie es sich für einen Krimi gehört, fängt es harmlos an. Die Adjektive in den ersten drei Zeilen sind so konventionell, dass ich nichts erwarte: Der Mann ist stämmig, sein Bauch beeindruckend (ein Adjektiv ohne Inhalt), seine Augen blau, die Stirn (richtig geraten) hoch – nein, sie ist sehr hoch (das hätte eine Warnung sein können), der Stock dunkel.
Hoppla! Dieses Adjektiv würde ich bei einem Stock nicht erwarten. Dunkel ist etwas anderes als braun oder schwarz, es reicht ins Moralische. Ein Tremolo also. Und schon geht’s los:
jeden verprügelte, der seine Zeche nicht bezahlte,
jeden, der hatte anschreiben lassen und am Fälligkeitstag seine Rechnung nicht begleichen wollte und
jeden, der Abmachungen traf, sie dann aber nicht einhielt und
Eine kunstvoll gedrechselte Aufzählung, die wir hinunterrasen, als wäre es eine Treppe. Bis zum diesem letzten „und“. Weil es aussieht wie eine Treppenstufe, stolpern wir. Doch dieses „und“ schert aus: Es dient nicht der Aufzählung, sondern verbindet zwei Satzteile. Auf einmal sind wir wieder auf der Ebene des dunklen Stocks,
Der Text spielt mit unserer Erwartung:
Die Conclusio:
Die ganze Kadenz mit all ihren Finten klingt in diesem schlichten Satz nach, der sich in einem perfekten Gleichgewicht befindet, im Stillstand sozusagen. Die Form erzeugt Bedeutung: Sie verleiht der Aussage eine Selbstverständlichkeit, als wäre nichts dabei, dass man Prügel austeilt und welche bekommt.
von den Verlusten im Spiel,
vom Alkohol,
von den Schulden,
von den Fälligkeitsterminen und
von den Schlägen, und
Der Trick von vorhin wird wiederholt: wieder eine Aufzählung – und ein „und“ als Falle. Diesmal sind wir immerhin durch das Komma gewarnt, das den Hauptsatz ankündigt. In der Musik darf man nichts zwei Mal auf die gleiche Art sagen: Eine Wiederholung bezieht ihre Wirkung aus der Veränderung, meist in Form einer Steigerung. Genau dies tut die Autorin hier, und sie bedient sich dabei des Trugschlusses, wie man ihn aus der klassisch-romantischen Musik kennt. Dieses „und“ verbindet nicht nur zwei Hauptsätze, es leitet von der Ursache über zur Wirkung:
eine Kette von Unrecht, das weiteres Unrecht auslöste.
Nun haben wir den Höhepunkt des Absatzes erreicht. Der ganze Text zielt auf diesen abschließenden Befund hin: von den Prügeln mit Silvio Solaras dunklem Stock über die Halbwüchsigen, die härter zuschlagen als der Vater bis hin zu den von den Prügeln gereizten Männer, die zu Hause wiederum Frau und Kinder verprügeln – ein musikalischer Bogen, zu lesen in perfektem Legato.
Auf dem Höhepunkt tut die Autorin etwas Atemberaubendes: Sie erlaubt sich einen Registerwechsel, unmerklich. Nachdem wir die ganze Zeit konkrete Dinge gesehen haben wie in einem Film, dreht sich der Erzähler unvermittelt um und kommentiert das Geschehen auf der Leinwand: „Was Sie eben gesehen haben, meine Damen und Herren, ist eine Kette von Unrecht, das weiteres Unrecht auslöst.“
Wer sich so etwas leisten kann, ohne dass man sich beim Lesen geschulmeistert fühlt, ist in der Beherrschung seiner Mittel souverän.
Ohne Pause geht es gleich weiter. Und zwar auf der Leinwand, mit einem kühnen Schnitt.
Die Katze ist also aus dem Sack (resp. dem Satz). Nachdem wir nun wissen, was passiert ist, erfahren wir, wie es geschah:
Laut Paul Valéry ist Literatur die Kunst, mit der Seele der anderen Menschen sein Spiel zu treiben. Elena Ferrante betreibt ein syntaktisches Kammerspiel mit unseren Erwartungen. Sie tut es mit Präzision und Witz, wie man am letzten Satz sehen kann, der uns zuerst wieder in die Irre führt.
Meine geniale Freundin
Roman
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
Suhrkamp-Verlag 2016 · 422 Seiten · 22,00 Euro
ISBN: 9783518425534
danke für diesen Beitrag! Ich wollte gerade am liebsten gleich zwei Sternchen als „Gefällt mir“ hinterlassen, so verfasse ich eben einen Kommentar. Beim Lesen der abgebildeten Auszugsseite fiel mir die geschickte Verwendung von Fokus und Abschweifung auf, die Zeitraffung und Zeitdehnung, bei der das Bild von jemandem an der Nähmaschine vor meinen Augen entstand, der oder die Stoff glattzieht oder bauscht, bevor die Nadel sich setzt, danke für die ausführliche Beschreibung und Begründung der bei mir nur kurz aufgekommenen Impression, es ist sehr interessant zu lesen!
Schöner Hinweis auf die Tempi-Wechsel. Das ist ein weiterer Hinweis darauf, dass es sich hier um einen gestalteten Text handelt und nicht um Trivialliteratur, wie Thomas Steinfeld in der SZ behauptet.
Oder Stefan Mesch https://stefanmesch.wordpress.com/2016/06/16/elena-ferrante-meine-geniale-freundin-die-neapolitanische-saga/
Ja, hoffentlich liest es auch der Herr Steinfeld, der die Frauengeschichte doch so gerne einfach unter Kitsch abgehakt hatte, aber der Haken hat nicht gehalten.
Thomas Steinfelds Reaktion auf Ferrante ist die gehaltvollste, die ich bisher gelesen habe – vor, während und nach der Ferrante-Lektüre.
Steinfeld stellt elegante Behauptungen auf, die er aber nicht am Text belegt. Würde mich interessieren, was Du zu meinem Page-99-Test sagst – der Befund hat sich in der Gesamtlektüre bestätigt. Ferrante spielt souverän mit der Erwartung des Lesers.
Man könnte beim Lesen von Steinfeld meinen, es handele sich um einen Erwachsenen, der beschlossen hat, die Süssigkeiten seiner Kindheit nicht mehr anzurühren, weil er von ihnen schon genug verspeist hat, und der dann doch wieder eine gegessen hat und nun, anstatt in sich hineinzuhören und der Frage nachzugehen, wie denn die Süssigkeiten der Kindheit schmecken, wie sie jetzt für ihn schmecken, wie sie früher mal geschmeckt haben, ganz einfach kurzen Prozess mach mit Süssigkeiten, sie in die Tonne haut und als minderwertigen Süsskram allen anderen madig macht, die auch vielleicht gerne Süssigkeiten essen. Ich gebe zu, bei mir regt sich beim Lesen Ferrantes keine spontane Abneigung, auch keine reflektierte, deshalb begegne ich Steinfelds Rezension auch mit Skepsis. Ist er vielleicht neidisch? Es ist die Frage, ob das, was Steinfeld an Ferrante als Mängel beschreibt, nicht vielleicht Eigenschaften sind, die keine Mängel sind.
Mich fasziniert an Ferrante die scheinbar mühelosen Wechsel der Ebenen und die Introspektion der Erzählerin. Mir scheint, als nerve Steinfeld die dreifache Kombination aus äußerem Erzählen, die eine Handlung hat und jede Menge Prügeleien, Beschimpfungen, Küsse, Herumgerenne, Telefoniererei, dazu kommen vergleichsweise einfache Gefühle wie Verliebtsein, Neid, Aufstiegswünsche, Aufstiegsängste, Konkurrenz, Scham, und als drittes aber Introspektion, Selbstbeobachtung, Auftrennung von einfachen Gefühlen in ein Spektrum von Zeitebenen, Gefühlen.
Steinfeld scheint mir zu sagen, dass Ferrante, weil sie sich mit einfachen Handlungen überhaupt abgibt und diese anschaulich werden lässt, schon zu billig ins Feld von Kino begibt, und dass er dann andere Ebenen nicht mehr sehen oder anerkennen oder gut finden will.
Ich finde es gut, dass Steinfeld wenigstens einen Versuch macht, sich gegen die Überrumpelung durch Kunst zu wehren. Mein Ansatz bei Ferrante war bei den Bänden 1-3 eher, mich überrumpeln zu lassen, bei Band 4 bin ich jetzt so weit, dass ich das, was mich da überrumpelt, auch ganz gerne anschauen und verstehen wollen würde.