Was verraten uns Klassiker über die Gegenwart? Lohnt es sich, außerhalb des Mainstreams nach Büchern zu suchen? Mit der Reihe „Die Hundertjährigen“ widmen wir uns Autoren aus dem vergangenen Jahrhundert, die ins Abseits der Literaturgeschichte geraten sind.

Mitte des 19. Jahrhunderts stand der Nerd noch in den Sternen. Dass irgendwann coole Sportstudenten T-Shirts mit Marvel-Superhelden-Aufdruck tragen würden, konnte damals niemand ahnen. Inzwischen haben Nerds nach der Macht gegriffen – und nach dem Plastik-Laserschwert von Toys „R“ Us. The Big Bang Theory, Mark Zuckerberg und Hornbrillen – all das wäre undenkbar ohne Kurd Laßwitz, den Stammvater der deutschen Science-Fiction.

Sternzeit: 1848 bis 1871 – Die Schule der Zukunft

Der Science-Fiction-Autor Kurd Laßwitz

Mit dem Roman „Auf zwei Planeten“ revolutioniert Kurd Laßwitz die Science-Fiction-Literatur.

Über die Kindheit von Kurd Laßwitz ist nur wenig bekannt. Sein Breslauer Jugendfreund Max Kalbeck erinnert sich später, dass der 1848 geborene Laßwitz ein echter Rabauke gewesen sei, Himbeer- und Nussblätter in der Pfeife geraucht sowie Birnen aus fremden Gärten geklaut habe (in Über Kurd Laßwitz). Ein durchschaubarer Versuch der Ehrenrettung. Denn bleiche, mathematisch begabte Jünglinge wie Laßwitz, die obendrein eine eigene Sternwarte besitzen, haben auf dem Schulhof in der Regel nichts zu lachen. Streber dürften damals genauso beliebt gewesen sein wie heute.

Knapp zwei Jahrzehnte später wird Laßwitz seine Vision einer perfekten Schule beschreiben, die an Huxleys Schöne neue Welt oder Matrix erinnert. Lehrer, Klassenkameraden oder Noten sind in dieser Utopie abgeschafft, Wissen wird stattdessen direkt ins Gehirn heruntergeladen. In seiner Erzählung Gegen das Weltgesetz, die im Jahr 3877 spielt, heißt es:

Wie einfach ist die Sache jetzt! Hier ein Zug am Großhirnlappen, ein dauernder Strom durch den Fuß des Hirnschenkels, eine kräftigende Behandlung des Linsenkerns – und nach zwei Jahren ist der fünfjährige Mensch bereit, unbehindert seiner Körperentwicklung in die großen Probleme der Wissenschaft und des Daseins eingeführt zu werden.

Laßwitz selbst dürfte noch ganz andere Unterrichtsmethoden kennengelernt haben: Stockschläge und Daumenschrauben. Wahrscheinlich atmet er auf, als er sich im Jahr 1866 für ein Mathematikstudium an der Universität Breslau (später auch in Berlin) einschreibt. Zu seinen Nebenfächern gehören außerdem Physik und Philosophie. Laßwitz beschäftigt sich mit der Kapillarität nach Laplace und Gauß und schreibt seine Abschlussarbeit über Tropfen, welche an festen Körpern hängen und der Schwerkraft unterworfen sind. Die Promotion besteht er mit Magna cum laude.

Sternzeit: 1871 – Die Zukunft als Zerrbild der Gegenwart

Als Schriftsteller kann Kurd Laßwitz später auf einen reichen Wissensschatz bauen. Seine physikalischen und philosophischen Beobachtungen nutzt er geschickt, um die Technologie der Zukunft zu imaginieren. Dem jungen Studenten fehlt allerdings noch die Lebenserfahrung. Während des Deutsch-Französischen Krieges lässt er sich vom Patriotismus anstecken und meldet sich 1871 freiwillig zum Militärdienst. Eine ernüchternde Erfahrung. Sein späteres Werk widmet Laßwitz dem Protest gegen Militarismus, Imperialismus und Kadavergehorsam – kurz: die Grundwerte Bismarck-Deutschlands.

Postkarte mit Motiven aus Science-Ficiton-Erzählungen von Kurd Laßwitzmotiven

Postkarte aus dem Jahre 1900: Um die Jahrhundertwende lagen der berühmten Hildebrand-Schokolade Postkarten bei, deren Motive auf Geschichten von Kurd Laßwitz anspielen. In diesem Fall: Die Wasserschuhe aus der Erzählung „Apoikis“.

Pazifistische Ideen prägen das gesamte Werk von Kurd Laßwitz. In seinem Opus Magnum, dem utopischen Roman Auf zwei Planeten, findet er ein satirisches Bild, um den waffenstarrenden Stolz des Deutschen Reichs ins Lächerliche zu ziehen. Die Geschichte handelt vom ersten Kontakt zwischen Marsianern und Menschen. Als schließlich ein interplanetarer Konflikt zwischen den Rassen ausbricht, entwaffnen die überlegenen Aliens das Deutsche Heer ruckzuck mit einem Magneten:

Vergeblich umklammerten die Soldaten mit beiden Händen ihre Gewehre, eine unwiderstehliche Kraft zerrte sie in die Höhe und mancher, der nicht nachgeben wollte, wurde ein Stück in die Luft geschleudert, um dann schwer zu Boden zu stürzen. In wenigen Minuten war das 1. Garderegiment entwaffnet. […] Binnen kurzem musste so selbst die stärkste Armee kampfunfähig gemacht sein. Auch die Geschütze der Artillerie wurden fortgerissen.

Der Humor ist durchaus gewollt. Laßwitz ist ein Erfinder und Träumer, gleichzeitig aber auch ein genauer Beobachter der Gegenwart. Bereits in seinem Debüt, der Zukunftsnovelle Bis zum Nullpunkt des Seins, entwirft er eine Utopie, die weniger Zukunftsvision als ironisches Zerrbild der Gegenwart ist. Er entfaltet ein Gesellschaftspanorama des Jahres 2371, indem er die Sitten des 19. Jahrhunderts satirisch überspitzt und mit Einfällen wie dem Geruchsklavier oder einem Flugfahrrad vermischt.

Bereits das Frühwerk offenbart allerdings auch jene Schwächen, an denen Laßwitz später scheitern wird. Als Denker ist er genial und originell  – als Schriftsteller leider nur ein mittelmäßiger Stilist. Die Form ist streng, sogar penibel, der Ton belehrend und der nerdtypsiche Witz überstrapaziert, wie in den Mathematik-Gedichten, die Laßwitz schon als Student für die Mathematische Gesellschaft Breslau schreibt. Im Rhythmus zeitgenössischer Schlagermelodien behandeln diese Gedichte kniffelige Rechenaufgaben wie den Kegelschnitt:

Es waren einmal zwei Kegel,
die liebten sich brüderlich,
sie saßen auf gleicher Achse
und küssten am Scheitel sich.
Da kam eine Ebne geflogen,
so glatt wie Ebenen sind;
es zog sie in seine Seite
der eine Kegel geschwind.

Wer das ganze Gedicht lesen will, findet es hier. Einen guten Eindruck davon, wie die Mathematik-Gedichte klingen, wenn man sie vertont, vermittelt dieses Video:

p-q-Formel (Die Lösungsformel) (Mathe-Song)

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Von Johannes Spengler

Studiert Angewandte Literaturwissenschaft in Berlin und arbeitet als freier Autor.

8 Kommentare

  1. Hania Siebenpfeiffer 29. August 2016 um 14:30

    Ein paar Anmerkungen am Rande:
    Das Handzeichen von Spock hat Laßwitz nicht erfunden, sondern umgedeutet. Es handelt sich um einen jüdischen Segensgruss, der auf dem hebräischen Zeichen „Shin“ beruht. Der Clou bei Laßwitz liegt darin, dass er die humanistischen Marsianer mit diesem Zeichen identifiziert, ein versteckter Kommentar gegen den grassierenden Antisemitismus des Wilhelminischen Kaiserreichs.
    Mehrere der im Artikel als Erfindungen von Laßwitz herausgehobenen technischen Neuerungen (Fertiggerichte, Wasserschuhe etc.) stammen ebenfalls nicht von Laßwitz, sondern wurden aus Romanen des 18. Jahrhunderts adaptiert und an die technischen Bedingungen des ausgehenden 19. Jahrunderts angepasst. Auch hier liegt die Leistung weniger in der Antizipation als in der Aktualisierung und Popularisierung. Die wirklich beeindruckende naturwissenschaftliche Erfindung von Laßwitz ist vielmehr das abarische Feld, dessen Existenz und Nutzen Laßwitz auf Grundlage von Einsteins Spezieller Relativitätstheorie vorweggenommen hat (die physikalische Realität abarischer Felder bzw. abarischer Punkte wurde erst in den 20er Jahren von Heisenberg berechnet).
    In Bezug auf die Gattung der deutschsprachigen Science-Fiction ist Laßwitz weder Pionier noch Erfinder. Dieses Verdienst gebührt einem Thüringer Astronom namens Eberard Christian Kindermann, der 1744 mit „Die Geschwinde Reise auf dem Lufft-Schiff nach der obern Welt …“ die erste deutschsprachige SF-Erzählung veröffentlichte, die keine fremdsprachliche Vorlage adaptierte. Und wenn man wirklich an die Anfänge der Gattung zurückgeht, stößt man auf Johannes Keplers 1593 entworfene und postum 1634 veröffentlichte Erzählung „Somnium sive astronomia lunaris“.
    Erzähltechnisch ist bei Laßwitz überaus bemerkenswert, wie er das Problem des Erstkontakts löst. Die Tatsache, dass sich die Marsianer in „Auf zwei Planeten“ bereits auf der Erde befinden, der Erstkontakt damit nicht von der Menschheit ausgeht und im Weltraum oder einem anderen Planeten stattfindet, ist tatsächlich originell, denn so kann die dafür notwendige Technik des Weltraumsflugs als marsianische Technologie imagniert werden, die für die fiktive marsianische Kultur plausibel sein muss, nicht aber für die irdische. Laßwitz hat sich dadurch sehr elegant aus der erzähltechnischen und für die SF konstitutiven Notwendigkeit befreit, einen nach irdischen Maßstäben des späten 19. Jahrhunderts plausiblen Weltraumflug der Menschheit zum Mars zu entwerfen. Seine irdischen Entdecker müssen es nur bis zum Nordpol schaffen, dessen tatsächliche Entdeckung Ende des 19. Jahrhunderts unmittelbar bevorstand. Und dass sie dazu mit einem Heißluftballon unterwegs sind, ist im Jahre 1897 ein alter Hut.
    Schließlich überwiegen die Unterschiede zwischen Wells und Laßwitz die wenigen motivische Gemeinsamkeit wie die marsianische Invasion (die übrigens ebenfalls weder von Wells noch von Laßwitz erfunden wurde, sondern von Maupassant). Die Unterschiede zwischen Wells und Laßwitz fallen besonders auf, wenn man nicht nur die Inhalte der beiden Romane, sondern die Art des Erzählens und miteinander vergleicht. Im Gegensatz zu Wells, der eine Parabel auf das kolonialistische Großbriannien geschrieben hat, versucht Laßwitz mit allen zur Verfügung stehenden erzählerischen Mitteln seine fiktiven sozialen und technischen Neuerungen plausibel zu machen, indem er sie aus dem Wissen des späten 19. Jahrhunderts heraus entwickelt. Deswegen dienen die teilweise ausuferndernden Dialoge zwischen Marsianern und Menschen auch dazu, alle Erfindungen genau zu erklären und ihre Glaubwürdigkeit zu begründen. Bei Wells hingegen werden die SF-typischen Neuerungen wie die marsianischen Raumschiffe, Waffen, Kommunikationsformen etc. überhaupt nicht erklärt, sondern sind einfach gesetzt. Der Fiktionalitätsgrad in Wells „War of the Worlds“ ist damit deutlich höher als in „Auf zwei Planeten“; die literarische Gaubwürdigkeit bei Wells entsprechend deutlich geringer.

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    1. Johannes Spengler 29. August 2016 um 23:05

      Hervorragend, das sind ausgezeichnete Hintergrundinfos. Dass sowohl das Handzeichen der Marsianer in Auf zwei Planeten als auch Spocks Handgruß auf eine jüdische Tradition zurückgehen, ist ein toller Hinweis. In dem Werk von Kurd Laßwitz gibt es immer wieder Momente, in denen er sich versteckt oder sehr offen gegen die Wilhelminische Gesellschaft äußert. In seinem Tagebuch schreibt er sogar: „Die innere Politik Bismarcks wird immer widerwärtiger und unerträglich. Ich bin wieder ganz auf Seite der Fortschrittsparteien getreten.“ (Aus: Über Kurd Laßwitz)
      Was das Alleinstellungsmerkmal von Kurd Laßwitz betrifft: Sicherlich gibt es literarische Vorgänger und Vorbilder. Im Jahr 1865, also zur Schulzeit von Kurd Laßwitz, erscheint etwa der Roman „Von der Erde zum Mond“ von Jules Verne. Und wie Sie in Ihrem Kommentar schreiben, kann die literaturgeschichtliche Linie noch viel weiter gezogen werden.
      Es ist trotzdem nicht ganz willkürlich, den Roman Auf zwei Planeten als einen Ausgangspunkt für die deutsche Science-Fiction-Literatur zu setzen. Die Leistung von Laßwitz ist, dass er den wissenschaftlichen Hintergrund und die technische Imagination mit einer gesellschaftlichen Vision verbunden hat. Die Technologie ist hier kein bloßes Vehikel, um die Erzählung auf anderen Planeten zu situieren. Auch soll der Roman nicht allein dazu dienen, wissenschaftliche Überlegungen zu popularisieren. Stattdessen nutzt Laßwitz die Mittel der Science-Fiction, um eine alternative Gesellschaft zu denken, um durchzuspielen, welche Konsequenzen es hätte, wenn diese Technologie zur Verfügung stünde.
      Die einzelnen Motive von Auf zwei Planeten mögen Teil der Populärkultur seiner Zeit gewesen sein. In dem Roman werden sie allerdings zu einem stimmigen Ganzen zusammengefügt. Laßwitz hat damit zweifellos Schule gemacht. Auf zwei Planeten war zu seiner Zeit durchaus ein Erfolg und fand viele Nachahmer, wurde sogar plagiiert und später von Schriftstellern wie Arno Schmidt als Inspirationsquelle genannt.
      War Kurd Laßwitz ein Erfinder? Sehr gute Frage. Die Vielfalt der technischen Innovationen, die er beschreibt, ist durchaus beeindruckend. In Auf zwei Planeten imaginiert Laßwitz eine ganze Fülle von Maschinen, darunter Raumschiffe, Raumstationen, Häuser, die auf Schienen fahren, Schränke, die Kleidung automatisch sortieren und reinigen, oder Rolltreppen. Die Liste ist sehr lang. Es stimmt, dass Laßwitz dabei bereits vorhandene Ideen aufgegriffen hat. Allerdings beschreibt er diese Ideen bis ins Detail, geradeso als wolle er dazu aufrufen, diese Technologie nachzubauen. In diesem Sinne ist er durchaus ein Erfinder. Denn Laßwitz hat sich nicht mit damit zufriedengegeben, eine Raumstation bloß zu nennen – er liefert die Blaupause gleich mit.
      Über die Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit von Krieg der Welten und Auf zwei Planeten ist bereits viel geschrieben worden. Ausführlich gegenübergestellt werden die beiden Werke unter anderem in dem Aufsatz: The Martians Are Coming! War, Peace, Love, and Scientific Progress in H.G. Wells’s „The War of the Worlds“ and Kurd Laßwitz´s „Auf zwei Planeten“ von Ingo Cornils. Dass es erzähltechnische und inhaltliche Unterschiede zwischen den Werken gibt, steht außer Frage. Trotzdem haben sich Wells und Laßwitz mit derselben Frage beschäftigt: Wie könnte der erste Kontakt zwischen der Menschheit und den Marsianern verlaufen? Allerdings haben sie unter umgekehrten Vorzeichen geschrieben: Krieg der Welten ist eine Dystopie. In Auf zwei Planeten kippt die Utopie erst im Verlauf des Romans, um sich später in eine Dystopie zu verwandeln. Gerade im zweiten Teil von Auf zwei Planeten fallen die im Text genannten Ähnlichkeiten deutlich auf.
      Wie kann man erklären, dass zwei Autoren unabhängig voneinander dasselbe Szenario durchspielen? Es handelt sich hierbei nicht um einen bloßen Zufall der Literaturgeschichte. Wahrscheinlich wurden sowohl Laßwitz als auch H.G. Wells von der Entdeckung der sogenannten „Marskanäle“ inspiriert, einer auffälligen Linienstruktur an der Oberfläche des Mars. Der Astronom Giovanni Schiaparelli hat diese Linien im Jahr 1877 erstmals beschrieben. Tatsächlich sind sie bloß eine optische Täuschung. Ende des 19. Jahrhunderts führten diese Marskanäle jedoch zu wilden Spekulationen darüber, ob der Mars bewohnt ist. Laßwitz und Wells haben dieses Phänomen aus der Populärkultur aufgegriffen.

  2. Hania Siebenpfeiffer 30. August 2016 um 17:50

    Eine ausführliche und in vielen Punkten stimmige Replik — vielen Dank dafür –, bei der jedoch ein Moment unberührt bliebt, nämlich die fehlenden Bezüge zur SF des 17. und mehr noch des 18. Jahrhunderts. Das ist ein generelles Manko der SF-Forschung/ SF-Kritik, egal ob in Deutschland (in den Kinderschuhen) oder in Frankreich (schon weiter gediehen) oder im angelsächsischen Raum (wie immer bei populären Greres auch hier Vorreiter): Die Kenntnisse der älteren SF-Literatur, also derjenigen Erzählungen und Romane, die vor 1800 verfasst wurden, ist heutzutage minimal, was dazu führt, dass Motive, Themen bis hin zu narrativen Strukturen als Erfindungen bzw. Innovationen von Autor/innen des 19. Jahrhunderts ausgegeben werden, die seit mehr als 100 Jahren bekannt waren. Im 19. Jahrhundert kannte man diese Texte noch. Laßwitz z.B. hatte Kindermann gelesen, er wusste also wie eine Blaupause zum Bau eines Luftschiffs in einen literarischen Text integriert werden kann. Er kannte auch Geiger, d.h. er wusste, wie der Besuch eines Marsianers auf der Erde gestaltet werden konnte (oder besser nicht gestaltet werden sollte) und er kannte natürlich die utopische Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Auch die vermeintliche Koinzidenz bei Wells und Laßwitz ist nicht wirklich überraschend, denn Szenarien einer Kolonialisierung der Erde durch den Mars, des Mars durch die Erde oder auch gegenseitig wurde zwischen 1880 und 1910 in rund 25 tw. überaus erfolgreichen Romanen und Erzählungen durchgespielt (mehrere wurden später verfilmt). Ich will die Leistung von „Auf zwei Planeten“ damit nicht schmälern, sie liegt nur nicht so sehr in der Erfindung von Neuem (auch wenn Laßwitz tatsächlich eine Vielzahl technischer Geräte antizipiert), sondern in der ästhetsichen, medialen und politischen Aktualisierung eines bereits etablierten Genres. Und das ist Laßwitz wirklich ausgesprochen gut gelungen.

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  3. „Auf zwei Planeten“ von Kurd Laßwitz ist ohne Frage der bedeutendste deutsche Science-Fiction-Roman des Kaiserreichs, der erheblichen Einfluss auf die spätere deutschsprachige Science-Fiction genommen hat. Darüber hinaus halte ich auch die ständig gegen Laßwitz geäußerten Pejorative in literarischer Hinsicht („geschwätzig“, „langatmig“, „klischeehaft“) für überzogen. Sprachlich ist der Roman angenehm ausgefeilt, und Laßwitz‘ angeblich zu flachen Figuren sind weitaus detaillierter ausgefeilt als beispielsweise in Wells‘ „Krieg der Welten“.
    Die Kommentare von Hania Siebenpfeiffer enthalten eine Menge interessanter Aspekte, sind meines Erachtens aber doch in einigen Punkten zu relativieren. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und vereinzelte Beispiele aus der utopischen bzw. fantastischen Literatur des 18. und 17. Jahrhunderts begründet noch kein zusammenhängendes, literarisches Genre. Die Versuche der Grenzziehung des Begriffs „Science-Fiction“ sind fast so alt wie das Genre selbst, und die Meinungen darüber gehen bis heute stark auseinander. Der SF-Forscher Darko Suvin beispielsweise wollte den Genrebegriff in den 1970er-Jahren sogar bis hin zu den mythisch-sagenhaften Erzählungen der Antike ausweiten, worin ihm praktisch kaum jemand gefolgt ist.
    Ende des 19. Jahrhunderts jedoch begann das Genre der Science-Fiction, sich klar und deutlich auszuformen (auch wenn es erst Ende der 1920er-Jahre seine Benennung erhielt), wobei die Industrialisierung und die gewaltigen Erfolge der Wissenschaften und Ingenieurskünste einen erheblichen Einfluss ausgeübt haben. Und Laßwitz und Wells haben im Zuge dieser Entwicklung ganz erheblichen Einfluss ausgeübt, der innerhalb des Genres bis heute spürbar geblieben ist. Diese Leistung mit Hinweisen auf Kindermann oder Kepler zu relativieren, geht insofern am Kern der Sache völlig vorbei.
    Auch ist die Behauptung falsch, Guy de Maupassant hätte als erster eine Alien-Invasion erzählt — das waren in der Tat H. G. Wells und Kurd Laßwitz. In Maupassants Erzählung „L’Homme de Mars“ (1889) erscheint zwar ein einzelner Marsianer auf der Erde und erzählt davon, wie (möglicherweise sein eigenes) kugelförmiges, geflügeltes Schiff voller Marsianer im Meer versunken sei, doch ist das alles andere als eine feindliche Invasion. Insofern ist es auch nichts mit angeblich 25 Marsromanen, die seit 1880 Laßwitz und Wells vorausgegangen seien und „Szenarien einer Kolonisierung der Erde durch den Mars“ durchgespielt hätten. Das ist schlichtweg falsch. Es gab zahlreiche Marsromane, das stimmt — allerdings reisten in ihnen bis 1897 stets Menschen auf den Mars und nicht umgekehrt (von vereinzelten, zum Teil erwähnten Ausnahmen abgesehen).

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    1. Hania Siebenpfeiffer 10. Oktober 2017 um 11:15

      Da muss ich leider an mehreren Stellen wiedersprechen.

      Zunächst ist der Besuch aus dem All auf der Erde eine Erfindung des frühen 18. und nicht des späten 19. Jahrhunderts; erste Spekulationen darüber finden sich in naturphilosophischen Abhandlungen des 17. Jahrhunderts bpsw. in Fontenelles „Entretiens sur la pluralité de mondes“ oder in Huygens „Cosmotheoros“.

      Dann stammt die systematische Datierung in die Antike nicht von Darko Suvin, sondern von Pierre Versins, von dem Suvin sie aufgreift und diskutiert, wobei er selbst eine Datierung auf die Neuzeit favorisiert. Der einzige antike Text, der im Kontext von Gattungsanfängen auch bei Suvin ernsthafter diskutiert wird, sind Lukians „Verae historiae“/“Alethe diegemata“. Entsprechend liegt das Problem bei Suvins Gattungsdefinition nicht in der zeitlichen Datierung, sondern in einem umfassenden Anspruch, mit „cognitive estrangement“ eine Großgattung definiert zu haben, die nur noch die Differenz SF und Non-SF kennt. Weder Versins Datierung in das 2. Jh. v. Chr. noch Suvins umfassende SF-Defintion sind in Deutschland sonderlich erfolgreich gewesen, was auch daran liegt, dass es im deutschsprachigen Raum kaum eine substantielle Forschung zur SF als Gattung der Frühen Neuzeit gibt; die Diskussionen sich im parawissenschaftlichen Raum von Fanzines und Literaturkritiken bewegen (eine rühmliche Ausnahme ist Roland Innerhofer).

      Schaut man – was in der Frühen Neuzeit auf Grund einer noch nicht ausgebildeten Nationalliteratur nicht anders zu machen ist – über den Tellerrand der deutschsprachigen Literatur auf das literarische Feld in Westeuropa zwischen 1600 und 1770, so finden sich rund 100 Erzählungen und Romane, die in motivischer, thematischer und narrativer Hinsicht zur SF zählen und zwar relativ unabhängig davon, ob man SF mit Marc Angenot semiotisch, mit Umberto Eco narratologisch, mit Damien Broderick motivisch oder mit meinen eigenen Publikationen wissenshistorisch definiert. Deswegen ist die Gattungsdatierung auf 1600 sowohl in der historisch wie in der systematisch arbeitenden aktuellen Literaturwissenschaft inzwischen relativ fraglos akzeptiert.

      Und als letztes der Hinweis, dass sich die Romane/Erzählungen zum literarischen Mars der klassischen Moderne bereits mit einer einfachen Suche im Katalog der Staatsbibliothek Berlin finden lassen. Sie sind nur die berühmte Spitze des Eisbergs; die unselbstständigen Publikationen, d.h. die Erzählungen und Fortsetzungsromane, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ausschließlich in Magazinen erschienen sind, sind noch nicht eingerechnet. Tatsächlich ist der Mars seit der Diskussion um die so genannten Marskanäle in den 1880er Jahren – nach ihrem ‚Entdecker‘ auch Schiaparelli-Kanäle genannt – der am stärksten ‚bearbeitete‘ Planet in der europäischen und us-amerikanischen Populärkultur; v.a. natürlich in der Literatur und im Film.

  4. Lutz Schridde 3. April 2020 um 8:39

    2020, April

    Darf ich mal fragen, welche SF-Autoren wie Lasswitz explizit Kantianer gewesen sind?
    Daneben habe ich die Frage, ob noch andere Autoren ihre Ausserirdischen explizit in eine bestimmte Umweltbeziehung setzten. Wells liess seine Invasoren an irdischer Umwelt biologisch scheitern.

    Hierzu moechte ich notieren, dass der Sohn eines tschechischen Einwanderers in den USA schon frueh die PANTROPIE in der SF vorstellte, das war Clifford D. Simak. Oft vermute ich, dass er Lasswitz gelesen hat oder von ihm gewusst hat, denn er war im Genre gut orientiert.
    Insoweit gewichte ich Kepler gerne als Pionier der kopernikanischen SF, der vielleicht Lasswitz als einziger Deutscher zustimmte. In den USA notiere ich Simak insbesondere mit seinem Roman „Ring around the sun“ als kopernikanisch, mit besonderer Note, denn 1952 war kalter Krieg.

    (Mit besten Gruessen aus China, verzeihen Sie bitte, dass ich vielleicht verzoegert antworten werde.)

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  5. Lutz Schridde 6. Februar 2021 um 6:25

    Nachtrag vom Februar 2021

    Keplers ‚Somnium‘ wird von der Historikerin Ulinka Rublack in ihrem Buch „Der Astronom und die Hexe. Johannes Kepler und seine Zeit“ (EA 2015, deutsch 2018, auch inzwischen in Chinesisch) im biografischen Kontext dargestellt (Konzept der ‚micro-history‘). Kepler starb an einer Erkrankung, die er sich auf dem Weg zu Wallenstein zugezogen hatte – er wollte ‚Somnium‘ persönlich übergeben.

    Lasswitz‘ Biografie fällt in die Zeit des Antimodernismus, wie auch die SF des Sinalco-Unternehmers und Lebensreformers Bilz (siehe zzt Wiederveröffentlichung von „Naturstaat“), und ich erlaube mir den Hinweis auf den von Zeit zu Zeit eskalierenden Populismus, mit dem seinerzeit Lasswitz‘ Ansatz der Wissenschaftspublizistik kontrastiert. Gerade heute gibt es weitere Eskalationen, wie bedauerlich. Man kann sich freilich bei kultivierten Wissenschaftsblogs wie zB scilogs aufmuntern.

    In diesem Zusammenhang favorisiere ich nochmals die Frage nach ‚kopernikanischer‘ SF, die ich im Kontext antimodernistischer Eskalation betrachte, die ihrerseits ins ältere Mittelalter zurückführt. Lasswitz stünde demnach in einer Tradition der ‚Subjektivierung‘ von Zeit, die im 13. Jhdt. klerikal denunziert wurde.

    In der gegenwärtigen SF ist es das Terminator-Franchise, das daraus Profit schlägt und dieses uralte Thema der ‚Singularität‘ (also die These der Unreife für die eigene Schöpfung) in ‚juveniles‘ belässt. Neulich las ist L. Frank Baums Roman „The Master Key“ (gewidmet seinem 15-jährigen Sohn) von 1901, wo dieses Thema noch ohne Genre „SF“ funktionierte. In STAR TREK: Next Generation wird das Prinzip „Tapferkeit trotz mangelnder Erfahrung“ recht ordentlich aufgefächert.

    Ich plädiere somit mindestens für ein ‚Subgenre‘ in der SF, das als Leitthema die wissenschaftliche Ermündigung des Lesers hätte. Dieses Subgenre könnte man historisch betrachten und mit einem weiteren literarischen ‚Subgenre‘ abgleichen, nämlich mit ‚Wissenschaftsgeschichtsschreibung‘. Beide Subgenres differenzieren sich in ihren beiden Genres offenbar aus. Im kalten Krieg hatte Clifford D. Simak mit „Ring around the sun“ vorgeführt, wie im ländlichen Hinterland historisches Interesse populär gewesen ist, dort im Roman erscheinen Leser von Geschichtsliteratur.

    Bis heute ist das gleichzeitige Interesse an beiden Genres bei einigen Lesern auch mit Betonung beider ‚Subgenres‘ gleichzeitig lebendig.
    Die Leitfrage wäre: Sind wir reif für unsere eigene Geschichte?

    Mit Grüßen aus China. Ich bitte zu entschuldigen, dass ich verzögert antworte.

    Antworten

  6. Lutz Schridde 9. Dezember 2022 um 7:02

    Nachtrag zu ‚kopernikanischer Science Fiction‘:
    Klaus Christian Koehnke, „Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitaetsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus“(Dissertation 1985, Freie Universitaet Berlin)Suhrkamp TB Wissenschaft 1087, FaM 1986.
    Diese akademische Arbeit hilft, die ‚kantianische‘ Seite von Lasswitz im historischen Kontext zu betrachten. Meines Erachtens folgte Lasswitz dem damaligen Trend, die Kant-Rezeption dem damaligen Wissenschaftsgeist unterzuordnen statt umgekehrt. Ich bin hier kein Spezialist, doch soweit ich Koehnke nutzen kann, erscheint Lasswitz vorzugsweise als Wissenschaftspublizist ohne kopernikanische Pointe.
    Hingegen fuehrte mich eine tiefere Betrachtung der SF von Clifford D. Simak zu lokalen Internetseiten in Wisconsin (dort aufgewachsen) und zu seinem Arbeitsplatz in Minneapolis (auch die PEANUTS kommen von dort) zu dessen Wissenschaftspublizistik. Der kopernikanische Aspekt wanderte in dieser Region ueber die Transzendentalisten ein, das sind besondere Autoren wie Emerson oder Thoreau, die ihren damaligen republikanischen Sinn von Kant herleiteten. Bei http://www.gutenberg.org sind Originaltexte und historische Sekundaertexte dazu. Der Verleger August Derleth (Arkham House, Wisconsin) ist fuer die amerikanische SF und Regionalliteratur („Walden 2“) ein markantes Beispiel, diesen Transzendentalismus mit SF zu verbinden, und ich gehe dem gerne nach. Simak und Derleth kannten sich natuerlich.
    Die kopernikanische Pointe bei Kant, wonach wir nicht das (gute) Zentrum im Universum sind und unsere Vernunft uns in genialen Einklang mit Natur bringen koennte, wenn wir nur wollten, ist bei den amerikanischen Transzendentalisten noch spuerbar, jedoch nicht bei Lasswitz. Dessen Gewinn fuer SF, sofern man danach sucht, ist das immense Beispiel, mit SF die Wissenschaft und Ingenieurskunst zu popularisieren. Mit Kant: ‚antizipative‘ Literatur.
    So suche ich nun weiter nach transzendentalistischer Science Fiction, die sozusagen ‚Vernunft‘ zu popularisieren haette. Ich moechte mit Blick auf August Derleth inzwischen annehmen, dass die Verbindung von Space Opera und Phantastik dazu taugen koennte (Simak hat seine Space Operas sukzessive kosmisch ausgestaltet, besonders den Gedanken einer Bruderschaft der kosmischen Intelligenzen). Derleth wandte sich Lovecraft zu und schrieb regionale Literatur ausserdem. Auf mich wirkt sein Beispiel bestaerkend, was die definite Betrachtung und Fragestellung betrifft.
    Lasswitz fuer einen Transzendentalisten wie Emerson oder Thoreau zu nehmen, halte ich nun fuer irrefuehrend. Stattdessen stelle ich ihn in meinem Regal lieber neben Arthur C. Clarke, also neben einen antikolonialen Wissenschaftsoptimisten. ‚Typisch deutsch‘ waere vielleicht die belehrende Art gegenueber dem Leser – anders als Clarke.

    Lutz Schridde, China.
    Bitte verzeihen Sie langsame Antworten meinerseits.

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