Warnung: Der Page-99-Test ersetzt keine Rezension.
Auf der Seite 99 von Nora Bossongs Politroman Schutzzone werden wir in einen Dialog katapultiert. Offenbar sind wir in einer Bar. Die Ich-Erzählerin zapft Bier für ihren Gesprächspartner, einen Gast am Tresen.
Sie wirken müde, meinte der Typ.
Warum sehe ich die Ich-Erzählerin als Frau? Vielleicht weil eine Frau eher von einem „Typen“ sprechen würde?
Nora Bossong verzichtet auf Anführungszeichen, damit verschmilzt die gesprochene Rede mit dem Erzähltext. Diese Methode ist in anspruchsvollen literarischen Texten gängig, und mit gutem Grund: Sie erzeugt Unmittelbarkeit.
Die nächsten beiden Sätze beginnen mit „Ich“. Erst aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass zwar die gleiche Person spricht, jedoch nicht im gleichen Modus. Im ersten Satz denkt die Ich-Erzählerin, im zweiten spricht sie.
Ich schob seine Times beiseite, stapelte die leeren Plastikbecher ineinander.
Ich dachte, ich hätte langsam Ruhe, aber die Ratten kommen immer wieder.
Alle anderen Redebeiträge auf dieser Seite stammen von dem Typen am Tresen.
– Sie wirken müde, meinte der Typ.
– Sie haben einen schlechten Kammerjäger, sagte er.
– Mit Chemikalien kenne ich mich ein wenig aus, erklärte er.
Wenn er spricht, wird das jedesmal im Text angezeigt:
– meinte der Typ
– sagte er
– erklärte er
Diese Signale sind nötig, sonst verlieren wir die Orientierung im Text. Stilratgeber empfehlen für solche Fälle das neutrale Verb „sagen“. Nora Bossong benutzt, der Abwechslung halber, drei fast so neutrale Verben: „meinte“, „sagte“, „erklärte“. In meiner Jugend habe ich ein paar Mal für ein Stadtmagazin geschrieben, dort ersetzte die Redaktion mein farbloses „sagte“ jeweils durch „seufzte“, „lächelte“ etc. – eine billige Technik des Boulevard, um einen Text vordergründig aufzuladen.
Der Verzicht auf Anführungszeichen hat Folgen: Wenn ich beim Lesen wissen will, wer spricht, muss ich mitarbeiten. Ganz automatisch lese ich mit dem Ohr, ich lese langsamer und horche in den Text hinein – und damit entsteht ein Sog. Es geht um die Steigerung von Intensität (William Gaddis hat diese Technik in seinem Dialogroman JR zum alles beherrschenden Prinzip gemacht).
Auf der Seite 99 von Schutzzone entsteht die Intensität jedoch nicht nur durch diesen stilistischen Trick, sondern auch durch die Worte, die gesagt werden. Die Ich-Erzählerin spricht von „Ratten“. Es bedeutet nichts Gutes, wenn von Ratten die Rede ist.
Mit Chemikalien kenne ich mich ein wenig aus, erklärte er. Wenn Sie einen Kammerjäger rufen, vergiftet er die Tiere entweder, oder sie werden erstickt. Recht erbärmlich erstickt. Aber einige schaffen es meistens, davonzukommen. Ein guter Kammerjäger gibt ihnen keine Chance. Was man eben gut nennt. Er lachte und nestelte noch zittriger an seiner Pastellkrawatte als zuvor. Früher habe ich mich beruflich mit chemischen Waffen beschäftigt. Vor ein paar Jahren. Jetzt bin ich in einer anderen Abteilung.
Bemerkenswert ist ein unauffälliger Satz in der Mitte dieser Rede.
Er lachte und nestelte noch zittriger an seiner Pastellkrawatte als zuvor.
Ein kurzer Wechsel von der direkten Rede auf die auktoriale Ebene. Hätte ich nicht mit der Lupe gelesen, wäre mir dieser Ebenenwechsel wohl gar nicht aufgefallen. Und das ist auch gut so. Wie sagt Felicitas Hoppe? „Stil ist, wenn man’s nicht merkt.“
Ohne, dass wir es bewusst wahrnehmen, blitzt für einen Moment die Figur vor unserem inneren Auge auf.
Was der Typ sagt, öffnet einen Abgrund: Was man mit Ratten tut, kann man offenbar auch mit Menschen tun.
Für einen Moment sehen wir die Ich-Erzählerin wieder bei der Arbeit, als wollte die Autorin uns Zeit geben, das Gelesene in all seinen Konsequenzen zu erfassen:
Mit dem Lappen wischte ich um seinen Bierbecher, hob ihn kurz an, um auch darunter den Tresen zu säubern.
Dann hören wir ihn wieder reden.
Bei den Vereinten Nationen. Ist hier ja nicht so ungewöhnlich.
Der Typ hat eine Vorliebe für kurze, unvollständige Sätze.
– Recht erbärmlich erstickt.
– Was man eben gut nennt.
– Vor ein paar Jahren.
– Bei den Vereinten Nationen.
– Ist hier ja nicht so ungewöhnlich.
Mit diesem letzten Satz endet die Dialogpartie. Wir verlassen die Szenerie der Bar und sind nun im Kopf der Erzählerin. Mit der Erzählebene wechselt auch der Stil: Auf die kurzen Sätze der direkten Rede folgt ein langer, mäandernder Satz, der weit über diese Bar hinausführt.
Ich kann nicht mehr sagen, was ich in diesem Moment dachte, vermutlich nicht viel, ging nur an die Zapfanlage, stellte ihm ein neues Bier hin, nach dem er nicht gefragt hatte, das er aber widerstandslos trank, er rieb sich umständlich den Schaum von der Oberlippe, während er mir sein Büro beschrieb, jenes aus der Zeit der chemischen Waffen, von dem aus er auf den Donaukanal geblickt hatte, aber man werde ja melancholisch in Wien, sagte er, wenn man auf diesen Kanal schaue und den ganzen Tag Statistiken über Massenvernichtungswaffen analysiere, so eine
Auf der nächsten Seite geht der Satz noch achteinhalb Zeilen weiter. Ich möchte unbedingt weiterlesen: zum einen, weil wir mitten in der finstersten Weltpolitik gelandet sind, zum anderen, weil ich durch die ganzen Details, die die Autorin mir so nebenbei unterjubelt, neugierig geworden bin auf den Typen mit der Pastellkrawatte (tolles Wort, übrigens).
Bildnachweis:
Beitragsbild: Sieglinde Geisel
Buchcover: Verlag
Nora Bossong
Schutzzone
Roman
Suhrkamp 2019 · 332 Seiten · 24 Euro
ISBN: 978-3-518-42882-5