Es gibt gute Gründe dafür, sich den jüngsten Band von Wolfgang Koeppens Werkausgabe vorzunehmen, der die Gespräche und Interviews des Nachkriegsautors versammelt. Hier spricht ein Zeitzeuge des „Dritten Reiches“, dessen Vita in vielerlei Hinsicht besonders verlief und nach wie vor Fragen aufwirft. Die unglückliche Liebe zu der Schauspielerin Sybille Schloß etwa, die in Koeppens Debütroman von 1934 fiktionalisiert wurde, war ein früher Faktor für den melancholischen Grundton seines Werks. Der jüdische Vater von Sybille Schloß wurde später in Auschwitz ermordet, ihre deutsche Mutter, die sich nicht von ihrem Mann trennen wollte, kam im KZ Ravensbrück um. Doch die unmittelbare Bedrohung der jungen Frau durch den nationalsozialistischen Antisemitismus stand für Koeppen nicht im Vordergrund, im Gegenteil: In seinen Interview-Erinnerungen aus der Nachkriegszeit wird die Vorgeschichte dieses Grauens oft seltsam beiläufig erzählt. Die Schauspielerin war zur Zeit der Weimarer Republik in Berlin zunächst ein erfolgreiches Fotomodell, bis sie 1933 ein erstes Engagement an den Münchner Kammerspielen bekam. Vor ihrer Emigration nach New York tourte sie mit Therese Giehses und Erika Manns Kabarett Die Pfeffermühle durch die Nachbarländer Nazideutschlands.

Entlastende Selbstinszenierung

Im Jahr 1988 erzählt Koeppen der Münchner Abendzeitung in einem Interview von seinem Besuch einer Vorstellung der Pfeffermühle in der ‚Stadt der Bewegung‘, exakt am Tag von Adolf Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933. München sei damals „friedlich“ gewesen, ein unnahbarer Thomas Mann habe der Premiere seiner Tochter beigewohnt – und manch einer habe seinerzeit sogar noch geglaubt, mit Hitler sei es schon wieder vorbei. Der junge Journalist Koeppen war hingerissen von der selbstbewussten Sybille Schloß. Mit  einem neckischen Telegramm hatte sie ihn zur Premiere eingeladen: „L.W. Du mußt umgehend hier erscheinen, die Pfeffermühle ansehen, und mir etwas dichten fürs Februarprogramm. […] Dalli dalli deine Sybille.“ Bedeutend für Koeppen war an der Geschichte offenbar auch in den 1980er Jahren immer noch eher die Tatsache, dass Sybille Schloß ihm nach der Theatereinladung dann doch einen Korb gab und schließlich an der Seite eines anderen Mannes nach Amerika floh. Damals gestand Koeppen Marcel Reich-Ranicki, er erkenne sich in Gustave Flauberts Bonmot wieder: „Ein Schriftsteller hat sich entwickelt und ist ein Schriftsteller geworden durch das Mädchen, das er nicht bekommen hat.“

Koeppen arbeitete zu Beginn des „Dritten Reichs“ noch beim Berliner Börsen-Courier. Das war damals eine überaus angesehene Tageszeitung. Laut Koeppen war das Blatt in seinem Wirtschaftsteil „hochkapitalistisch“, während das Feuilleton „kulturbolschewistisch“ gewesen sei. Die von den Nazis als „Judenblatt“ eingestufte Zeitung wurde bereits im Dezember 1933 verboten. Nach dem jähen Ende seiner Journalistenkarriere verbrachte der mittellose Bohemien Koeppen einige Jahre im niederländischen Exil, von 1935 bis Kriegsbeginn lebte er auf Kosten eines befreundeten jüdischen Exilanten-Ehepaars in Den Haag. Kurz vor Kriegsbeginn ging er zurück nach Deutschland, um dort ein Auskommen zu finden. Das war, Koeppen zufolge, ein riskanter Schritt. Tatsächlich gelang es dem Autor jedoch, die Kriegsjahre ohne propagandistische Zwangsschulungen für zurückgekehrte Exilanten oder gar eine Einberufung an die Front relativ unbeschadet zu überstehen. Zeitlebens reklamierte er für sich, niemals ernsthaft mit den Nazis kooperiert zu haben.

Der vorliegende Band der Werkausgabe erlaubt es, diese entlastende Selbstinszenierung des Autors genauer zu betrachten. Was genau verrät Koeppen in seinen Interviews über diese Zeit? Verstrickt er sich in Widersprüche? Verheimlicht er etwas?

„Ein Leben lang an einem Buch schreiben“

Koeppen konnte seine Maske im Interview plötzlich fallen lassen und somit bis dato unbekannte Bruchstücke seiner Biografie preisgeben. Manche Stellen in diesem Buch gleichen grandiosen Romanszenen, die der Autor niemals irgendwo anders festgehalten hat. So eröffnete Koeppen dem verblüfften Marcel Reich-Ranicki, dass ihn die Amerikaner bei Kriegsende zum Feldafinger Polizeichef ernannt hätten. In dieser Rolle habe er mit einer Maschinenpistole in einem nahen Wald um eine ehemalige „Nationalpolitische Lehranstalt“ der Nazis auf „Menschenjagd“ gehen müssen, dabei aber als Laie versucht, „den Lauf der Waffe irgendwie hochzuhalten, auf dass ich ja keinen treffen konnte“. Sein zwielichtiger Boss habe damals vorgegeben, ein holländischer Alliierter der US-Truppen zu sein. Doch als der Ex-Exilant und zeitweise Wahl-Holländer Koeppen mit ihm auf Niederländisch reden wollte, zeigte sich, dass der Mann dieser Sprache gar nicht mächtig war. Mit dieser unbeabsichtigten Enttarnung seines Vorgesetzten war das Engagement des Schriftstellers auch schon wieder beendet.

Es ist anzunehmen, dass Koeppen solche bizarren Anekdoten in den Interviews nicht ohne Flunkereien und nachträgliche Beschönigungen erzählt. Gerade diese schillernden Stellen wirken wie Szenen aus jenem ungeschriebenen Opus Magnum, von dem Koeppen selbst frühzeitig annahm, niemand werde es jemals zu Gesicht bekommen. Es sei denkbar, „ein Leben lang an einem Buch zu schreiben“. Dabei handele es sich für ihn um einen Alp- und einen Wunschtraum zugleich, und „es bekäme keiner zu lesen!“, so Koeppen 1971 in einer verschmitzten „Selbstanzeige“, die in dem Band abgedruckt ist.

Diese ambivalente Bemerkung lässt sich als unverblümte Beschreibung von Koeppens prekärer Autorschaft lesen. Laut Thomas Mann ist ein Schriftsteller jemand, dem das Schreiben schwerer fällt als anderen Leuten. Mehr noch, als auf den effizient arbeitenden Nobelpreisträger selbst, der täglich eine Seite schrieb, passt dieser Steckbrief auf Wolfgang Koeppen, den größten Prokrastinator der Nachkriegsliteratur. Setzte sich dieser Zauderer jedoch einmal an seine Schreibmaschine und begann mit nur einem Finger zu tippen, so seine Arbeitsmethode, entstanden hinreißende Texte.

Stoff für kommende #MeToo-Debatten

Koeppens Werkstattgespräche regen dazu an, sich seine literarhistorische und ästhetische Positionierung im Literaturbetrieb der Nachkriegszeit noch einmal ganz neu vor Augen zu halten. So wird etwa Arno Schmidt in diesem Band auffallend häufig genannt. Wie der betont avantgardistische und nonkonformistische Nachkriegskollege war auch Koeppen ein radikaler Solitär. Wie für Schmidt war zudem für Koeppen der Expressionismus die Initialzündung für seine Lese- und Autorbiografie. Und genau wie Schmidt schätzte auch Koeppen Alfred Döblin und James Joyce über alles. Die internationale klassische Moderne war seine Inspiration, von Marcel Proust über Gertrude Stein und John Dos Passos bis hin zum Ulysses von Joyce, den Koeppen bereits 1927 gelesen haben will.

Diese Aspekte seines Schaffens sind schon lange bekannt. Weniger betrachtet wurde jedoch bisher Koeppens sexuelle Vorliebe für junge Mädchen, die in den ungekürzten Interviewtexten der Ausgabe deutlicher denn je aufscheint. Zu Zeiten von #MeToo und der Missbrauchs-Skandale um Donald Trump, Harvey Weinstein und Jeffrey Epstein – im Weiteren auch den Debatten um Eugen Gomringers Gedicht „avenidas“ oder zuletzt Johann Wolfgang Goethes „Heidenröslein“ – ist es befremdlich zu sehen, wie wenig kritisch die Journalisten bis in die 90er Jahre hinein mit diesem heiklen Thema umgingen. Koeppens erotische Obsession spiegelte sich nicht nur in seiner frühen Liebe zu Sybille Schloß und seiner schwierigen späteren Ehe: Koeppens Frau Marion war erst sechzehn Jahre alt, als er sie bei Kriegsende kennenlernte; in den folgenden Jahrzehnten trank sie sich systematisch zu Tode. Bereits in seiner Exilzeit in Den Haag scheint es bei Koeppen weitere Beziehungen dieser Art gegeben zu haben. So wird im Kommentar der Interview-Werkausgabe „eine offenbar sehr junge namentlich nicht genannte Frau“ erwähnt, „wie ein Kind von Renoir gemalt“.

Noch mit 85 Jahren prahlt Koeppen gegenüber einer Wiener Zeitung mit einer 19-jährigen Geliebten, die ihn als Abiturientin wegen einiger Fragen zu seinem Werk kontaktiert habe, um ihm bald darauf einen Heiratsantrag zu machen: „Als wir das erste Mal beieinanderlagen, hat sie mich gefragt, ob ich sie heiraten will. Ich habe ganz entsetzt mich von ihr abgewandt und dachte, sie ist verrückt geworden. Was wiederum das Mädchen schockiert hat.“ Darauf wird Koeppen noch grundsätzlicher: „Ich interessiere mich nicht für junge Mädchen, ich liebe junge Mädchen“, offenbart er seinem Interviewpartner schließlich bei ausgeschaltetem Mikrophon, wie man nun im Anhang dieser Ausgabe nachlesen kann. Wie bei Arno Schmidt oder auch Vladimir Nabokov fand diese Kindfrau-Faszination in Koeppens Werk vielfach Niederschlag, doch der Interview-Band lässt diese Neigung in einem neuen, fragwürdigeren Licht erscheinen. Die Interviewer verhielten sich angesichts solcher Enthüllungen jedoch eher diskret, um die Publikation ihrer Arbeit nicht zu gefährden. In der Regel verlangte Koeppen vor der Veröffentlichung der Interviews die Streichung solch unbedachter persönlicher Geständnisse. Im vorliegenden Band kann man sich nun erstmals gebündelt damit auseinandersetzen. Künftige gendertheoretische Studien zum Werk Koeppens sollten sich diese Quellensammlung vornehmen und, zusammen mit dem 2008 posthum erschienenen Briefwechsel zwischen dem Autor und seiner alkoholkranken Frau Marion, zu einer Neubewertung des literarischen Œuvres mit heranziehen.

“Ich war immer ein Außenseiter”

Wie Arno Schmidt hatte auch Wolfgang Koeppen ein schwieriges Verhältnis zur Öffentlichkeit. Obwohl er damit hätte Geld verdienen können, weigerte er sich genauso standfest wie sein zurückgezogen lebender Bargfelder Kollege, auf Lesereisen zu gehen. Wie Schmidt vermied er sogar einen Auftritt in der Gruppe 47, jenem monopolistischen und renommierten Literaturforum nach 1945: Seine literarischen Entwürfe vor einem Star-Aufgebot deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller öffentlich diskutieren zu lassen, kam für Koeppen nicht in Frage. „Ich war kein Gemeinschaftsmensch, ich war kein Team-Arbeiter; ich war immer ein Außenseiter, absolut gegen eine Gemeinschaft“, konstatierte er 1975 im Interview mit Heinz Ludwig Arnold. Mit einem Zitat von Thomas Bernhard, dem zentralen österreichischen Einzelgänger des 20. Jahrhunderts, der in Koeppens Interviews ebenfalls häufiger auftaucht, betont der Autor, dass „das Alleinsein, das Abgeschnittensein, das Nichtdabeisein“ seine Schule gewesen sei.

Blickt man zurück auf das Jahr 1959, so war Koeppens Literatur damals derjenigen seiner bis heute viel gelobten Kollegen formal weit überlegen. Laut Hans Magnus Enzensberger erreichte die deutschsprachige Nachkriegsliteratur in dieser Zeit mit Romanen wie Günter Grass‘ Blechtrommel das ästhetische „Klassenziel der Weltkultur“. Dass Koeppen hier eine Vorbildfunktion hatte, wird deutlich, wenn man sich Heinrich Bölls 1959 erschienenen Roman Billard um halbzehn vornimmt, der als eines der Hauptwerke dieser angeblichen literaturgeschichtlichen Zäsur zum Ende der 50er Jahre gilt. Dabei handelt es sich um eine überaus bemüht konstruierte Familiengeschichte über die frömmelnde Miefigkeit sowie die Rehabilitation nationalsozialistischer Täter in der frühen Nachkriegsphase der BRD. Bölls kurzer, aber äußerst zäh zu lesender Roman ist von einer schockierenden sprachlichen Dürftigkeit. Zugleich hat er eine auffallend verschachtelte Struktur, die auf frappierende Weise an Koeppens zuvor erschienene Romane der 50er Jahre erinnert. Die Form des Textes gleicht einer filmischen Schnitttechnik, und der Leser ist dazu gezwungen, den permanenten Wechsel der Erzählperspektive anhand kontextueller Details oder kursiv gesetzter Leitmotive selbst zu identifizieren und sie dann kreativ zu einer kohärenten Geschichte zusammenzusetzen. Beobachtet man genauer, wie plump Böll diese Schreibweise im Vergleich zu Koeppen einsetzt, so wird deutlich, wie einflussreich und wie unerreicht dessen frühes Nackriegswerk tatsächlich war.

Koeppens zwischen 1951 und 1954 verblüffend zügig realisierte und von der zeitgenössischen Kritik in ihrer Bedeutung zunächst unterschätzte Roman-Trilogie Tauben im Gras, Das Treibhaus und Tod in Rom gehört längst zum Kanon. In seinen Interviews weist Koeppen immer wieder daraufhin, dass sein Kollege Günter Grass seinerzeit bemerkt habe, Tauben im Gras sei für die Zeitgenossen einfach „zu früh“ erschienen und daher lange verkannt geblieben. Wer heute über die deutschsprachige Nachkriegsliteratur mitreden möchte, kommt an diesen mosaikartigen, mit geradezu mathematischer Präzision komponierten Prosawerken ebenso wenig vorbei wie an Koeppens eleganten Radio-Essays, die auf Anregung Alfred Anderschs für den Süddeutschen Rundfunk realisiert wurden. Von 1958 bis 1961 verfasste Koeppen diese ausgesprochen komplex gestalteten Reiseberichte aus Russland, Amerika und weiteren Ländern. Sie sind seinem Romanwerk stilistisch sehr ähnlich und keinesfalls, wie zeitgenössische Kritiker oft meinten, als ästhetischer Rückschritt einzuschätzen. Koeppens Interviews sind voller persönlicher Rückblicke auf diese wichtige Schaffensphase und geben Aufschluss über die Arbeitsweise und die Poetologie dieses einzigartigen Autors.

Autor ohne Werk

Während Koeppen in den 50er Jahren zu einer Art Geheimtipp der deutschsprachigen Metaliteratur avancierte, begann in den frühen 60ern das große Verstummen. Das Leiden an seiner Schreibhemmung avancierte für den Autor zum zentralen Motiv seiner Selbstdarstellung. Koeppen fühlte sich zusehends wie ein Eulenspiegel, dem mitten auf dem Seil auffällt, dass er gar nicht balancieren kann. Dies bedeutete keinesfalls, dass er nichts mehr schrieb. Allerdings wurde er damit einfach nicht mehr fertig. Wie die Textgenetische Edition seines späten Fragments „Jugend“ (1976) eindrucksvoll dokumentiert, konnte er in diesem Zustand extremer Selbstzweifel viele Jahre damit verbringen, die ersten Sätze eines geplanten Romans immer wieder neu zu formulieren und aus Unzufriedenheit abermals zu verwerfen. Meist verlor er irgendwann das Interesse und gab seine Projekte ganz auf.

Dieser „Fall“, wie ihn sein Förderer Marcel Reich-Ranicki bereits Anfang der 1960er Jahre besorgt nannte, ist in der deutschen Literaturgeschichte einzigartig. Seit dieser Zeit vermochte Koeppen keines seiner immer wieder neu annoncierten Romanprojekte mehr abzuschließen. Dabei hatte er allerdings Glück im Unglück, wie die Interviews deutlich machen: Wenn er auch prekär lebte und etwa keine Krankenkasse hatte, wurde dieser ,Autor ohne Werk‘ lange Jahre von Siegfried Unselds Suhrkamp Verlag finanziell über Wasser gehalten – eine geradezu paradiesische Dauerförderung, von der heutige Autorinnen und Autoren im Literaturbetrieb nur träumen können. Die verlegerischen Erträge dieses Abkommens blieben karg. Bis zu seinem Tod im Jahr 1996 brachte Koeppen außer sporadischen Zeitungsartikeln, Wiederveröffentlichungen alter Werke und der betörenden Talentprobe Jugend kaum noch etwas Nennenswertes zustande.

An der Kette seines Lebens

Bleiben also die vorliegenden Interviews, in denen sich Koeppen über Jahrzehnte immer wieder genötigt sah, Wasserstandsmeldungen über das angeblich bald fertige nächste Romanprojekt abzugeben und bohrende Fragen zu seiner Zeitzeugenschaft in Krieg und Nachkrieg zu beantworten. Seine schalkhaften Selbstdarstellungen zeigen auf paradigmatische Weise den Alltag, die Arbeitsformen und die schwierige Existenz eines modernen deutschen Schriftstellers im 20. Jahrhundert. Man kann auf diesen 770 Seiten geradezu in Zeitlupe mitverfolgen, wie Koeppen seine Biografie über Jahrzehnte hinweg immer wieder neu konstruiert, durch Legenden und romanhafte Erinnerungsszenen ergänzt, verrätselt und verschleiert, um sie den jeweiligen ethischen Anforderungen der Gegenwart anzupassen. Die Interviews als letztes verbleibendes Experimentierfeld für autobiografische Selbstdarstellungen in der Öffentlichkeit zeugen nicht zuletzt von dem offensichtlich immer drängender werdenden Problem dieses Autors, in seinen geplanten Werken mit der eigenen Rolle im Nationalsozialismus fertig zu werden. Schließlich war er kurz vor Kriegsbeginn von den Niederlanden aus keineswegs weiter nach Amerika geflohen, sondern reumütig ins „Dritte Reich“ zurückgekehrt. Angesichts dieser Tatsache sind seine Interviews als wichtige Quellen zur Literaturgeschichte des „Dritten Reiches“ und ihrer Folgen einzustufen.

Die gigantische Publikationshemmung, die ihn schließlich weitgehend verstummen ließ, hing wohl zu allererst mit unausgesprochenen, jedoch im Innern lauernden Schuldgefühlen zusammen, die aus diesem Lebensabschnitt folgten. Wie die Interviews nahelegen, hatten sie ihren Ursprung in Koeppens jahrelangem Mitläufer-Verhalten im „Dritten Reich“.

In einem seiner Interviews äußert der Autor, ein Schriftsteller liege „an der Kette seines Lebens“. Zugleich orakelt er in der ihm eigenen Vagheit, kein Buch von ihm sei autobiografisch, doch ebenso sei keines nicht autobiografisch. Genau hierin liegt der Schlüssel zum Verständnis von Koeppens immer beredter werdendem Schweigen seit den frühen 60er Jahren: Was zum Versiegen seiner literarischer Schaffenskraft führte, waren bewusste oder unbewusste Zweifel an der Möglichkeit einer moralisch und literarisch präsentablen Darstellung der eigenen Biografie vor 1945. Koeppens wachsende Skepsis gegenüber einer adäquaten Vermittlung seiner angeblichen Haltung als bloßer Beobachter oder Zuschauer im „Dritten Reich“ machten dem Autor das Schreiben schließlich unmöglich. Es bestand zuletzt nur noch in der Interview-Ankündigung niemals ernsthaft begonnener Luftschloss-Projekte, die so mediokre Phantasietitel trugen wie der 1987 im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erwähnte Roman Bismarck oder All unsere Tränen.

Lebenslügen und Schutzbehauptungen

Noch problematischer sind die Ungereimtheiten und Widersprüche, die der Herausgeber Hans-Ulrich Treichel in seinem Kommentar herausarbeitet. Eine geharnischte zeitgenössische Kritik an seinem Erstling Eine unglückliche Liebe etwa bauschte Koeppen zu einer öffentlichen Androhung einer Inhaftierung in einem NS-„Arbeitslager“ auf. Der regimetreue Rezensent hatte 1934 im Wortlaut vermerkt, „schwächliche Kreaturen“ wie die Figuren dieses Romans gäben ihm Anlass, dem Autor „Arbeitsdienst“ zu wünschen. Wie man nun nachlesen kann, reifte diese Anekdote schnell zu einer veritablen Lebenslüge heran. Ohne, dass in dem von Koeppen immer wieder triumphierend hochgehaltenen Nazi-Verriss davon die Rede gewesen wäre, stellte sich der Autor wiederholt in eine Reihe mit Thomas Mann, Heinrich Mann und Alfred Döblin – Autoren, die im „Dritten Reich“ tatsächlich verfolgt wurden und deren Werk Koeppen, aus Sicht des NS-Kritikers, im „Dritten Reich“ verbotenerweise habe fortführen wollen.

Im Weiteren verstören Koeppens widersprüchliche Angaben zu seiner Rolle als Drehbuchbearbeiter im nationalsozialistischen München. Nach seiner Rückkehr aus Holland im Jahr 1939 arbeitete er für die NS-Filmindustrie. Über Jahrzehnte hinweg wiederholte der Autor, er habe sich bloß „untergestellt“. Welcher Natur dieses Engagement allerdings genau war, bleibt in den Interviews unklar. Die in den Texten wiederkehrenden Schutzbehauptungen vermögen jedenfalls kaum zu überzeugen. Wie sollte es Koeppen möglich gewesen sein, als Angestellter dieser selbst noch gegen Ende des Krieges florierenden Propagandamaschinerie ohne jede ernsthafte Mitarbeit über Jahre hinweg mehr Geld zu verdienen, als er ausgeben konnte? Während sich andere mit Lebensmittelmarken über Wasser hielten, logierte Koeppen, ähnlich wie der noble Protagonist in Takis Würgers missratener NS-Geschichtsfiktion Stella (2019), mondän in einem Münchner Hotel und unterhielt nebenbei auch noch eine möblierte Wohnung in Berlin. Der Autor gab an, während dieser Zeit kein einziges verwertbares Filmskript abgeliefert zu haben. Damit konstruierte er die wenig glaubhafte Legende einer gewieften Sabotage der NS-Unterhaltungsindustrie durch partielle Arbeitsverweigerung, die er sich von seinen regimetreuen Vorgesetzten auch noch fürstlich entlohnen ließ.

Diese abenteuerliche Geschichte erzählt Koeppen in seinen Interviews immer wieder: Er habe vor Ort gerade so viel geleistet, dass man ihn für talentiert genug hielt, um ihn weiterzubeschäftigen. Seine Drehbuchentwürfe habe er dabei so gewieft austariert, dass sie letztlich nicht verwendbar gewesen seien. Irgendwann sei ihm jedoch ein Produzent auf die Schliche gekommen, woraufhin Koeppen umgehend „untergetaucht“ sei. Diese Ungereimtheiten sind von der Kritik und der Literaturwissenschaft schon seit Längerem ins Auge gefasst worden. Unter anderem hat der Siegener Literaturwissenschaftler Jörg Döring, einer der Mitherausgeber der Koeppen-Werkausgabe, seit den 1990er Jahren genauere Recherchen zu Koeppens Verhalten im Nationalsozialismus angestellt. Wie Döring herausgefunden hat, wurden tatsächlich mehrere Filmprojekte, an denen Koeppen als Drehbuchautor beteiligt war, auch realisiert.

Die Schreibmaschine im Hotelkeller

Nicht zuletzt behauptete Koeppen, er habe das Kriegsende in einem Hotelkeller bei München überlebt, ausschließlich beim Verzehr roher Kartoffeln. Diese Leidenszeit überblendet Koeppen zum Ende seines Lebens hin zusehends mit Jakob Littners Shoah-Überlebensbericht Aufzeichnungen aus einem Erdloch. Koeppen hatte die Memoiren 1948 als Ghostwriter überarbeitet und 1992 sogar unter seinem eigenem Namen wiederveröffentlicht: „Da wurde es meine Geschichte“, schreibt er in seinem Vorwort zur damaligen Neuauflage im Suhrkamp Verlag. Bei genauerer Durchsicht seiner betreffenden Interviewaussagen stellt man allerdings fest, dass sich diese Leidenszeit im Hotelkeller mit den Jahren immer weiter verkürzt. Koeppens schleichende Identifikation mit einem Holocaust-Opfer wie Littner spottet jeder Beschreibung. In Wahrheit scheint der ‚untergestellte‘ NS-Drehbuchautor aufgrund eines stillschweigenden Abkommens mit dem Direktor des Hotels über weite Strecken in besten Verhältnissen gelebt zu haben. Koeppen berichtet in seinem Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki unter anderem, dass die französischen Soldaten, die bei Kriegsende zuerst in Feldafing eintrafen, aus seinem Kellerversteck seine Schreibmaschine sowie eine Flasche Wein konfiszierten. In dem gleichen Haus hatte Koeppen zuvor unter eher mondän klingenden Umständen seine Teenager-Liebe Marion kennengelernt, die dort mit ihren angeblich insgeheim regimekritischen Nazi-Eltern verkehrte. In einem Interview mit Volker Wehdeking berichtete Koeppen 1989 über diese Treffen, Marions Vater sei vor Kriegsende immer zum Abendessen ins Feldafinger Hotel gefahren gekommen, in Uniform, als Münchner Oberst der Abwehr und als NSDAP-Mitglied, „aber er war kein Nazi. So etwas gibt es, wenn es auch unglaublich wirkte“. Zumindest der Hotel-Inhaber war jedoch ein überzeugter Nationalsozialist, konnte den untergetauchten Propagandafilm-Autor aus Gründen des Selbstschutzes offenbar nicht denunzieren und gewährte ihm bis Kriegsende Obdach.

All diese vielfältigen Verstrickungen werden nirgends so deutlich wie in dem langen, rückblickend geradezu abgründigen TV-Interview, das Koeppen Mitte der 1980er Jahre dem Shoah-Überlebenden Marcel Reich-Ranicki gegeben hat. Koeppen stellt sich hier zum Schluss selbst einen Persilschein aus. Es sei seine größte Leistung gewesen, das „Dritte Reich“ mit einer weißen Weste überstanden zu haben: „Das möchte ich betonen. Ich habe mich nicht beschmutzt.“

Kontinuitäten und Zusammenhänge

Wie sonderbar diese Selbstvergewisserungen gegenüber dem jüdischen Interviewer geklungen haben müssen, lässt sich kaum ausdrücken. Marcel Reich-Ranicki hatte zur Zeit des „Dritten Reiches“ kein privilegiertes Leben in der NS-Propagandaindustrie geführt. Stattdessen hatte er das Warschauer Ghetto überlebt und hilflos mitansehen müssen, wie seine Eltern in das Vernichtungslager Treblinka deportiert wurden. Liest man dieses TV-Gespräch heute, sind Koeppens Lamentos nur noch schwer erträglich. Als wisse er nicht, wen er vor sich hat, klagt der passionierte Gourmet dort abermals weinerlich über die rohen Kartoffeln, die er zum Ende des Krieges in Feldafing habe essen müssen: „Es war schrecklich.“

Reich-Ranickis Zurückhaltung gegenüber diesen deutschen Klagen ist atemberaubend. Er kommentiert Koeppens Selbstdarstellungen mit keinem einzigen kritischen Wort. Auch dies ist eine faszinierende Facette des Bandes. Denn von Belang ist nicht nur, wie Koeppen sich in diesen Interviews selbst darstellte. Wichtiger noch für die kommende Literaturgeschichtsschreibung ist die Frage, aufgrund welcher Weichenstellungen und stillschweigenden Übereinkünfte Koeppens Werk seit den 1950er Jahren im Feuilleton rezipiert und im literarischen Feld positioniert wurde. An diesem 16. Band der Werkausgabe wird die literaturwissenschaftliche Koeppen-Forschung in Zukunft kaum vorbeikommen, wenn auch vieles von dem, was Treichel hier aufarbeitet, bereits in Jörg Dörings Monografie „Ich stellte mich unter, ich machte mich klein…“ – Wolfgang Koeppen 1933-1948 (Stroemfeld 2001, Taschenbuch-Ausgabe: Suhrkamp 2003) behandelt worden ist. Alles in allem sind die Interviewtexte jedoch äußerst unterhaltsam zu lesen, sie halten insbesondere für Leserinnen und Leser außerhalb der Literaturwissenschaft viele Überraschungen bereit. Die Art und Weise, wie Koeppen sich hier in der Öffentlichkeit darstellt, ist nicht nur exemplarisch für eine vertrackte Autorvita des 20. Jahrhunderts, sondern auch von außerordentlicher historischer Bedeutung, wenn man mehr über die Kontinuitäten und Zusammenhänge zwischen der Literatur der Weimarer Republik, des „Dritten Reiches“ und der BRD herausfinden möchte.

Bildnachweis:
Beitragsbild: Geburtshaus von Wolfgang Koeppen in Greifswald
Hyby2015 [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons
Buchcover: Verlag

Wolfgang Koeppen
Werke in 16 Bänden
Band 16: Gespräche und Interviews

Herausgegeben von Hans-Ulrich Treichel
Suhrkamp 2018 · 770 Seiten · 48 Euro
ISBN: 978-3-518-42343-1

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Von Jan Süselbeck

Jan Süselbeck ist Literaturwissenschaftler und arbeitet seit 20 Jahren als Literaturkritiker (u.a. für ZEIT Online, taz, Jungle World). Er ist Privatdozent an der Philipps-Universität Marburg, seit 2005 Redaktionsleiter bei literaturkritik.de und lehrt seit 2015 als DAAD Associate Professor of German Studies an der University of Calgary, Alberta, Kanada.

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