Als die Debatte zu Takis Würgers „Stella“ hochkochte, wäre ein Page-99-Test fällig gewesen. Zum ersten Mal fiel mir zu dieser Zufallsseite nichts ein. Doch Buch und Debatte ließen uns keine Ruhe. Hier die Schlussfolgerungen aus den Chats und Gesprächen der Redaktion.

Sieglinde Geisel

Lars Hartmann

Bereits der Anfang klingt entsetzlich langweilig, diese amtlichen Beglaubigungen, da fuchtelt ein großer Zeigefinger. Doch das scheint mir nicht skandalös, sondern eher bemüht.

Was mir in diesem Buch fehlt, ist das ästhetische Spiel mit den Möglichkeiten, nämlich aus dem dokumentarischen Material eine komplexe Geschichte zu schaffen, Fiktion und Dokument auf erzählerisch ansprechende, wenn nicht avancierte Weise zu verbinden. Wie solch biografisches Schreiben in der literarischen Konstruktion funktionieren kann, zeigt in einem ganz anderen Kontext Katja Petrowskajas Vielleicht Esther.

Bei Würger wirkt bereits die Aneinanderreihung von Hauptsätzen auf den ersten Seiten wie ein ermüdendes Protokoll. Solcher Dokumentarismus als Literatur wird dem im Grunde doch spannenden Stoff nicht gerecht. Weil das in der Sprache nicht besser wurde, habe ich die Lektüre nach den ersten zwanzig Seiten abgebrochen, ich las noch die Schlussseiten sowie die Seite 99 und bemerkte auch dort, dass der Stil dieses Romans und der Plot keine andere Färbung bekamen.

Weshalb sich allerdings an einem solchen Buch eine derartige Feuilleton-Debatte entzündete, teils in schrillen Tönen, bleibt mir rätselhaft.

Sieglinde Geisel

Das, was du „amtliche Beglaubigungen“ nennst, Lars, ist mir auch von Anfang an auf die Nerven gegangen. Stereotyp werden ein paar (möglichst „bunte“) Facts zum jeweiligen Monat aufgezählt, z.B. zum September 1942:

Wolfgang Schäuble wird geboren. Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe A, Generalfeldmarschall Wilhelm List, wird entlassen; Adolf Hitler übernimmt die Führung der Heeresgruppe. Im Berliner Olympiastadion verliert die deutsche Fußballnationalmannschaft zwei zu drei gegen Schweden. Neuntes Gebot der zehn Gebote für jeden Nationalsozialisten des Dr. Joseph Goebbels: »Halte es mit dem Leben so, daß Du dereinst vor einem neuen Deutschland nicht zu erröten brauchst.«

Der ganze Roman ist völlig schematisch gestrickt. Neben diesen historischen Stichwortlisten gibt es noch die Auszüge aus den Gerichtsprotokollen von 1946, die beliebig in die Romanhandlung eingestreut werden; sie sind derart stereotyp, dass ich sie mit der Zeit nur noch überflogen habe. Basteleien, die sich totlaufen. Kunstgewerbe.

Herwig Finkeldey

Mein Blick auf das Buch wurde zunächst von den Rezensionen im Feuilleton geprägt. Ich habe demnach erwartet, das Werk eines intellektuell, moralisch und ästhetisch komplett derangierten Autors zu lesen. Darüber hinaus hatte ich den Verdacht, die Fokussierung eines deutschen Schriftstellers auf eine jüdische Verräterin sei eine weitere Variante dessen, was Henryk Broder die „historische Entlastungsoffensive“ der deutschen Gesellschaft genannt hat. Als Beispiel für solche „Entlastungswerke“ seien die unsägliche Fernsehserie Unsere Mütter, unsere Väter oder der Film Die Gustloff und Günter Grass‘ Novelle Im Krebsgang genannt. Nun bietet Stella durchaus eine allzu allgemein formulierte Opferdefinition im Sinn von: In schlimmen Zeiten bleibt niemand sauber! Das ist eine Binse und gegenüber den jüdischen Opfern eine Unverschämtheit.

Damit liegt Stella zwar im allgemeinen Trend, auch die Deutschen zu Opfern zu erklären, doch ist das in diesem Roman nicht schlimmer als anderswo. Auch den allerorten behaupteten Kitsch konnte ich nicht durchgehend finden. Insgesamt scheint mir der karge, dialoglastige Stil des Romans nicht so sehr kitschig, er bedient vielmehr Erwartungen.

Hartmut Finkeldey

Der Plot ist an sich stimmig: ein junger Schweizer mit Geld und vor allem mit jederzeit einsetzbarem Rückfahrticket kommt 1942 nach Berlin, u.a. um herauszufinden, ob die Gerüchte über die Judendeportationen per Möbelwagen wirklich stimmen. Auch scheint mir die Gestalt „Friedrich“ gut motiviert zu sein. Seine alkoholkranke Mutter, die Hitler bewundert und selbst malt, möchte ihn zu einem großen Künstler erziehen, wobei Würger sich ab und an bedenklich dem BDSM-Darkroom annähert: Mamis „Malunterricht“ in Reitstiefeln, mit Hilfe eines Teppichklopfers. Allerdings zitiert er damit wiederum eine tradierte Deutung: Faschismus als perverses, kaputtes Vergnügen. Der Vater, ein Schwächling, kann oder will Friedrich nicht vor der mütterlichen Gewalt schützen; er flieht vor seiner kaputten Ehe, indem er ständig reist.

Das ist alles m. E. literarisch in Ordnung so, zum Teil sogar richtig gut. Der Roman kippt, als Stella Goldschlag auftaucht. Ihre Authentizität wird ja forciert, wobei ich nicht verstanden habe, warum Würger – der sonst sehr gut recherchiert hat – hier einen absurd anmutenden Recherchefehler begeht: Stella Goldschlag begann ihre ‚Karriere‘ Anfang 1943, nicht Anfang 1942. Oder ist das Absicht?

Die Folterszene ist einfach nur abstoßend. Die Abendparty beim Reichsminister: albern. Das moralische Problem (verraten, um treu zu bleiben): fast nicht vorhanden, gelangweilt abgearbeitet. Zum Schluss findet sich Stella nochmals auf einer Nazifete beim Herrn Minister ein und trällert „Stardust“ – das ist dann der Tiefpunkt des Romans.

Herwig Finkeldey

Du hast Recht, Hartmut, Stellas Folterung fand 1943 statt, nachdem sie als sogenanntes U-Boot (so nannten sich die untergetauchten Juden selbst) aufgeflogen war. Sie wurde mit ihren Eltern zusammen interniert, floh, wurde auf der Flucht gefasst und dann durch Folter zur „Mitarbeit“ gepresst. Warum Takis Würger diese Geschichte nicht so erzählt, weiß ich nicht.

Wäre ich Würgers Lektor gewesen, so hätte ich Friedrich gestrichen, eine Liebesgeschichte zwischen dem SS-Mann Tristan von Appen und Stella erzählt, und ich hätte dann von Appen Stella verraten lassen. Worauf sich Stella rächt und von Appen anzeigt (wegen des Luxus-Käses in Kriegszeiten!). Das wäre eine „unerhörte Begebenheit“, eine Novelle. Im Epilog dann der Hinweis, dass Stella aus der Nummer nicht mehr rauskam. Und ich hätte sie nicht Stella genannt, sondern das ganze fiktional aufgebaut. Aber das wäre dann eine Geschichte ohne Helden, also nicht leinwandkompatibel.

Friedrich als Grundidee ist andererseits ideal für einen Roman aus dem Berlin des Jahres 1942: jemand, der immer wegkann, der ideale Chronist. Aber Chronisten müssen neutral sein, also keine Liebe, nirgends.

Anselm Bühling

Ich habe das Ding heute Nacht in drei Stunden durchgelesen. Ist flott geschrieben, liest sich flüssig weg und hat mich völlig unberührt gelassen. Der Anfang ist noch am stärksten. Da werden ein paar Motive eingeführt, die erwarten lassen, dass später was damit passiert: Friedrichs Farbenblindheit nach Gewalteinwirkung, der dadurch geschärfte Geruchssinn, die Rettung des Ziegenbocks Hieronymus, der dann wegen rassischer Minderwertigkeit von seinem Besitzer erschossen wird.

Aber Würger macht dann damit nicht viel mehr, als dass er es immer mal wieder einflicht, wohl in der Hoffnung darauf, dass sich dadurch schon irgendwie eine literarische Wirkung ergeben wird. Das Strickmuster ist wirklich bestürzend einfach. Man hat es nach dem zweiten Kapitel kapiert, und dann passiert nichts mehr, es wird einfach abgearbeitet. Die einleitenden Facts sind willkürlich ausgewählt und nebeneinandergestellt, wieder im Vertrauen darauf, dass schon irgendein Effekt eintreten wird. Goebbels „Gebote für jeden Nationalsozialisten“, die da zitiert werden, sind von 1929 und passen teilweise ganz offensichtlich nicht in den zeitlichen Kontext („Sei kein Radauantisemit, aber hüte Dich vor dem Berliner Tageblatt.“). Auch die Ausschnitte aus den Gerichtsakten wirken beliebig eingestreut und gleichen sich – mit Ausnahme der Aussage von Stella Goldschlag selbst im Prozess 1946, das ist die einzige Stelle im ganzen Buch, die mir wirklich den Atem verschlagen hat.

Die Figur Stella im Buch bleibt eine Leerstelle. Sie gewinnt kein Profil und keine Tiefenschärfe, sie wird nicht lebendig. Würger versucht, sie im Laufe des Buchs immer wieder von neuen Seiten zu beleuchten – erst als „Kristin“, dann als rassisch verfolgte Stella, dann als Verräterin und zu allem als Geliebte. Aber da gibt es nichts zu beleuchten. Das Zentrum der ganzen Geschichte, Stellas Verrat und seine Motivierung, wird über ein paar flache Dialoge und Räsonnements hinaus überhaupt nicht gestaltet. Stella geht morgens fort und kommt abends zurück, der Erzähler muss sich immer mal wieder erbrechen. Alles andere wird an die Gerichtsakten delegiert, die keinerlei Bezug zu der erzählten Geschichte haben. Sie stehen einfach im Text herum.

Das Ganze ist, wie gesagt, flott und gekonnt erzählt. Kein Wunder, dass Daniel Kehlmann den Blurb geschrieben hat – das Buch ist nicht so weit weg von seiner Vermessung der Welt. Aber abgesehen davon, dass Kehlmann das ohnehin besser kann: Zwei Wissenschaftler im 19. Jahrhundert sind ein geeigneter Stoff für eine solche Herangehensweise. Die Geschichte von Stella Goldschlag ist es nicht.

Sieglinde Geisel

Hoch interessant, deine Ausführungen, Anselm, ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht. Ich versuche immer, bei einem Buch herauszufinden, worum es eigentlich geht, also jenes tiefe, strahlende Zentrum zu finden, aus dem das Buch seine Energie gewinnt. Doch hier greife ich ins Leere. Das Buch ist ganz auf den äußerlichen Effekt hin geschrieben, sprich Drehbuch. Ständig tippt jemand jemandem mit dem Finger an die Nasenspitze, und Männer küssen einander eins ums andere Mal auf die Stirn, als wäre das je Sitte gewesen. Die Liebesgeschichte wiederum würde genauso funktionieren, wenn Stella ihren Verrat nie begangen hätte. Sie ist zwar in ihren kleinen Verrücktheiten ganz reizend, hat aber überhaupt kein Innenleben. Und das bei einer historischen Figur, deren ganzes Leben offenbar unter diesem Verrat gestanden hat, so jedenfalls deute ich den Selbstmord der historischen Stella Goldschlag mit 72 Jahren, 1994, fast 50 Jahre nach Kriegsende.

Anselm Bühling

Genau das ist es: Das Buch versucht gar nicht erst, die Geschichte in ihrer Problematik zu ergründen. Sie ist bloß Anlass zu erbaulichen moralischen Betrachtungen und Räsonnements. Ohne Anlehnung an die historische Geschichte würde dieses Buch viel besser funktionieren. Es würde dann einfach in seiner Gewichtsklasse spielen: gehobene literarische Unterhaltung. Man könnte immer noch darüber streiten, ob man so was unbedingt im Berlin von 1942 ansiedeln muss – aber erst dadurch, dass Würger die historische Geschichte benutzt, setzt er einen Maßstab, dem er mit diesen Mitteln nicht gerecht werden kann.

Herwig Finkeldey

Umso dringlicher die Frage: Wieso eine derart gereizte, überdrehte Reaktion der Kritik? Meine vorläufige Interpretation: Das Thema „Wie über den Holocaust schreiben?“ ist noch nicht geklärt, es wird möglicherweise auch nicht zu klären sein. Takis Würgers Rolle ist die eines Pappkameraden. Wohlfeil konnten die Rezensenten sich vom angeblich unsensiblen Autor abheben, eine Differenz behaupten. Ein Distinktionsgewinn gewissermaßen.

Dann wären die Rezensionen nicht die Analyse der Schwierigkeit, über den Holocaust zu schreiben, sondern ein weiteres Symptom dieser Schwierigkeit.

Sieglinde Geisel

Sehe ich auch so. Ich würde sogar noch weitergehen. Mit dem Sterben der Zeitzeugen beginnt eine neue Phase im Schreiben über den Holocaust. Es gibt niemanden mehr, der sich daran erinnern kann, es gibt nur noch das Gedenken. Uns entgleitet etwas. Mir scheint, die Kritikerhysterie habe auch damit zu tun.

Beitragsbild: Sieglinde Geisel
Angaben zum Buch
Takis Würger
Stella
Roman
Hanser 2019 · 224 Seiten · 22 Euro
ISBN: 978-3446259935
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel

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Von Redaktion

10 Kommentare

  1. Hinsichtlich der Aufgeregtheit des Feuilletons ist es m. E. nicht ganz unwichtig, in welchem Verlag „Stella“ erschienen ist. Der überwiegende Teil der Romanproduktion ist Handwerk, d. h. ein Profi verfertigt mit bekannten Mitteln ein Produkt, das einer Kundenerwartung entspricht. Im Unterschied zum Industrieprodukt gibt es im Handwerksprodukt Elemente von Individualität. Diese sind Markenzeichen des jeweiligen Handwerkers bzw. Autors. Da die Medien definieren, was bedeutsam ist, wird die Kundenerwartung durch die Medien definiert. Entsprechend funktioniert das Marketingprinzip des Infotainmentromans. Themen, die außerhalb der Literatur als wichtig definiert sind (durch die Medien), werden mit vorhandenen Mitteln in einen Roman umgesetzt (zynisch formuliert: verwurstet).

    Demgegenüber wird ein literarischer Text im engeren Sinne, also ein künstlerischer Text, bedeutsam allein durch seine Individualität. Bearbeitet ein Autor mit künstlerischer Ambition ein Thema, das in der Welt außerhalb der Literatur als wichtig gilt, entsteht ein Konflikt, der in einem großen Roman enden kann, aber häufig unterliegt der Autor, weil er das Thema nicht künstlerisch bewältigt, er ihm also seine Individualität nicht aufzuzwingen vermag. Die Kritik sagt dann, der Autor habe sich überhoben. Im gegensätzlichsten Fall gelingt es dem (genialen) Autor, ein Thema so in seine Kunst zu verwandeln, dass es außerhalb des Romans überhaupt nicht mehr zu existieren vermag.

    Das bedeutsamste Thema ist der Holocaust, und zwar derart, dass viele meinen, man könne über dieses Thema nicht literarisch schreiben, es sei denn, man sei ein Zeuge gewesen. Dieses Thema muss der Frivolität entzogen sein. Um diesen Tabubereich zu umgehen, schreibt der Infotainment-Handwerker (man könnte auch sagen: der literarisierende Journalist) über Randbereiche bzw. Detailthemen des Nationalsozialismus auf eine Weise, dass ihm weder der Holocaust, noch die historische Forschung noch eine irgendwie eigene (individuelle, kritisierbare, frivole) Position in die Quere kommt, er aber von der Unterhaltsamkeit des absolut Bösen profitiert.

    Sind die Hebel entsprechend justiert, ist es nicht erstaunlich, dass die Verwurstungsmaschine ein Produkt wie „Stella“ entlässt. In diesem Fall ist aber das Handwerk offenbar so mittelmäßig, andererseits das Thema ungeachtet aller Vorsicht so kontaminiert, dass diejenigen, die die kleineren Verwurstungsmaschinen der anderer Verlage wie selbstverständlich akzeptieren, die brüllende Riesenverwurstungsmaschine eines Verlags, der als Leuchtturm der künstlerischen Literatur gilt, in ihrer Vulgarität als überaus peinlich empfinden.

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  2. Vielen Dank, Jürgen Kiel, für diesen erhellenden Kommentar. Sie haben Recht, wir hätten Hanser noch erwähnen sollen, zumal das Buch in einer Weise beworben und von Jo Lendle unterstützt wird, dass es sich keineswegs um ein Versehen handelt. Das grenzt schon an Selbst-Sabotage.
    Mir war schon beim Durchsehen der Vorschau aufgefallen, dass das Sachbuch-Programm sehr in Richtung Ratgeber (sprich Kommerz) geht. Lukas Bärfuss hat einmal über das Feuilleton der NZZ gesagt, es sei „dramatisch, wie diese Zeitung von innen heraus sturmreif geschossen wird“. Ich hoffe, dass man das nicht irgendwann auch von Hanser sagen kann. (Zugleich finde ich die Debatte nach wie vor überzogen.)

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  3. Als Anregung: Ab dem 21.02.2019 gibt es in der Brotfabrik für knapp zwei Wochen noch einmal das Einpersonenstück „Blond Poison“ von Gail Louw zu sehen, das die Geschichte der Stella Goldschlag aus vermeintlicher Ich-Perspektive erzählt. Mit einer fantastischen Dulcie Smart als Stella.

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  4. Alain Claude Sulzer 1. Februar 2019 um 13:21

    Auch Sieglinde Geisel nennt in ihrer kurzen Einführung die Würger-Kampagne, der sich keiner entziehen konnte, der lieber Verrisse als Lobeshymnen liest, eine Debatte.
    Aber das war natürlich so wenig eine Debatte wie die kurz zuvor entzündete Erregung um Robert Menasse, auf die die etwas schwächliche um Christoph Hein folgte; auf die nächste werden wir sicher nicht lange warten müssen. Reiner Zufall, wen es trifft. Hauptsache, er (seltener sie) missfällt.
    Aber nein, es handelt sich nicht um eine Debatte, wenn sich neun von zehn Kritikern fraßbegierig wie die hungrige Meute in Heinrich Heines Tugendhaftem Hund über einen Autor hermachen, von dem meines Wissens niemand ernstlich erwartet hatte, er sei ein zweiter Imre Kertesz. Dass eine Debatte etwas ganz anderes ist, brauche ich sicher niemandem zu erklären.

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  5. Einverstanden, Alain Claude Sulzer, die Auseinandersetzung, das Geschrei, die Polemik um Takis Würgers „Stella“ hat die Bezeichung „Debatte“ nicht verdient. Eine Kampagne allerdings wäre eine Aktion mit einem festgelegten Ziel, die ein „geplantes und koordiniertes Zusammenwirken mehrerer Personen oder Akteure“ voraussetzt (Wikipedia). Was wäre denn das Ziel, und inwiefern wäre das Vorgehen der Kritikermeute geplant?
    Mein Eindruck ist vielmehr, dass das eine Eigendynamik entwickelt, zum einen, weil man hier mit wenig Lese-Aufwand mitreden und zeigen kann, wie klug man ist, zum anderen, weil es eben leider Quote bringt.
    Wir haben auch auf tell überlegt, ob wir uns hier überhaupt zu Wort melden sollen, denn man gibt ja damit nolens volens einem Buch eine Bühne, das es nicht verdient hat. Doch dann hat es uns, wie ich geschrieben habe, keine Ruhe gelassen. Es ist auch etwas Mysteriöses mit diesen „Debatten“ (auch für einen „Literaturstreit“ ist der Streitwert ja gering).

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  6. „Hysterie“, „Aufgeregtheit“, „Erregung“ „überdreht“ – es scheint, als fänden die anderswo veröffentlichten Beiträge zum Buch bei den Autoren hier kein Gefallen. Ich finde es gut, dass tell review Beiträge zu dem Buch bringt, sehe aber in den vielen Beiträgen, die sich anderswo mit dem Buch beschäftigen, keine Hysterie sondern eine Bestimmung von Positionen. Hanser hat das Buch verlegt – also die Position, es sei ein lesenswertes Buch. Die Autoren hier finden es nicht lesenwert. tell review ist für mich eine Seite über Bücher. Wenn man eine Seite über Literaturkritiken, Rezensionen, Feuilletons, Verrisse, Hymnen machen will, verstellt man Leuten wie mir, die Feuilletons sporadisch lesen, den Zugang.

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    1. tell ist nicht nur eine Seite über Bücher, lieber Laubeiter, sondern durchaus auch eine Seite über das öffentliche Reden über Bücher. Uns interessieren die Hypes, wir wollten herausfinden, warum ein Buch wie „Stella“ auf einmal zum Skandal gemacht wird (Alain Claude Sulzer spricht in seinem Kommentar sogar von einer „Kampagne“). In unserer Auseinandersetzung zu „Stella“ kommt das Buch durchaus vor, in die einzelnen Statements sind ja auch Kurzkritiken eingewoben.
      Es tut mir leid, wenn Sie den Zugang dazu verstellt finden – Sie haben Recht mit: Das ist in der Tat immer das Risiko, wenn man sich an solchen Feuilleton-Debatten beteiligt.

  7. Ein Buch wie Stella wird auf einmal zum Skandal gemacht. Meine Sicht: Im Land D hat eine Mehrheit seiner Bevölkerung zwölf Jahre das Ziel verfolgt, eine Minderheit auszulöschen. Dabei sind Tausende der Minderheit ausgelöscht worden, und zum Teil haben dabei Angehörige der Minderheit der Mehrheit bei ihren Verbrechen geholfen. Vierundsiebzig Jahre, nachdem die Verbrecher entwaffnet und ihr Handeln zum einem Stop gebracht wurde, erscheint ein Buch, das sich mit jemand aus der Minderheit beschäftigt, der geholfen hat, unter anderem deshalb überlebt hat und dafür zweimal vor Gericht stand. Sulzer sagt, dass dies Buch in eine andere Kategorie gehöre als das von eine Verfolgten, der nicht mitgeholfen hat, überlegt hat und die Umstände seines Überlebens aufgeschrieben hat. Ja, da stimme ich zu, das sind zwei Kategorien von Büchern. Es scheint mir dennoch kein gemachter Skandal, sondern ein natürlicher Skandal, denn moralische Verfehlungen zu banalisieren, aber so zu tun, als sei das ein Leistung, ist das kein Skandal? Es erscheint mir möglich, über die beklagenswerten Menschen zu erzählen, die als Verfolgte den Verfolgern halfen. Ein Mitschüler Goldschlags, der nicht in D überlebte, sondern durch Flucht, hat ein Buch geschrieben über Goldschlag. Vielleicht ist ein Vergleich der gleich betitelten Bücher Würgers und Wydens erhellender als einer zwischen den Büchern Würgers und Kertesz‘.

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  8. Alain Claude Sulzer 28. Februar 2019 um 18:16

    Der Vergleich Würger-Kertesz war ein ausschliesslich formaler. Würger gehört literarisch einfach nicht in die gleiche Kategorie wie Kertesz. Würger gehört zu jenen, die es sich gewiss nicht allzu schwer machen wollen, Kertesz hingegen konnte gar nicht anders, als es sich schwer zu machen; eine Folge nicht nur seiner Zeit in Auschwitz, sondern auch seiner Zeit unter der kommunistischen Diktatur in Ungarn.

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