Jurist hatte Warlam Schalamow werden wollen, Künstler wurde er – erst ein „Künstler der Schaufel“ im Archipel Gulag, dann einer des lange Zeit ungedruckt bleibenden Wortes. Als Angehöriger der linken Opposition musste Schalamow bereits mit 22 Jahren, von 1929 bis 1931, Zwangsarbeit im Ural verrichten. Von 1937 bis 1953 überlebte er eine zweite Haftzeit im äußersten Osten Sibiriens, in der Kolyma. Am „Kältepol der Grausamkeit“ schürfte Schalamow bei bis zu minus 55 Grad Gold und Kohle, fällte Bäume, hackte gefrorene Erde. Immer wieder war er dem Tod näher als dem Leben. Auch nach der Entlassung und der Rückkehr nach Moskau ließ ihn das Lagersystem mit seinen 20 Millionen Häftlingen nicht mehr los. Schreibend protestierte er gegen das offizielle Schweigen. Schalamows Erzählungen aus Kolyma berichten von dem, was sich dem Bericht verweigert: lakonisch, detailliert, ohne jede Psychologie und mit einer überfallartigen Knappheit, die das Analogon zum völligen Ausgeliefertsein des Häftlings darstellt. Es ist eine fast unerträgliche Lektüre.

Widersprüche aushalten

Schalamows Erzählungen sind ein sowjetisches Gegenstück zur Prosa von Imre Kertész, Primo Levi, Jean Améry, Tadeusz Borowski und anderen, die über die nationalsozialistischen Konzentrationslager geschrieben haben. Dass sie hierzulande als solches erkennbar wurden, ist das Verdienst der von Franziska Thun-Hohenstein herausgegebenen Werkausgabe im Verlag Matthes & Seitz Berlin. Dort ist nun der Band mit Schalamows Erinnerungen unter dem Titel Über die Kolyma erschienen.

Was aber kann vom Sterben und Leben im Gulag noch erzählt werden, wenn schon die Erzählungen aus Kolyma „streng dokumentarisch“ sind, wie Schalamow wiederholt schreibt? Als Künstler verzichtet er radikal auf Erfindung, Entwicklung und Charaktere, also auf die gesamte realistische Literaturtradition, auf die Psychologie und das Ich, um vom Grauen der Lager eine Ahnung zu vermitteln. Warum beginnt er dann Anfang der 1960er Jahre, Erinnerungen aufzuschreiben, obwohl diese in seinem ästhetischen Konzept eigentlich keinen Platz haben? „Die Kunst zu leben ist die Kunst zu vergessen“, schreibt Schalamow einmal in den Erinnerungen. Aber vermutlich ist die Kunst zu leben auch die Kunst, Widersprüche auszuhalten, sie möglicherweise produktiv werden zu lassen. Den Erzählungen widmet Schalamow weit mehr ästhetische Überlegungen als den Erinnerungen – geschrieben werden müssen aber offenbar beide.

Jenseits der Schattenlinie

Zu Lebzeiten durfte Warlam Schalamow nur Gedichte veröffentlichen – ein Lagerautor war für die Sowjetunion offenbar genug. Nach Alexander Solschenizyns Erzählung Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch im Jahr 1962 waren weitere Texte über den Gulag nicht erwünscht. Schalamow hat Solschenizyn harsch kritisiert; er warf ihm vor, dass sein christlicher Traditionalismus und Humanismus der Wirklichkeit der Lager Hohn spreche. Seine eigenen Erzählungen von der „zersetzenden“, „negativen Schule“ der Lager sind allerdings so verstörend, dass sie erst in der Perestroika Ende der 1980er Jahre erscheinen konnten. Zusammengestellt hatte die Erzählungen noch der Autor, der 1982 verwirrt und verarmt starb.

Die kurzen Texte der Erinnerungen, die es nach ästhetischen Maßstäben nicht hätte geben dürfen, hat die russische Herausgeberin chronologisch angeordnet. Ihre deutsche Kollegin Franziska Thun-Hohenstein zeichnet im Nachwort noch einmal den biografischen Hintergrund nach, die Stationen der Lagerhaft. Dafür ist man ihr dankbar, denn die Erzählungen, Minitaturen, Essays und Skizzen der Erinnerungen Über die Kolyma folgen unverbunden aufeinander und sind in einigen Fällen schwer zugänglich, weil sich der Erzähler jenseits der Schattenlinie zu befinden scheint: im Lager. Schalamow vermochte auch Jahrzehnte nach der Entlassung nicht, einen Zusammenhang in seinem Leben zu stiften. Im Buch erscheint es zersplittert in Szenen, grausame Anekdoten, kurze Geschichten.

Dem Erinnerten standhalten

Thun-Hohenstein bezeichnet die Erinnerungen zu Recht als einen „Steinbruch“ für die Erzählungen aus Kolyma. Manche Erinnerungstexte hätte Schalamow auch in die Erzählungsbände aufnehmen können. Vielleicht waren sie ihm zu nah oder zu intim, wie etwa die zarte Liebesszene mit erfrorenen Fingern. Andere wirken unfertig. Dafür verantwortlich sind nicht nur die Arbeitspausen, die die chronischen Krankheiten des Überlebenden erzwangen. Oft dürfte es Schalamow ungeheuer schwergefallen sein, dem Erinnerten erst standzuhalten und es dann festzuhalten. Gerade im Vergleich mit den kühl und fraglos vom Grauenhaften handelnden Erzählungen aus Kolyma lassen die Erinnerungen erahnen, welch beschwerlichen Weg Schalamow am Schreibtisch zurücklegen musste. Schließlich erzählt er von sich und anderen „Menschen ohne Biographie, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft“. Von solchen, die das Krankenlager noch mehr zu fürchten hatten als die Arbeit, die sie vernichten sollte.

Immer wieder umkreist Schalamow die ästhetischen Probleme: Eine allzu gründliche Kenntnis des „Materials“, warnt der Gezeichnete, erdrücke den Schriftsteller. Dieser müsse sich vielmehr als „Späher des Lesers“ begreifen. Fremdsein gegenüber sich selbst ist eine unabdingbare Voraussetzung des Schreibens von Erinnerungen. Denn im Lager ist alles verdreht, es feiert den „Triumph der physischen Kraft als moralischer Kategorie“. Die Taiga wird zum Dschungel: Im Gulag herrscht allein das Recht des Stärkeren.

Bildnachweis
Beitragsbild: Laufkarren an der „toten Trasse“ (Polarkreiseisenbahn in Nordsibirien)
Ernst Ivanov
Lizenziert nach CC-BY-SA-3.0 via Wikimedia Commons
Angaben zum Buch
Warlam Schalamow

Über die Kolyma
Erinnerungen
Aus dem Russischen von Gabriele Leupold
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein
Werke in Einzelbänden, Band 7
Matthes & Seitz Berlin 2018 · 286 Seiten · 24 Euro
ISBN: 978-3-95757-540-1
Bei Amazon, buecher.de oder im lokalen Buchhandel


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Von Jörg Plath

Jörg Plath ist Kritiker und Literaturredakteur bei Deutschlandfunk Kultur. (Foto: © Fotostudio gezett)

3 Kommentare

  1. Frank Heibert 23. Januar 2019 um 12:13

    Es ist großartig, dass Matthes und Seitz nach den “Erzählungen aus Kolyma” nun auch die Erinnerungen an die Kolyma bringt und diese etwas andere Perspektive daneben stellt; es ist ebenso großartig, dass Jörg Plath darauf hinweist und auch das Verdienst der Herausgeberin betont. Alles dankenswert, wichtig und uneingeschränkt gut. Erwähnen möchte ich trotzdem, da Plath es nicht getan hat, dass das Verdienst der Übersetzerin Gabriele Leupold hier unschätzbar und im Grunde auch unvorstellbar ist. Die hart erarbeitete kühle Distanz der “Erzählungen” muss für die Übersetzerin zwangsläufig noch näher am Rande des Unerträglichen gewesen sein als die bloße Lektüre oder herausgeberische Arbeit, und für die Arbeit an den Erinnerungen — Plath benennt das, plausibel, als beschwerlichen Weg vom Standhalten zum Festhalten — gilt das natürlich auch: es gibt keine Härte oder Beschwerlichkeit für den Autor, durch die nicht auch die Übersetzerin gehen müsste. Es ist nicht so, als wäre Leupold als Übersetzerin von Schalamow in der Rezeption insgesamt übersehen oder ignoriert worden; aber gerade im Kontext der in diesen Erinnerungen noch einmal veränderten Perspektive auf den erlebten Gulag darf die übersetzerische Höchstleistung neben dem Verdienst der Herausgeberin nicht völlig unerwähnt bleiben. Diese Erwähnung würde die differenzierten und spannenden Auskünfte, die Plaths Artikel liefert, abrunden.

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    1. Vollkommen richtig. Nicht immer müssen Übersetzer erwähnt werden, manchmal haben sie gar Glück, nicht erwähnt zu werden – aber Gabriele Leupold ist es zu verdanken, dass Schalamow heute lesbar ist und erkennbar als ein großer Autor. Das zeigte mir der Blick in andere Übersetzungen, und so habe ich Gabriele Leupold in früheren Besprechungen für ihre kargen und doch zupackenden Stil gelobt. Bei diesem Band kommt die Brüchigkeit, die Unfertigkeit, das Suchende hinzu. Das wird nicht leicht gewesen sein.

  2. Sabine Paqué 23. Januar 2019 um 14:09

    Danke für die wunderbare, sehr einfühlsame und sehr anregende Rezension.
    Das Buch ist schon bestellt.

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